Please use this identifier to cite or link to this item: https://hdl.handle.net/10419/204772 
Year of Publication: 
2019
Series/Report no.: 
IAB-Forschungsbericht No. 6/2019
Publisher: 
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Nürnberg
Abstract: 
Während die Zielsetzung des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB II) und insbesondere die Maßnahmen der Arbeitsmarktförderung von den Möglichkeiten und Bedarfen der einzelnen Per-son ausgehen, erfolgt die Feststellung der Hilfebedürftigkeit unter Berücksichtigung der Bedarfs-gemeinschaft. Die vorliegende Studie untersucht die Frage, wie das Konstrukt der Bedarfsgemein-schaft in der Praxis der Beratung und Vermittlung im Bereich des SGB II berücksichtigt wird. Je nachdem, ob die Förderung der individuellen Erwerbsfähigkeit und Arbeitsmarktintegration oder das Ende der Hilfebedürftigkeit der Bedarfsgemeinschaft in den Vordergrund gestellt wird, folgen daraus in der Beratungs- und Vermittlungspraxis der Jobcenter unterschiedliche Handlungsoptionen. Die vorliegende Studie verfolgt ein "mixed methods"-Design, in dem sich quantitative und qualitative Untersuchungsschritte ergänzen. Zum einen wurden in sechs Jobcentern qualitative leitfadengestützte Interviews mit Vermittlungsfachkräften, Team- bzw. Bereichsleitungen, Beauftragten für Chancengleichheit und den Geschäftsführungen geführt. Einbezogen waren auch Vertreterinnen und Vertreter von Regionaldirektionen sowie der Zentrale der Bundesagentur für Arbeit. Darüber hinaus wurden Gespräche zwischen Vermittlungsfachkräften und Kundinnen und Kunden teilnehmend beobachtet. Zum anderen wurde eine standardisierte Befragung von Vermittlungsfachkräften in 30 Jobcentern durchgeführt, die Aufschluss über Bewertungen und Vermittlerhandeln in Bezug auf Mehrpersonen-Bedarfsgemeinschaften gibt. In diesem Rahmen wurde eine Vignettenanalyse durchgeführt. In den qualitativen Analyseteilen werden zunächst die Handlungsspielräume der Vermittlungsfachkräfte bei der Beratung und Vermittlung von Personen aus Mehrpersonen-Bedarfsgemeinschaften analysiert. Den Rahmen hierfür bilden neben den gesetzlichen Vorgaben die Beratungskonzeption für die Grundsicherung für Arbeitsuchenden (BeKo SGB II) und das rechtskreisübergreifende 4-Phasen-Modell der Integrationsarbeit (4PM). Insgesamt zeigt sich, dass die Vermittlungsfachkräfte über erhebliche Handlungsspielräume verfügen. Die Jobcenter gestehen den Vermittlungsfachkräften für die Beratung und Vermittlung von Mehrpersonen-Bedarfsgemeinschaften bewusst ein Ermessen zu, weil der jeweils spezifischen Situation, in der sich die Kundinnen und Kunden befinden, Rechnung getragen werden muss. Möglich wird dies durch die umfangreichen beruflichen Erfahrungen der Vermittlungsfachkräfte. Die geschlechtsbezogenen Rollenbilder der Vermittlungsfachkräfte, mit denen im Rahmen der Fallstudien Gespräche geführt wurden, sind mit dem im SGB II verankerten Ziel der Gleichberechtigung konform. Jedoch steht dieses Ziel nach Aussagen der Fachkräfte mitunter in Diskrepanz zu den individuellen Wertvorstellungen und geschlechtsbezogenen Rollenbildern der Kundinnen und Kunden. Die Vermittlungsfachkräfte gehen mit dieser Herausforderung unterschiedlich um. Während einige die vorgefundenen Rollenbilder akzeptieren und diese beim Versuch, die Kundinnen und Kunden aus dem Leistungsbezug zu bringen, berücksichtigen, verstehen andere es als ihre Aufgabe, auf die vorhandenen Rollenbilder einzuwirken. Dies wird teilweise durch ungünstige Rahmenbedingungen, etwa eine schlechte Kinderbetreuungssituation, erschwert. Bei der Vergabe von Maßnahmen werden die individuellen Bedarfe der Kundinnen und Kunden durchweg als das wichtigste Entscheidungskriterium angesehen. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Kontext der Bedarfsgemeinschaft ignoriert wird. So berücksichtigen die Vermittlungsfachkräfte, ob Kinder unter 15 Jahren, deren Betreuungssituation geregelt werden muss, in der Bedarfsgemeinschaft leben. Bei der Ausübung von Sanktionen wird das Kriterium der Einbeziehung des Bedarfsgemeinschaftskontextes von den befragten Personen unterschiedlich gewichtet. Einige von ihnen halten eine enge Auslegung der gesetzlichen Anforderungen für richtig. Gerade auf der operativen Ebene der Vermittlungsfachkräfte wird aber auch die Ansicht vertreten, dass der individuelle Kontext der Bedarfsgemeinschaft und dabei vor allem die Bedürfnisse von Kindern bei der Sanktionierung berücksichtigt werden müsse. In den betrachteten Personenkonstellationen von Bedarfsgemeinschaften ist bei Qualifikationsunterschieden oftmals der Partner mit der höheren Qualifikation in Vollzeit berufstätig, während sich der andere um die Kinderbetreuung kümmert. Bei der geringer qualifizierten Person handelt es sich zumeist um die Frau, die dann die Kinderbetreuung übernimmt, und nach Ende der Elternzeit zumindest übergangsweise nur geringfügig oder in Teilzeit beschäftigt ist. Darüber hinaus zeigt die qualitative Analyse jedoch auch Fälle, in denen die Frau auch dann (zumindest zeitweise) zu Hause bleibt und die Kinderbetreuung übernimmt, wenn sie höher qualifiziert ist als ihr Partner. In den Gesprächen mit Vermittlungsfachkräften äußerten diese, dass in einem solchen Fall die Frau bevorzugt aktiviert werden könnte, um die Bedarfsgemeinschaft eher aus der Hilfebedürftig-keit zu führen. Allerdings wiesen sie dabei auch darauf hin, dass die gezielte Förderung der Frau am traditionellen Geschlechterrollenbild scheitern kann. Die Vignettenanalyse hat zum Ziel, die Aufmerksamkeit, die die Vermittlungsfachkräfte den Kundinnen oder Kunden zukommen lässt, zu messen. Hierzu werden Einschätzungen darüber erfragt, welche Kontaktdichte die Vermittlungsfachkraft in Bezug auf Männer und Frauen mit unterschiedlichen Merkmalen für geeignet hält. Ein zentrales Ergebnis ist, dass das Geschlecht für sich genommen keinen Einfluss auf die als geeignet angesehene Kontaktdichte hat. Allerdings halten die Befragten bei Frauen mit Kindern eine längere Zeitdauer bis zu einem Folgetermin als bei Frauen ohne Kinder für angemessen, während bei Männern ein solcher Unterschied nicht gemacht wird. Die Vermittlungsfachkräfte sehen Kinderbetreuung somit entweder selbst als Frauensache an, oder sie unterstellen, dass diese Arbeitsteilung von der Bedarfsgemeinschaft gewünscht wird. Für Personen mit viel Berufserfahrung fällt der Effekt dabei deutlich geringer aus als für Personen mit wenig Berufserfahrung. Insgesamt weist die Studie auf die zentrale Rolle der Kinderbetreuung für die Beratung und Vermittlung von Frauen in Mehrpersonen-Bedarfsgemeinschaften hin. Dies gilt nicht nur für die Kontaktdichte, sondern gemäß den Ergebnissen der qualitativen Studie auch für die Vergabe von Maßnahmen und andere Elementen der Aktivierung. Künftig sollte daher noch stärker untersucht werden, welchen Beitrag die Verfügbarkeit von Kinderbetreuung für die Vermittlung in Beschäftigung und Maßnahmen leistet.
Abstract (Translated): 
While placement, counselling and active labour market policy for recipients of German means-tested welfare benefits for jobseekers are based on the potentials and needs of the individual, the amount of welfare benefits received depends on the structure of the household. The present study examines how the fact that benefits are jointly received by all members of multi-person house-holds is taken into account in the practice of counseling and placement in German job centres. The study follows a "mixed methods" approach in which quantitative and qualitative methods are combined. First, qualitative interviews were conducted in six job centres with caseworkers, team or area managers, equal opportunities officers and job centre management. In addition, interviews with representatives of regional directorates of the Federal Employment Agency were conducted. Also, counselling interactions between caseworkers and welfare recipients were observed using the method of participant observation. Second, a standardized survey of placement experts in 30 job centres was conducted providing information on caseworkers' attitudes and strategies with regard to welfare receiving households. In addition, a factorial survey (vignette analysis) was carried out. In the qualitative part of the analysis, the first issue is the amount of discretion that caseworkers possess with respect to counselling multi-person households. The framework for counselling consists of the legal requirements as well as the counselling concept for welfare recipients able to work (BeKo SGB II) and the four-phase model of integration work (4PM). Overall, the analysis shows that the caseworkers have considerable amounts of discretion. Owing to the heterogeneity of backgrounds and needs among the unemployed persons, as well as to the high level of professional experience of the caseworkers, the job centres deliberately devolve responsibility to the operational level. In general, caseworkers' views of gender roles are in line with the goal of gender equality in Book II of the German Social Code (SGB II). However, this goal is sometimes in contrast with welfare recipients' values and their gender role models. Caseworkers deal with this challenge differently. While some of them accept welfare recipients' gender roles as they are and take them into account in counselling and placement, others consider it their task to influence existing gender roles. This is sometimes hindered by unfavourable conditions, such as poor childcare provisions. When assigning support measures of active labour market policy to welfare recipients, the individual needs are consistently regarded as the most important decision criterion. Yet this does not imply that the household context is ignored. For example, caseworkers consider the presence of chil-dren in the household as an important factor for placement into active labour policy measures, in particular if no external childcare is available. Regarding the exercise of financial sanctions in cases of misconduct by welfare recipients, some caseworkers insist on a strict interpretation of the legal requirements. However, others (particularly at the operational level) argue that the specific household context and, above all, the needs of children in the household must be considered when making sanction decisions. The study shows that if partners living in a household have a different level of qualification, the partner with the higher qualification level often works full-time, while the other person engages in childcare. Usually, the less qualified person is the woman, who is either unemployed or, after pa-rental leave, employed in marginal or part-time employment. However, cases in which the woman stays at home (at least temporarily) and takes over childcare, even if she is more highly qualified than her partner, were also observed. In the interviews, caseworkers suggested that in such a case, the woman should be activated with preference in order to lead the community out of benefit receipt. However, caseworkers also pointed out that the activation of women may be hindered or inhibited by traditional gender roles.
Document Type: 
Research Report

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