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Quelle: Arcadia 14 (1979), S. 223–236.

Die Unvermeidlichkeit der Komparatistik

Zum Verhältnis von einzelsprachlichen Literaturen und Vergleichender Literaturwissenschaft

Der Ort der Vergleichenden Literaturwissenschaft in der wechselhaften Konfiguration und Konkurrenz philologischer Disziplinen erscheint nach wie vor prekär. Gewöhnlich wird die Komparatistik, wie wir sie aus sprachökonomischen Gründen nennen wollen, als eine Aktivität am Rande der etablierten Philologien aufgefaßt, vornehm, gediegen und menschheitsfreundlich, doch auch ein wenig abseitig und – in Krisenzeiten – von fraglichem Nutzwert. Die Rolle, die ihr zufällt, ist es auszuhelfen und zu ergänzen. So wird sie konsultiert, wenn ein literarisches Phänomen offenkundig über einen bestimmten Sprachraum hinausreicht. Solche Phänomene, an denen sich die Teilnahme verschiedener Literaturen zeigt, sind nach der Communis opinio vorzugsweise: Einflüsse, Wirkungen und Analogien; Epochen bzw. Perioden; Gattungen bzw. Formen; Themen bzw. Motive [1] .
Dabei gilt als selbstverständlich, daß das spezifische Interessengebiet der Komparatistik vorwiegend im Gemeinsamen der Literaturen und nicht in ihrem je Besonderen und Eigentümlichen liegt. Am prägnantesten hat das wohl Horst Rüdiger ausgedrückt: „Sprachen spalten die Literatur in Literaturen auf; literarische Formen (hier könnte man hinzufügen: auch Themen und epochale Tendenzen, U. S-B.) verbinden die Literaturen zur Literatur.“ [2] Die Erfassung und Erklärung des Besonderen einer einzelnen Literatur wird dagegen zumeist der jeweiligen einzelsprachlichen Philologie überlassen. Für die Deutung des eigentümlichen Charakters der deutschsprachigen Literatur scheint die Germanistik zuständig, für das Eigentümliche der englischen Literatur die Anglistik, der italienischen Literatur die Italianistik und so fort.
Nun soll nicht bestritten werden, daß in einem System sinnvoller philologischer Arbeitsteilung die Germanistik tatsächlich eine vorrangige Kompetenz für alle Phänomene beanspruchen darf, welche innerhalb der Geschichte deutschsprachiger Literatur vorzufinden sind, die Italianistik für alle Phänomene innerhalb der Geschichte italienischer Literatur usw. Die Zuständigkeit für alle Phänomene innerhalb einer besonderen Literatur bedeutet indessen keineswegs eine Zuständigkeit für das Phänomen der Besonderheit dieser Literatur, d. h. für diese Literatur insgesamt. Aus der Perspektive von Germanistik oder Italianistik ist zwar auszumachen, was eine Novelle von einem Roman oder was eine Novelle des XIX. Jahrhunderts von einer Novelle des XVII. Jahrhunderts unterscheidet; was jedoch eventuell die deutsche Novelle von der italienischen oder überhaupt die deutsche Literatur von der italienischen abhebt, muß der Perspektive einzelsprachlicher Philologie verborgen bleiben. Ihrem Blick entzieht sich eben das, was ihn begründet und ihm seine eigentümliche Richtung gibt. Um diese Blickrichtung wahrzunehmen und zu erkennen, wird ein anderer, weiterer Blick erforderlich: die Perspektive der Komparatistik, die sich hier einmal nicht nur dem Gemeinsamen, sondern – in einer bislang wenigstens theoretisch vernachlässigten Anstrengung – gerade auch dem individuell Verschiedenen der Literaturen zuwendet.
Damit der verdoppelte Anspruch, den ich solcherart für die Komparatistik erhebe, deutlicher wird, ist es notwendig, einige Grundzüge literaturgeschichtlicher Methodologie zu resümieren. Die Arbeit der Literaturgeschichte besteht zu einem wesentlichen Teil in dem Versuch, die historische Identität von Texten festzustellen. Daß sich diese Identität durch eine Sammlung von Informationen über die Entstehung des Textes erschließen lasse, war die Illusion des Positivismus; daß sie sich durch eine unmittelbare, innige Anschauung des Textes selbst offenbare, die Illusion idealistischer Neuphilologie. Beiden Illusionen widerspricht das teils formalistisch, teils strukturalistisch beeinflußte Verfahren, die Eigenheit eines Textes aus seiner Relation zu anderen Texten zu bestimmen. Es erlaubt die Distinktion dessen, was an ihm in der Tradition nicht aufgeht, von dem, was sich in bloßer Tradition erschöpft. Das erste konstituiert, unterschiedlich mächtig, eine starke oder schwache ‚personale‘ Textidentität; das zweite bezeichnet den Rückhalt einer Textgruppe, in welcher der einzelne Text (das petrarkistische Sonett, die Boulevardkomödie, der klassische Detektivroman) widerstandslos verschwinden, aus welcher er durch Kombinatorik, Verfremdung und Innovation aber auch oppositionell hervortreten kann [3] .
Die Schwierigkeit dieses Verfahrens erwächst aus dem Umstand, daß ein Textsystem, in dessen Rahmen der Stellenwert des einzelnen Textes anhand vielfacher Relationen zu bestimmen wäre, dem Literarhistoriker nie stabil vorliegt. Er muß es vielmehr für jede Interpretation rekonstruieren. Um ein Repertoire strukturverwandter, tatsächlich vergleichbarer Texte zu erstellen, berücksichtigt eine solche Rekonstruktion einmal die Gestalt des Textes, wie sie sich nach Überlieferung, Vormeinung und erster ‚werkimmanenter‘ Anschauung ergibt. Als zweite und in letzter Instanz entscheidende Richtlinie wirkt die Fragehaltung des Interpreten, den ja selten alle denkbaren Aspekte der Identität eines Textes zur gleichen Zeit interessieren. So wird das Repertoire von Vergleichstexten etwa verschieden aussehen, wenn nach dem Thema oder wenn nach der Gattungsform gefragt wird. Gleichfalls ändert es sich gemäß der Zeitperspektive, unter die man den Text rücken möchte. Man kann ihn im Maßstab einer ‚courte durée‘ oder dem einer ‚longue durée‘ betrachten, als Symptom von Entwicklungen, die wenige Jahre prägen, oder als Symptom einer ganzen Gesellschaftsformation. Beispielsweise werden Molières Komödien anders zu identifizieren sein und sich auch anders identifizieren, je nachdem ob wir in ihnen – in Opposition vielleicht zum frühen Corneille und zu Regnard – die Manifestation der französischen Hochklassik oder – wie bei Stendhals Racine et Shakespeare in Opposition zu Aristophanes – die Manifestation des höfischen Ancien Régime überhaupt sehen wollen. Gelänge es literarhistorischen Untersuchungen, neben ihrem Gegenstandsbereich immer auch ihre spezifische Fragehaltung samt allen Konsequenzen bewußt zu machen, wäre die Systematik dieser Wissenschaft wahrscheinlich weiter fortgeschritten, als es zur Zeit den Anschein hat.
Was für den einzelnen Text gilt, gilt nun gleichfalls für die einzelne Gattung, die einzelne Epoche und vor allem für die einzelne ,Nationalliteratur‘. Jede einzelsprachliche Literatur – so setzen wir voraus – besitzt eine eigene Identität, die an ihr selbst zunächst ebensowenig begreiflich ist wie am einzelnen Text das ihm jeweils Besondere. Wäre das anders und könnte man die einzelsprachliche Literatur in ihrem Besonderen unmittelbar deuten, hätte es mit einigen der hervorragendsten Mythen europäischer Kultur gewiß seit langem ein Ende gehabt. Von der deutschen Tiefe, der französischen Klarheit, dem spanischen Scharfsinn oder Realismus würde dann vorsichtiger gesprochen, im Bewußtsein, daß es sich hier mehr um immerhin charakteristische Wunschvorstellungen als um wirkliche Konstanten handelt.
Der Introspektion, die Mythen sucht und Mythen findet, öffnet sich die Identität einer einzelsprachlichen Literatur also nicht. Entscheidend weiter führt die alte humanistische Erkenntnisform der Parallele. Halten wir etwa den Verlauf der deutschen Literatur gegen den der französischen, nehmen wir Differenzen wahr, die beiden Reihen eine distinkte Figur geben. Dabei tut es gut, die Aufmerksamkeit am Anfang ganz elementaren und zugleich allgemeinen Sachverhalten zuzuwenden. Zu fragen ist vor allem nach unterschiedlichen Schwerpunkten und Verdichtungen in der Chronologie sowie nach unterschiedlichen Konzentrationen im Inventar von Gattungen und Themen. Diese Unterschiede können geordnet und hierarchisiert werden, sobald sich erweist, daß unter ihnen Zusammenhänge oder gar Abhängigkeiten bestehen. Indem man erprobt, welche Unterschiede welche anderen Unterschiede zu erklären fähig sind, lassen sich Grundzüge differentialer Qualität aussondern, welche das Zentrum einer ersten, auf eine einzige Vergleichsliteratur bezogenen Identitätshypothese bilden.
Gegenüber einem solchen Verfahren wie überhaupt gegenüber der ihm vorausgehenden Frage verhält sich die Komparatistik indessen mißtrauisch, wenn nicht ablehnend, und das mit legitimen Gründen. Denn zweifellos geht die Frage über jenen Kreis von Problemen hinaus, welcher empirisch völlig abgesicherte und deshalb direkt schlüssige Antworten erlaubt. Eine Evidenz, wie sie bei der Aufzeichnung von Einflüssen oder von Gattungs- und Themenfolgen gewonnen werden kann, ist hier schwerlich zu erreichen, und diese Entfernung von den überlieferten Prinzipien der Philologie erregt berechtigtes Mißtrauen. Trotzdem wäre zu überlegen, ob das strikte Verständnis philologischer Empirie für unsere Problemstellung jene Funktion kritischer Kontrolle ausüben kann, welche ihm ansonsten in oft heilsamer Weise zukommt. Eher scheint es, daß gerade bei der distinktiven Erkenntnis einzelsprachlicher Literaturen mit der Verifikation von Details wenig getan ist und daß viel mehr durch die Falsifikation fundierter, gehaltvoller Hypothesen bewirkt wird [4] . Vor allem sollte man die unvermeidliche Zwangsläufigkeit solcher Hypothesen bedenken. Wenn man sich hütet, sie zum Gegenstand methodischer Forschung und Überlegung zu machen, bedeutet das ja noch nicht, daß sie dann beseitigt oder gebannt wären. Sie werden lediglich auf den Status des Unbewußten, Untergründigen und Nicht-Aufgeklärten festgelegt, wo sie gefährlicher rumoren als in der Offenheit vergleichender Prüfung.
Der gewichtigste Einwand gegen die Parallele einzelsprachlicher Literaturen weist auf das Erbe nationalistischer Ideologien hin, denen ein einfacher Kontrast z. B. der deutschen und französischen Literatur immer noch ausgesetzt ist [5] . Er kann ihnen anheimfallen, indem er alte Schemata blindlings übernimmt, aber auch indem er sie forciert umkehrt, ohne sich von ihrer prägenden Kraft zu befreien. So würde es angesichts Eduard Wechsslers dichotomischer Vorstellung „Esprit und Geist“ nicht genügen, die Glieder der Dichotomie moralisch neu zu werten, sondern es käme darauf an, ihr Interpretationsparadigma überhaupt aufzuheben. Um die Schemata der naiven oder kalkulierten Meinungen und Vorurteile solcherart unschädlich zu machen, bedarf es aber mehr als des bloßen Kontrasts; die Parallele müßte durch eine zweite oder dritte Vergleichsliteratur erweitert werden. Wie wir den einzelnen Text durch die Berücksichtigung zahlreicher Relationen immer perspektivenreicher beschreiben können, gelangt auch die Identität der einzelsprachlichen Literatur durch mehrseitige Vergleiche zu deutlicherer Differenzierung ihrer Aspekte. Insbesondere zeigt sich, daß sie keine feste, substantielle Größe darstellt, wie es der Mythologie vom Nationalcharakter oder Volksgeist scheinen will und im Rahmen einfacher Parallelen durchaus scheinen kann. Gleich dem Sinn des Textes, der nie in einer einzigen Relation eindeutig zu bestimmen ist, changiert auch die Identität der einzelsprachlichen Literatur je nach der Relation, in die sie versetzt wird. Z. B. mag sich die französische Literatur in Relation zur deutschen durch eine ausgesprochene Kontinuität ihres Verlaufs auszeichnen, in Relation zur italienischen wird sie dagegen durch nicht minder auffällige Diskontinuitäten geprägt. Wir meinen mit diesem Changieren also nicht den objektiven Prozeß des historischen Identitätswandels, sondern ein elementareres Phänomen, das unmittelbar schon an die Auffassung gebunden ist, durch die wir die Identität einer einzelsprachlichen Literatur wahrnehmen.
Daraus ist ein auf den ersten Blick paradoxes Desiderat zu folgern. Es verlangt, auch und gerade dann möglichst multilateral zu vergleichen, wenn die Erkenntnisabsicht auf das Charakteristische, Spezifische und Einzelsprachliche gerichtet wird. Eben das, was an der ‚Nationalliteratur‘ eventuell ,national‘ ist, läßt sich nämlich nicht allgemein und exemplarisch feststellen, sondern – ob wir es wollen oder nicht – allein komparatistisch. Mit Nachdruck möchte ich dabei die Unwillkürlichkeit des Vergleichens betonen; denn genaugenommen vergleichen wir ja, sobald wir nur den Begriff ‚Deutsche Literatur‘ oder ‚Littérature française‘ verwenden. In unserer Vorstellung entstehen Bilder, die vage sein mögen, die aber – um ein Mindestmaß an Konsistenz zu erlangen – von Gegenbildern abgehoben sind. Sagen wir bloß ,Literatur‘, hebt sich der Inhalt unserer Vorstellung ab von allem, was wir als Nicht-Literatur auffassen: vielleicht der Zeitung, einem Comic-Strip, einem Film, einer Sinfonie. Sagen wir ‚Deutsche Literatur‘, grenzen wir dagegen assoziativ aus, was uns als ‚Nicht-deutsche Literatur‘ erscheint, ein Konglomerat von Ideen, welches je nach Tradition, Interesse und Kontakten natürlich verschieden aussehen und daher das Bild deutscher Literatur, wie wir es formen, auch verschieden einfärben wird.
Solche Identifizierung, die der Literaturliebhaber, -kritiker oder -wissenschaftler kontinuierlich, doch meist ohne intentionale Bewußtheit vornimmt, muß nun aufgeklärt und bewußt gemacht werden, damit sie die rationalste Form annimmt, die unseren literarhistorischen Methoden heute möglich ist. Indessen hat es mit der Aufklärung hier gewisse Schwierigkeiten. Jedenfalls ergibt sich der merkwürdige Sachverhalt, daß sie über längere Zeit hinweg kaum zum philologischen Thema gemacht wurde, und auch in der gegenwärtigen Situation erregt die Identität einzelsprachlicher Literaturen bzw. einzelsprachlicher Literaturmomente nur wenig reflektierte Aufmerksamkeit. Die Gründe dafür sind wohl in den besonderen wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungen der Nachkriegsepoche zu finden. Anhand zweier durchaus gegensätzlicher Varianten sollen sie im folgenden kurz skizziert werden.
Die bedeutendste Rolle bei der Ablenkung von unserer Frage hat – wie bereits angedeutet – eine berechtigte Scheu vor Nationalismen gespielt. Sie entstand in Reaktion auf die Literaturgeschichte des XIX. Jahrhunderts, welche vorwiegend der Leitidee einer Entfaltung nationalerIndividualität diente und später – angetrieben durch die revolutionäre Dynamik des Faschismus – zu offen antihumanistischen Positionen gelangte. In Deutschland äußerte sich die Ablehnung nationalliterarischer Betrachtungsweise verständlicherweise besonders entschieden; denn einmal war hier das Konzept der Nationalliteratur politisch ungleich stärker kompromittiert worden als irgendwo anders, zum zweiten hatte es gerade in Deutschland – vor allem aus der Wissenschaftstradition der Romanistik – immer auch schon Ansätze zu einer nationenübergreifenden, allgemeinen Literaturwissenschaft gegeben. Diese Ansätze verbanden sich nun, begünstigt überdies von der wachsenden Faszination reiner Theorie, mit dem Willen zur Überwindung des unansehnlich gewordenen Nationalen, um im Rahmen allgemeiner Literaturwissenschaft eine gleichfalls allgemeine, nicht nationengebundene Literaturgeschichte zu entwerfen.
Als ihr prononciertester, erfolg- und folgenreichster Vertreter muß wohl, zumindest im deutschsprachigen Raum, Hans Robert Jauss gelten. Für seine rezeptionsästhetische Neubegründung der Literaturgeschichte ist die Abkehr von einer an der „Idee nationeller Individualität“ orientierten Literaturgeschichtsschreibung, wie sie mit den großen Werken der De Sanctis, Scherer oder Lansonja keineswegs erschöpft war, sowohl Anlaß als auch Ausgangspunkt [6] . In der Abkehr von den nationellen Individualitäten löst sich freilich nicht nur das Konzept der nationalen und einzelsprachlichen Literaturgeschichte auf; es hat nunauch keinen rechten Sinn mehr, zwischen verschiedenen nationellen Individualitäten zu vergleichen, zu unterscheiden und zu vermitteln. Deshalb erscheint es durchaus konsequent, wenn der Entwurf einer rezeptionsästhetisch begründeten allgemeinen Literaturgeschichte die literarhistorische Komparatistik ebenso zurückweist wie die literarhistorische ,Nationalistik‘. In der Tat hat Jauss seine Kritik an der Vergleichenden Literaturwissenschaft in dem bemerkenswerten programmatischen Aufsatz „Das Ende der Kunstperiode – Aspekte der literarischen Revolution bei Heine, Hugo und Stendhal“ ausführlich (und bewußt provokativ) erläutert [7] .
Das methodologische Prinzip des Aufsatzes ist es, „Literaturgeschichte als einen allgemeinen, über das Individuelle der Werke, Autoren und Nationen fortschreitenden Prozeß zu erfassen und zu beschreiben“ [8] . Im speziellen Fall meint der allgemeine, die einzelsprachlichen Literaturen übergreifende Prozeß die „Julirevolution der Literatur“, einen epochalen Bruch, in dem – mit Heine gesprochen – die „Kunstperiode“ endet, um einer neuen „unliterarischen Schreibart“ aktualistischer Selbst- und Zeitdarstellung Platz zu machen. Analog zur politischen Revolution ereignet sich diese literarische Revolution nach Jauss in Frankreich und Deutschland, den offenbar fortgeschrittensten der europäischen Literaturgesellschaften, gegen 1830und findet ihren exemplarischen Ausdruck etwa in Heines Reisebildern, Hugos Préface de Cromwell, Stendhals Racine et Shakespeare, Souvenirs d’Egotisme und Le Rouge et le Noir.
Nun ist anzuerkennen, daß der „Bedeutungswandel von Poesie und Prosa, Imagination und Aktualismus“, den Jauss anspricht [9] , in der europäischen Literaturgeschichte tatsächlich einen Einschnitt von höchster Bedeutung bezeichnet. Für irreführend halte ich dagegen seine Datierung auf die Jahre um 1830. Sie kommt durch eine – wie ich finde – verzerrte historische Perspektive zustande, welche im wesentlichen aus der angestrengten Absicht entsteht, die variierenden Verlaufsformen der einzelsprachlichen Literaturen nicht bloß provisorisch auszuklammern, sondern nach strikter Petitio principii überhaupt zu ignorieren. Eine „literarische Epochenwende“, deren entscheidende Motive der bürgerlichen Aufklärung entstammen und daher am intensivsten verändernd während des XVIII. Jahrhunderts wirkten, wird auf diese Weise in ihrem chronologischen Schwerpunkt verschoben, in ihrer Reichweite eingeschränkt und den Erklärungsmöglichkeiten sozialgeschichtlicher Interpretation weitgehend entzogen.
Dabei fallen einige methodische Unstimmigkeiten besonders auf. Zunächst verwirrt die Selbstdeutung, welche den Aufsatz als „ersten Anfang einer synchronischen Literaturbetrachtung“ versteht [10] . Wo es darum geht, das „Ende der Kunstperiode“, also ein Phänomen epochalen Wandels zu situieren, muß ja gerade eine synchronische Literaturbetrachtung, die in ihren Querschnitten Geschichte stillegt, hilflos bleiben; erforderlich wäre, um den geschichtlichen Wandel in einer deutlichen Kontrastierung von Vorher und Nachher zu bestimmen, genau umgekehrt eine diachronische Literaturbetrachtung. Außerdem übersieht Jauss den merkwürdigen Zwiespalt zwischen prätendierter Allgemeinheit des Prozesses und faktischer Besonderheit seiner historischen Situierung: Er möchte eine „über das Individuelle der Nationen“ hinausreichende literarische Epochenwende erfassen, ordnet sie aber als „Julirevolution der Literatur“ eben einem (wenngleich herausragenden) Ereignis ,individueller‘ Nationalgeschichte zu. Betrachtet man darauf – die von Jauss ausgemachten Merkmale der Epochenwende im einzelnen: „den Bruch mit dem Primat einer klassisch-humanistischen Ästhetik, die Hinwendung zur ,Prosa des Lebens‘, verbunden mit dem Zweifel am Daseinsrecht der Poesie überhaupt, die Ausbildung neuer literarischer Formen zwischen Dichtung und Publizistik, vor allem aber die Öffnung der Kunst auf die aktuelle Geschichte und Zeitbewegung“ [11] ,so stellt sich heraus, daß sie wohl allein in Deutschland originär den Jahren um 1830,das heißt hier: dem Ende der Goethe-Zeit, angehören. In anderen europäischen Literaturen bezeichnen sie lediglich die mehr oder minder intensive Verstärkung von Tendenzen, welche ihren epochalen Ursprung im XVIII. Jahrhundert haben und die Auflösung des Systems aristokratischer Literaturformen durch eine neue „unliterarische Schreibart“ bürgerlichen Geistes betreiben. So verweisen z. B. die Merkmale einer „parfaite sincérité“ der Selbstdarstellung sowie einer Abneigung „gegen die poetischen Konventionen der literarischen Traditon“, die Jauss gleich zu Beginn seines Aufsatzes Stendhals Souvenirs d’Egotisme als epochenspezifisch entnimmt [12] , unverkennbar auf die Schriften Rousseaus: auf das Programm der Confessions (J’ai dit le bien et le mal avec la même franchise) [13] oder auf die Vorworte zur Nouvelle Héoïse, welche den traditionellen literarischen Stilwerten von grâce, facilité, raison, esprit, éloquence einen ,schlechten‘, ,abweisenden‘ Stil der Authentizität überordnen [14] .
Gleichfalls ins XVIII. Jahrhundert gehört die „Ausbildung neuer literarischer Formen zwischen Dichtung und Publizistik“. Sie charakterisiert den originellsten Teil der Werke Voltaires, der etwa durch die Lettres anglaises oder das Dictionnaire philosophique repräsentiert wird, aber auch italienische Autoren-Journalisten wie Gasparo Gozzi oder Pietro Verri. Vor allem ist zu berücksichtigen, wie sehr bereits der englische Roman des frühen XVIII. Jahrhunderts – Defoes Moll Flanders oder Richardsons Pamela – sowohl von „unliterarisdier Schreibart“ wie von „Aktualismus“ gekennzeichnet war. Ian Watt hat das im pointierten Kontrast zur Permanenz der „Kunstperiode“ in Frankreich wiederholt hervorgehoben [15] : „In France, the classical critical outlook, with its emphasis an elegance and concision, was not fully challenged until the coming of Romanticism. It is perhaps partly for this reason that French fiction from La Princesse de Cléves to Les Liaisons dangereuses stands outside the main tradition of the novel. For all its psychological penetration and literary skill, we feel it is too stylish to be authentic. In this Madame de La Fayette and Choderlos de Laclos are the polar opposites of Defoe and Richardson, whose very diffuseness tends to act as a guarantee of the authenticity of their report, whose prose aims exclusively at what Locke defined as the proper purpose of language, to ,convey the knowledge of things‘, and whose novels as a whole pretend to be no more than a transcription of real life.“ Andererseits ist in der „Prosa des Lebens“ der Italiener Goldoni den Franzosen auf dem Theater ähnlich vorweg, wie es Defoe und Richardson beim Roman sind. Zumal die Komödien venezianischen Idioms, in denen es ja – man denke an den Sior Todero Brontolon oder die Casa Nova – kaum etwas zu lachen gibt, bringen das Aktuelle, Alltägliche und Triviale, dessen Absenz Rainer Warning bei Hugo zu Recht bemängelt [16] , mitbemerkenswertem Ernst in die vormals entweder lächerliche oder tragische Bühnenhandlung ein.
So spricht vieles dafür, daß jene „Kunstperiode“, d. h. das System der klassisch-humanistischen Literatur, das Jauss von der Julirevolution zerbrochen sieht, schon im XVIII. Jahrhundert überall dort zu Ende geht, wo sich spezifisch bürgerliche Interessen regen und ihnen keine übermächtig kompakte Tradition – wie etwa die des französischen Theaters – entgegensteht. Wirklich primäre Bedeutung kommt der Zäsur von 1830,soweit ich sehe, nur in der deutschsprachigen Literatur zu, weil nur hier die „Kunstperiode“ erst in der unmittelbar vorangehenden Epoche ihren späten Höhepunkt erreichte, welcher bürgerlichen Geist und vorbürgerliche Form in oftmals eigentümlichen und einzigartigen Symbiosen verband [17] . In seiner historischen Situierung trifft der „epochale Bedeutungswandel von Poesie und Prosa, Imagination und Aktualismus“, wie Jauss ihn darstellt, folglich nicht eigentlich den „allgemeinen“ Prozeß der Literaturgeschichte. Vielmehr ist bei dieser Periodisierung das vermeintlich Allgemeine in Wahrheit das deutsch Besondere, das lediglich mit Hilfe eines prominenten Datums französischer Geschichte verallgemeinert und den übrigen westeuropäischen Literaturen, die nach Gattungen und Gattungssystemen vielfach variieren, oktroyiert wird.
Angemessener wäre deshalb, um den „allgemeinen“ Prozeß der Literaturgeschichte zu beschreiben, ein anderer Weg. Auf ihm geht es nicht darum, das postulierte Allgemeine direkt zu realisieren, sondern aus dem Vergleich der unterschiedlichen Verlaufslinien einzelsprachlicher Literaturen zu ermitteln. Erst wenn wir deren Unterschiede ernst nehmen und in Rechnung stellen, läßt sich ein Bestand des Gemeinsamen gewinnen, welcher nicht der Verallgemeinerung, sondern distinktiver Erkenntnis entspringt. Das gilt vorzüglich für Periodisierungsfragen, die ja weniger nach Kriterien von Wahrheit als nach Kriterien von Zweckmäßigkeit zu lösen sind. Bei ihnen müssen allgemeine Epochenkonzepte gefunden werden, welche einer möglichst großen Zahl einzelsprachlicher Literaturen entsprechen und ihre Verschiedenheiten unter sich begreifen. Im optimalen Sinn allgemein werden diese Konzepte indessen bloß dann, wenn sie aus der komparativen Beobachtung des Besonderen, nicht aus dessen Verdrängung bzw. Generalisierung erwachsen. Damit versagt aber die Auffassung einer Konkurrenz oder gar Ablösung von Vergleichender und Allgemeiner Literaturwissenschaft. Hermeneutisch verstanden, haben gerade die Periodisierungsinteressen der Allgemeinen Literaturwissenschaft, wie Jauss sie vertritt, die Distinktionen der Vergleichenden Literaturwissenschaft immer schon zur Voraussetzung. Wo sie diese Distinktionen, oder besser: Distinktionsversuche absichtlich ignorieren, laufen sie Gefahr, wenn nicht zu falschen, so doch zu unzweckmäßigen Festlegungen zu gelangen. Es kommt dann vor, daß unter dem Schein des Allgemeinen das generalisierte Besondere zum quasiuniversalen Prozeß erhoben und der kleine Einschnitt der Julirevolution mit der Epochenwende bürgerlicher Aufklärung vertauscht wird.
Indessen ist die Verdrängung nationalliterarischer Betrachtungsweise durch die Allgemeine Literaturwissenschaft auch ihrerseits nicht ohne antithetische Reaktionen geblieben. In den letzten Jahren sieht sich die Allgemeine Literaturwissenschaft einem wachsenden Widerstand ausgesetzt, der etwa unter den Begriffen der ,politischen Landeskunde‘, ,Auslandswissenschaft‘, ,FrankreichKunde‘, ,civilisation allemande‘ usw. partout das national Besondere will. Seine Beweggründe sind wohl vorwiegend praktisch-didaktischer Natur, während das Niveau wissenschaftstheoretischer Legitimationsbemühungen – man lese dazu beispielsweise Alfred Grossers Beitrag in dem Sammelband Perspektiven der Frankreichkunde [18] bislang noch eher bescheiden wirkt. Am anspruchsvollsten tritt die Richtung auslandswissenschaftlicher Studien vielleicht in Bernhard Schmidts Buch Spanien im Urteil spanischer Autoren auf, welches von seinem Thema immerhin behauptet, es gehe „weit über den üblichen Rahmen heutiger Literaturwissenschaft hinaus“ [19] . Selbst wenn man das zu bezweifeln wagt [20] , bewahrt das Thema in unserem Zusammenhang ein beträchtliches Interesse; denn es gilt ja einem gleichsam potenziert nationalen Gegenstand: dem Spanien-Bild, wie es sich in Wille und Vorstellung einiger prominenter spanischer Autoren präsentiert. Bei solchem Gegenstand scheint am äußersten Gegenpol zur Allgemeinen Literaturwissenschaft eine spezialisierte Spanien-Wissenschaft, in der spanischen Literatur, spanische Geschichte, Politologie und Soziologie Spaniens integriert werden, auf den ersten Blick tatsächlich die höchste Zuständigkeit zu besitzen.
Betrachtet man Erkenntnisinteresse und Resultat der Studie genauer, entstehen jedoch Zweifel. Es geht dem Verfasser darum nachzuweisen, daß die spanische Spanien-Deutung von Quevedo bis Ortega überwiegend durch Nationalismus, Irrationalismus und elitäres Bewußtsein geprägt ist, daß sie einer „gegenreformatorischen Doktrin“ näher steht als aufklärerischem „Fortschrittsdenken“ und daß sie schließlich die Rückständigkeit einer unterentwickelten, „postfeudalen“ Gesellschaft kennzeichnet [21] . Als wesentliche Zeugnisse für diese Einschätzung sollen Quevedos unvollendete Spanien-Apologie España defendida, Ganivets Idearium español, Unamunos Aufsatz Sobre la europeización und Ortegas España invertebrada dienen.
Wenn die Aussagen der untersuchten Schriften, wie es bei Schmidt mit großem moralischen Engagement geschieht, streng an den demokratischen Idealen von Poppers Open Society gemessen werden, fällt es nun in der Tat leicht, befremdliche Nationalismen und Irrationalismen auszumachen. Fraglich bleibt dagegen, in welchem Grad sie das spezifisch Spanische nationaler Selbstinterpretation darstellen. Zunächst ist ja zu vermuten, daß der essayistische oder auch romanhafte Versuch nationaler Selbstinterpretation gewiß nirgendwo einen Hort des „Fortschrittsdenkens“ ergibt. Wo auch immer von Deutschen Deutschland, von Franzosen Frankreich oder von Italienern Italien beschworen wird, ist – gleichgültig, ob die Beschwörung affirmativ oder kritisch endet – ebensoviel Mythisches wie Explikativ-Analytisches zu erwarten.
Dazu kommt die historische Konjunktur, in der Schmidt eine Verdichtung nationalistischer und irrationalistischer Haltungen konstatiert: die Zeit zwischen der Jahrhundertwende und den zwanziger Jahren. Sie ist eigentlich überall in Westeuropa durch komplexe Reaktionsbewegungen bestimmt, welche gegen einen ,flachen` Rationalismus die Tiefe von Intuition und (religiöser wie nationaler) Überlieferung, gegen die Massendemokratie einen Kult der Führerschaft und der „minoría selecta“ auszuspielen suchen. Zu diesen Reaktionsbewegungen, denen es bei aller ideologischen Bedenklichkeit von Maurice Barrès’ Roman de l’énergie nationale bis Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen an faszinierenden Formulierungen keineswegs mangelt, gehören die Schriften Ganivets, Unamunos und Ortegas zweifelsohne viel unmittelbarer als zu einer spanischen Nationaltradition „gegenreformatorischer Doktrin“.
Bezeichnenderweise knüpfen sie ausnahmslos an nicht-spanische Autoren an und wirken, wenigstens im Fall Unamunos, auch wieder auf Europa zurück. So entstammt Ganivets Pathos des „espíritu territorial“ [22] , dessen anti-kolonialistische Pointe Schmidt übrigens völlig übersieht, der Geschichtsmethodik Hippolyte Taines, welche neben Ganivet gleichfalls – und mit ungleich radikaleren Folgen – Maurice Barrès die ,Realitäten‘ von „race“ und „terre“ gelehrt hat. Daher findet sich in einem zentralen Kapitel der Déracinés (L’arbre de M. Taine) auch gewissermaßen ein Taine-Denkmal, das an dem vermeintlichen „Positivisten“ [23] die Ersetzung der abstrakten Ethik Kants durch eine konkrete – wie es heißt: ,Goethesche‘ – Moral der „collectivité“ und der „acceptation des nécessités de la vie“ zu rühmen weiß [24] . Mit Taine und dem als materialistisch verachteten Geist historischer Wissenschaft will Unamuno – anders als Ganivet oder Barrès – zwar nichts zu tun haben; doch referiert sein Werk dafür in reicher Fülle andere europäische Bezugspunkte. Unter ihnen sind die bedeutendsten Kierkegaard, Nietzsche und Croce, Autoren also, die – in vielfachen Nuancen idealistisch oder vitalistisch gesonnen – als mächtige Zeugen gegen die ,ciencia‘ aufgerufen werden können. Dabei ist es interessant zu vermerken, daß Unamunos Variante der Lebensphilosophie auch gegen Vertreter eines traditionalistischen Nationalismus vorgeht, sobald diese sich der Methodik historischer Wissenschaft bedienen oder zu bedienen prätendieren. So wird Menéndez y Pelayo in Del sentimiento trágico de la vida noch ebenso unerbittlich durch Croce-Zitate verfolgt [25] wie in En torno al casticismo, das mit seinen Konzepten der „intra-historia“, welche ,Soziologie‘ an die Stelle von ,Geschichte‘ setzen soll [26] , nicht zuletzt als Protest gegen die Ciencia española entstanden war [27] . Noch offener zutage liegt der europäische Kontext in Ortegas España invertebrada. Hier läßt nicht nur bereits der Titel an Barrès’ Kapitel La France dissociée et décérébrée denken [28] , sondern gerade der von Schmidt moralisch sicher zu Recht gebrandmarkte Führer- und Elitekult macht die ideologische Kraft der faschistischen Epoche (Europas nicht weniger als Spaniens) eindrucksvoll deutlich. Wenn Ortega Gesellschaft definiert als unidad dinámica espiritual que forman un ejemplar y sus dóciles“ [29] , verweist das auf Gustave Le Bons Psychologie des foules und Vilfredo Paretos Systèmes socialistes, die freilich nicht explizit genannt werden, sowie auf Renan, Cecil Rhodes, aber auch gewisse Aspekte Max Webers, denen Ortega ausdrücklich Tribut zollt [30] . Außerdem beweisen etwa im Spätwerk Emile Zolas die messianischen Führergestalten der Familie Froment, wie anfällig die Epoche selbst erklärte Sozialreformer von sogenannt ,positivistischer‘, jedenfalls szientistischer Herkunft für die Doktrin der „Ejemplaridad y Docilidad“ werden ließ [31] .
Alle drei Autoren sind mit ihren nationalistischen, irrationalistischen und elitären Ideologemen, die bei Ganivet, Unamuno und Ortega in jeweils sehr unterschiedlicher Mischung auftreten, folglich adäquat allein durch ihre Situierung in einem weiteren europäischen Zusammenhang zu verstehen und zu bewerten. Dieser Zusammenhang wird an seiner objektiven Seite weniger von ,post-feudalen‘ Rückständigkeiten als von den ausgesprochen dynamischen Expansionsbestrebungen des ökonomischen, militärischen und politischen Imperialismus bestimmt, der in Spanien 1898 gegenüber den übrigen Imperialismen einen entscheidenden Rückschlag erlitten hatte, aber dadurch mitnichten überwunden, eher (wie in Frankreich durch den Rückschlag von 1871) bitter angestachelt war. An seiner subjektiven Seite wird er bestimmt von den verzweifelten Integrations- bzw. integrativen Herrschaftswünschen der Schriftsteller, die sich nach dem von Wissenschaft erzeugten Zerfall primärer Überlieferungsgewißheiten aus dem ,Culte du Moi‘ oder dem ,Nulla e vero – tutto e permesso‘ in die Geborgenheit nationaler und religiöser ,collectivités‘ zu retten trachteten. Eine charakteristische Spielart solcher Identitätssuche, welche die Krise der historischen Konjunktur wohl jedem westeuropäischen Autor aufzwang, bilden auch die Werke Ganivets, Unamunos und Ortegas, zumal deren Beiträge zum ,Spanien-Problem‘. Gewiß muß es sich bei ihr um eine speziell spanische Spielart handeln; doch was an ihr eben das speziell Spanische ist, gibt lediglich ihre Relation zu den anderen Varianten nationaler Selbstdeutung zu erkennen. Nicht die Voraussetzung einer perennierenden „gegenreformatorischen Doktrin“ schafft hier distinktive Erkenntnis, sondern die gleichsam experimentelle Identifikation des Spanischen innerhalb eines Repertoires thematisch verwandter nicht-spanischer Erscheinungen. Um einen praktischen Forschungsvorschlag zu machen: Man beobachte den besonderen französischen Irrationalismus Maurice Barrès’ (oder Maurras’, Péguys, Claudels usw.) sowie den besonderen italienischen Irrationalismus Giovanni Papinis (oder D’Annunzios, Prezzolinis, Sofficis usw.), der sich seinerseits im übrigen wieder auf Unamuno bezieht [32] , und es wird dann im Kontrast auch jener „besondere spanische Irrationalismus“ Konturen annehmen, die der Spanien-Wissenschaftler bloß behauptet, ohne sie in ihrer individuellen Qualität wirklich zeigen zu können.
So extrem sich die beiden Untersuchungen, die ich kritisch charakterisiert habe, in ihren epistemologischen Prinzipien gegenüberstehen, haben sie doch eines gemeinsam: ihr unglückliches Verhältnis zur Realität nationaler, oder genereller gesagt: einzelsprachlicher Literaturen. Beide verfehlen diese Realität, wenngleich aus konträren Überschwenglichkeiten. Die eine nimmt sich vor, nur das Allgemeine zu sehen, und ignoriert willentlich das Besondere. Die andere versteift sich auf das Besondere, ohne zu wissen, daß es auch ein Allgemeines hat.
Damit wird in beiden Fällen eine für die Hermeneutik typische Dialektik mißachtet. Der allgemeine Literaturwissenschaftler übersieht, daß sich sein Erkenntnisziel – jedenfalls sobald es historisch wird – erst aus dem auf Feststellung von Gemeinsamkeit gerichteten Vergleich zahlreicher Verschiedenheiten erreichen läßt. Der Spanien- (oder Frankreich- oder Italien-) Wissenschaftler vergißt, daß sein Erkenntnisziel die Kontrastierung eines unter einem Allgemeinbegriff geordneten Materials verwandter und deshalb vergleichbarer Phänomene fordert. Zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen muß nämlich in beiden Fällen durch Vergleichen vermittelt werden, egal ob das Vergleichen beim Erkenntnisziel von Allgemeinheit Zusammenschau oder beim Erkenntnisziel von Besonderheit Kontrastierung bedeutet. Deshalb kann keines der komplementären Erkenntnisziele ohne Komparatistik auskommen. Will sich literarhistorische Erkenntnis nicht selbst schädigen, wird ihr Komparatistik doppelt unvermeidlich, weil sie – wie man, von Ausnahmen abgesehen, immer schon meinte – einerseits aus den Eigentümlichkeiten der einzelsprachlichen Literaturen das Gemeinsame gewinnt, andererseits die Eigentümlichkeit einer einzelsprachlichen Literatur nachprüfbar aber auch nur durch kontrastive Differenzierung aus dem Bestand des Gemeinsamen umreißen kann. Im ersten Sinn ist die Unvermeidlichkeit von Komparatistik der Allgemeinen Literaturwissenschaft, welche die Identität einzelsprachlicher Literatur zu verdrängen droht, immer wieder in Erinnerung zu rufen; im zweiten Sinn muß sie dem neuen, oft sozialwissenschaftlich camouflierten landeskundlichen Nationalismus, welcher die Identität einzelsprachlicher Literatur durch Hypostasierung verwischt, mit Nachdruck bewußt gemacht werden.
1 Diese Gliederung des Gegenstandsbereichs wird auch vom Aufbau der einschlägigen Einführungen bestätigt. Vgl. dazu etwa Ulrich Weisstein: Einführung in die Vgl. Lit.wiss., Stuttgart usw. 1968, oder François Jost: Introduction to Comp. Lit., Indianapolis/New York 1974.
2 Horst Rüdiger: Grenzen und Aufgaben der Vgl. Lit.wiss., in: Zur Theorie der Vgl. Lit.wiss., hg. v. H. R., Berlin/NewYork 1971, 7.
3 Vgl. dazu Vf.: Die hist. Position des Giton-Phédon-Porträts von La Bruyère - Ein Beitrag zur Methodologie der Lit.gesch., in: RJb 21 (1970), 139-151, bes. 148.
4 Zu einer an Karl Poppers Falsifizierbarkeitspostulat orientierten „erklärenden Literaturgeschichte« vgl. die Vorschläge von Karl Eibl: Kritisch-rationale Lit.wiss., München 1976.
5 Vgl. dazu die beherzigenswerten Warnungen Rene’ Welleks vor der patriotischen Soll-und-Haben-Ideologie vieler komparatistischer Einfluß-Studien (Die Krise der Vgl. Lit.wiss., in: Komparatistik - Aufgaben und Methoden, hg. v. Horst Rüdiger, Stuttgart usw. 1973, 93-103, bes. 97 ff.).
6 Vgl. Hans Robert Jauss: Lit.gesch. als Provokation, Frankfurt/M. 1970, 149 ff.
7 Vgl. ebd. 107-143. Zur Kritik an der Vgl. Lit.wiss. bes. 120f. und 141 ff.; dazu Manfred Gsteiger: Provokation der Komparatistik? in: arcadia 7 (1972), 303 ff.
8 Jauss 141.
9 Vgl. ebd. 107.
10 Vgl. ebd. 143.
11 Ebd. 142 f.
12 Vgl. ebd. 109.
13 Vgl. Rousseau: Les Confessions, éd. J. Voisine, Paris 1964, 4.
14 Vgl. Rousseau: Julie ou La Nouvelle Héloïse, ed. R. Pomeau, Paris 1969, 3 f. und 737-757, bes. 3 f. und 744.
15 The Rise of the Novel – Studies in Defoe, Richardson and Fielding, Penguin Books 91977, 33. Vgl. außerdem ebd. 77 f., 111 ff. oder 63 ff., wo gegenüber Frankreich („where literary culture was still primarily oriented to the court") in England die bürgerlichen Ursprünge der „unliterarischen Schreibart« besonders unterstrichen werden.
16 Victor Hugo – Ruy Blas, in: Das französische Theater, hg. v. J. v. Stackelberg, Düsseldorf 1968, 156.
17 Vgl. Heinz Schlaffer: Der Bürger als Held – Sozialgesch. Auflösungen lit. Widersprüche, Frankfurt/M. 1973, bes. 9 ff. und 126 ff.
18 Versagen die Mittler? Was Deutschland und Frankreich voneinander wissen, in: Perspektiven der Frankreichkunde – Ansätze zu einer interdisziplinär orientierten Romanistik, hg. v. R. Picht, Tübingen 1974, 3–12.
19 Spanien im Urteil span. Autoren – Krit. Untersuchungen zum sog. Spanienproblem 1609-1936, Berlin 1975, 18.
20 Vgl. dazu meine Rezension in: arcadia 13 (1978), 88–91.
21 Vgl. Bernhard Schmidt [Anm. 19], bes. 308–314.
22 Vgl. Angel Ganivet: Idearium españhol y El porvenir de España, Madrid 51957, 31.
23 Als solchen sieht ihn mit recht oberflächlicher geistesgeschichtlicher Etikettierung Bernhard Schmidt [Anm. 19], 146.
24 Vgl. Maurice Barrès: Les Déracinés, Paris (Le Livre de Poche) 1967, 198–226, bes. 208, 211 und 225.
25 Buenos Aires 51973, 272.
26 Madrid 81972, 40: „Y así como la paleontología, capítulo de la historia natural, se subordina a la biología general, así la historia del pasado humano, capítulo de la del presente, se ha de subordinar a la ciencia de la sociedad, ciencia en embrión aún, y parte también de la biología".
27 Vgl. dazu die Anspielungen auf Menéndez y Pelayo ebd. 16 oder 19
28 Vgl. Barrès [Anm. 24], 248-255.
29 Vgl. José Ortega y Gasset: España invertebrada – Bosquejos de algunos pensamientos históricos, Madrid 31972, 121.
30 Vgl. ebd. 43, 50, 64 oder 108.
31 Vgl. dazu Ulrich Schulz-Buschhaus: Zola, Adorno und die Gesch. der nichtkanonisierten Lit. , in: ASNSL 214 (1977), 376–388, bes. 381 ff.
32 Hinweise darauf geben Luigi Baldaccis Vorwort zu Giovanni Papini: Opere, Milano 1977, p. XXXI,sowie Franco Meregalli: Presenza della lett. spagnola in Italia, Firenze 1974, 63 ff. Auffällig ist überdies, daß Papini, ursprünglich Anarchist und Solipsist gleich Barrès und Unamuno, mit seinen französischen und spanischen Weggenossen vor allem auch das spätere Ringen um sozusagen tellurische Verwurzelung teilt. Vgl. dazu bes. das Kapitel Il ritorno alla terra (d. h. der angestammten Toscana), in: Un uomo finito (Opere 363–369)
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