Twilight Zones

Liminal Texts of the Long Turn of the Century (1880 - 1940)

Die Flucht vor der Stadt

Wilhelm Bölsche

Source: Bölsche, Wilhelm. “Die Flucht vor der Stadt.” In Weltblick. Gedanken zu Natur und Kunst. Dresden: Carl Reißner Verlag, 1904: 35-42.
First edition: Bölsche, Wilhelm. “Die Flucht vor der Stadt.” In Weltblick. Gedanken zu Natur und Kunst. Dresden: Carl Reißner Verlag, 1904: 35-42.
Cite as: Bölsche, Wilhelm. “Die Flucht vor der Stadt.” In Weltblick. Gedanken zu Natur und Kunst. Dresden: Carl Reißner Verlag, 1904: 35-42, in: Twilight Zones. Liminal Texts of the Long Turn of the Century (1880-1940). Eds. Knaller, Susanne/Moebius, Stephan/Scholger, Martina. hdl.handle.net/11471/555.10.17

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Domains: everyday culture, literature

Frame: country, literature and art scene, urbanity

Genre: pamphlet

Mode: essayistic, scenic

Transgression: literature/essay

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Die Flucht vor der Stadt

Das Bild einer Zeit aus ihrer Dichtung konstruieren. — wer das einmal können wird!

Für die Tage Homers hat auch der trockenste Schulmeister etwas derart schon geahnt. Es liegt aber wie ein blauer Traum. Daß eine unendlich ferne Generation für uns in eine ähnliche Tage kommen könnte.

Eine Generation, die nichts mehr aus ihrer lebendigen Kultur heraus wüßte von Eisenbahnen, Parlamenten und Großstädten. Der das alles nur noch zufliegen sollte wie eine leise Melodie. In stiller Ecke aus einem alten Buch. Aus Versen in einer altertümlich ungelenken Sprache.

Ich glaube, daß sie alles wesentliche des Bildes fände, so, wie wir es mit etwas mehr als Schulmeisteraugen wirklich im Homer noch finden.

Der Poet ist der letzte und größte Historiker.

Er pflegt über Zeiten des Zusammensturzes hinweg der Zäheste zu fein, der sich hindurchrettet; aber die Volle, die er wie der schiffbrüchige Camoens dabei über die Wellen gehalten hat, war auch das beste in nuce von allem, was erhalten bleiben konnte.

Noch ist die echte Weltstadt für uns ein Phänomen. Und doch liegt sie schon im Archiv der Poesie. In drei scharfen Stimmungen, gleichsam auf dreierlei Platten, liegt sie dort.

Denken wir uns drei Stimmungsberichte über den bekannten Ausbruch des Mont Pelée auf Martinique.

Drei sind möglich.

Den einen schreibt der Geflüchtete, endlich Gerettete. Er preist die lieblichen Landschaftsreize eines kleinen Inselchens, auf das er sich gerettet. Sein Auge, nicht mehr geblendet von der [36]furchtbaren Flamme, die ihn verschlingen, ihm die Lunge ausbrennen wollte, aber noch gereizt zu einem förmlich wilden Starren, taucht plötzlich in wunder dieser grünen Kontrastlandschaft, die er nie vorher geahnt hat. Mit brennender Liebe saugt er sich ein in den Anblick einer von Sonnenstreifen übergoldeten Palme, einer Wasserrose im stillen See. Ihm ist, als sei ihm heute erst die Natur in ihrer Heimlichkeit als neue Offenbarung aufgegangen. Er sieht nicht mehr nach der fahlen Röte da unten tief am Meereshorizont. Still versunken steht er vor seiner Palme. seiner Seerose…

Der andere Bericht ist aufgezeichnet in einem Verzweiflungwinkel auf der Insel des Todes selbst. Asche fällt auf das Papier, die Hand bebt. Gleich wird er kommen, der Minotaurus, der uns verschlingt. Das letzte Rettungsschiff ist fort, ist verpaßt. Du mutzt zurückbleiben, und du mußt sterben. Ohnmächtig ist dein Zorn, aber er ist noch das letzte, was du hast. Dieser Satan da hinten, der Menschenglück frißt wie ein Ofen ein gleichgültiges Stück Zeitungspapier, Menschen, die Sehnsucht, Hoffnungen, Ideale hatten, den Gerechten wie den Schacher, alles, weil da unten in diesem sinnlosen alten Planeten eine Blähung sich angehäuft hatte…

Und nun der dritte Bericht. Die Höllenflammen des Vulkans lodern bis zum Zenit, ab und zu löst sich davon eine schwarze Wolke aus Asche und glühender Giftluft, die niedersinkt, eine ganze Stadt in ihr Leichentuch zu wickeln. Im vollen roten Lichte, aber auf offenem Plan steht ein Mann und schreibt in sein Notizbuch. Sein Blick geht bei jedem Aufschauen mit der Leidenschaft eines Verzückten frei in die Glut. Sie wird ihn auch fressen, was tut's! Er ist der Künstler, dem dieser Augenblick höchsten Schauens genügt, wie jener Nymphe, die Zeus einmal nur in ganzer Glorie schauen und dann gern sterben wollte. Wie unsagbar schön sind diese Garben roter und blauer Stichflammen, von denen jede genügt, ein St. Pierre mit 30000 Menschen in einer Sekunde zu vernichten!

In diesen drei Stimmungen kommt auch das Ungeheuer Weltstadt auf die Nachwelt. Schon heute ist es so festgelegt. [37]vielleicht gerade zeitig, denn vielleicht ist es selber in der Entwickelung schon über seine Höhe hinaus, wer weiß!

Die beiden ersten Stimmungen, der Flucht und der Verzweiflung, sind in der Poesie so alt wie die Vorläufer der modernen Großstadt selbst.

Wo die Antike anfängt, natursentimental zu werden, wie bei Horaz. da fühlt man den durchgebrannten Poeten schon, der mit den großen, nervös aufgeweckten Augen der riesigen Roma auf feinen sabinischen Kohl starrt. Der Schweinehund Martial, dem alle Laster zum Halse heraushangen, spiegelt schon die ohnmächtige Wut, das Kratzen des gespießten Käfers gegen die Hand des Kolosses, der ihn aufgespießt hält. Aber zu der dritten Stimmung hat es noch viele Jahrhunderte gebraucht. Und doch war der Kreis erst voll, als auch sie kam.

In Paris ist sie gekommen, der Weltstadt, die folgerichtig Rom abgelöst hat. London hat nichts dazu getan. Amerika nichts, obwohl sie zeitlich schon als Objekt nachkamen.

In Paris ist zuerst der Ruf aus tiefer Seele gekommen, aus der Seele von Malern und von Dichtern: wie schön ist dieses wilde Bild der Großstadt in seinen grellen Farben, seinen tollen Kontrasten, seinem absolut Neuen ungezählter Effekte! Der Künstler. der das sagte, fühlte sich selber riesengroß, er fühlte sich dem gewachsen, was da riesenhaft ragte. Er hatte den Mut, diesen ganzen wahnsinnigen Komplex von Masseneindrucken zu fassen als ein höheres – Stilleben.

So ist Paris zuerst von einer neuen Schule gesehen, gemalt, dichterisch beschrieben worden, als enorme Studie, als kühle Nachahmungsstudie zunächst vor dem neuen, merkwürdigen Objekt, als neue Stoffstudie.

In der Theorie ist das nachher, mit viel Verwirrung, eine Wurzel des Naturalismus geworden, der aus der provisorischen Stufe der Bewältigung eines riesigen neuen Stoffmaterials eine neue Kunststufe machen wollte, die nichts mehr weiter nötig hätte als solche Studien. Das ebbt heute wieder zurück in der Ästhetik.

Bezeichnend aber war für jene erste Künstlerschar, daß sie [38]selber noch keine Dekadenten waren. Der große Zola z. B. hat allerlei kuriose Individualzüge, aber er ist in keinem Zuge selber Dekadent. Der Vulkan hatte diese Leute noch nicht vergiftet. Sie kamen aus der Provinz, fanden das Ungetüm, eines Tages in ihrem Leben, und blieben gebannt, bewundernd davor stehen, um ihre Notizbücher zu füllen.

Auch Berlin hat nachher diese Generation gehabt, wobei freilich der Einfluß von Paris her schon entscheidend war und vielfach einen Zug aus zweiter Hand hineinbrachte. Nur in einem Punkte wirkte Berlin original, durch seine Lyrik. Paris hat feine Weltstadtstimmung überall durchzudrucken gewußt in seiner Kunst. Aber das Frankreich von heute wie schon von lange her hat keine oder nur verschwindend geringe Lyrik. Es hat Studierstubenbombast in Versen, und Gassenhauer: nicht, was wir Lyrik nennen. Deutschland hatte sie und brachte sie auch hierher.

Jener begeisterte Seher vor dem Mont Pelée wird aber eine Weile stolz dastehen, wie Phaeton auf dem Sonnenwagen. Doch wieder nach einer Weile zuckt eine der Stichflammen von drüben auch zu ihm heran und brennt ihm die Zunge aus, daß er umfällt wie eine Fliege. Er kommt nicht über die Schauer der Verwunderung und eine naturalistische Skizze hinaus: den Fortgang, die Entstehung eines wahren Kunstwerks aus solchen Schauern und solcher Schau frißt der Minotaurus selbst.

Einen Baum in der Campagne konnte ich behaglich malen oder besingen, er blieb dabei an feinem Fleck und ich auch, und nur die Kunstgeister webten herüber und hinüber. Dieser Lavabaum fällt mir schließlich auf den Kopf, unabwendbar, ehe ich fertig bin.

Genau so macht es die Großstadt mit der Kunst, wenn die sie erobern will, sie schon zu „haben“ glaubt.

Sie läßt die Laune und die Skizze zu. Eine Generation, die sich damit begnügt, mag passieren. Dann aber zeigt sie ihre vulkanische Macht.

Im Handumdrehen ist die Reihe der Bewunderer, der Eroberer einer Generation von Dekadenten gewichen. Sie stehen [39]nicht mehr als freie Eroberer vor der Burg. sie liegen in den Kasematten und haben Sumpffieber. Auch diese Phase der Großstadtkunst wird der spätere Forscher als wertvolles Dokument besitzen.

Es ist nicht Großstadt, besehen durch Kunst, sondern Kunst, erobert, beherrscht, vergroßstädtischt durch die Großstadt. Ein dekadenter Kunsttypus taucht darin auf, der fortan hineingehört in das Großstadtbild, den ein neu auftauchender Künstler jener ersten Generation kühl mitskizzieren würde als Objekt im Ganzen, als eine bestimmte Schimmelfarbe, bestimmte Fratze, die aber ins Ganze paßt.

Der Vulkan Cotopaxi in Südamerika speit gelegentlich wie eigene Wurfbomben tote Fische aus, die er irgendwo erwischt und gesotten hat. So die Weltstadt jetzt Weltstadtdichter, die in ihr zuerst untergegangen sind und jetzt von ihr in die Welt gespieen werden wie eigene Fabrikate. Die echten poetischen Zungen sind ihnen ausgebrannt bis in die letzte Spitze, aber sie spielen noch immer den „erobernden“ Künstler und preisen die Herrlichkeit der Großstadt, in Wahrheit nicht mehr als ihre kühl schauenden und von fern bewunderten Meister, sondern als ihre Kreaturen.

In diesem mathematisch starren, ewig wiederholten Verlauf liegt die Ursache für das, was immer wieder im Resultat gesehen und beklagt wird: daß wir der Weltstadt einen ungeheuren artistischen Anlauf mit naturalistischer Färbung verdanken, die Vorboten einer ganz neuen Kunstära, eine enorme Aufrüttelung aller Geister vor einem pompösen Stoffzuwachs – und dann doch nirgendwo ein wirklich großes, reifes Kunstwerk, sondern als Anhängsel, als trauriges jähes Schwanzstück, wo der Körper kommen sollte, ein Gewimmel markloser dekadenter Leistungen, in denen eine Reihe Generationen sich hoffnungslos abwirtschaften, bis sie sich selber zum Spott werden, nachdem sie auf den halbwegs Gesunden draußen schon längst wie ein Brechmittel gewirkt haben.

Indessen ist die Rolle der Weltstadt in der Kunst in dieser einen Linie ja noch keineswegs erschöpft. Sie ist die im Eingang schönste, aber nicht die dauerndste, verspricht viel und hält weit [40]weniger – wenn schon wir jenen großen ersten Anstoß gewiß in der Kunstentwickelung nicht gering schätzen wollen als solchen. Es bleiben die beiden zuerst schon mit bezeichneten Linien.

Der Standpunkt des Zähneknirschens im Winkel schein auf den ersten Anblick künstlerisch als der unfruchtbarste. Trotzdem ist er es nicht.

Dieses große Zähneknirschen, das überall von der Weltstadt ausgeht, ist auf jedem Gebiet in unseren Tagen eine ungeheure Fortschrittsmacht geworden, sozial so gut wie künstlerisch: bloß der Weg ist vorerst vielfach dunkel, wohin das soll.

Bei jenen dekadenten, von der Großstadt wie die Cotopaxi-Fische schon wirklich gesottenen Elementen wird es zum öden, impotenten Pessimismus. Eine Schar soliderer Elemente aber rafft sich auf und baut schließlich Schutzwälle gegen den Vulkan. Mag sein, daß es die nüchternste Auslese ist. Aber man kann es doch auch besser ausdrücken.

Es ist die Partei, in der Ideale erwachen, glühende Träume eines Besseren, das kommen muß, die Dinge sind zu sehr auf der Spitze, es muß.

An dieser Stelle hat die Poesie gewaltige Anregung erhalten durch die sozialen Gährungen der Großstadt.

Ich gebe zu, daß auch das verschiedene Phasen schon jetzt durchlaufen hat. Die Idealbildung im Sozialen hat auch dichterisch hochgerissen. Der Zug zur Nüchternheit, zum Paktieren mit kleinsten Mittelchen, der nachkam, hat umgekehrt auch wieder lähmend gewirkt, hat den echten Künstler verjagt oder, je nach dem, degradiert. Das politische Element ist in der Kunst eben immer nur möglich im Stadium der Idealbildung und nicht in dem der kleinen Arbeit. Ihre Kleinarbeit, wo sie zäh und eng sein darf, hat die Kunst in sich selbst, alles Fremde aber ist da vom Übel. Auf alle Fälle hat die Poesie aber enorm viel hier gelernt in der Großstadt.

Hier ist ihr die Menschheitsstimmung an den Hals gestiegen eines Daseins zwischen Zuchthaus und Krankenhaus und Irrenhaus, das ganze Gellende des Schreies hat sie hier gehört: es [41] muß ein Weg gefunden werden, ein Weg für den modernen Menschen, der aus diesem Spukbilde herausfuhrt.

Ich liebe die Weltstadt nicht, und wenn ich ihre Rolle in der ästhetischen Kultur unserer Zeit ansehe, so frage ich, wie Taine einst vor der französischen Revolution fragte: ob das Krokodil wirklich die Menschen wert war, die es täglich fressen mußte, um fett zu werden.

Und doch, wenn ich umgekehrt wieder von ganz abgeschlossener Kunst höre, die still aus ihrem Waldwinkel noch heute blühen will wie vor Zeiten, ohne je den Dunst der Weltstadt gesehen zu haben, so frage ich mich, ob auch daß noch ohne schwere Einbüße geht.

Ist es nicht, in jenem dritten Sinne, die Schule der Großstadt, die uns da draußen die Augen erst recht geöffnet hat?

Der Bauer sitzt in der Fülle des Landschaftlichen, und doch sieht er durchweg sehr wenig. Der Städter hat im Kerker gesessen, aber er hat in anderem Zusammenhang sehen gelernt. Wenn er jetzt hinauskommt, ist es, als fei er hellsehend für die Landschaft.

Ich meine natürlich hier nicht den dekadent Gewordenen, meine nicht das wirkliche Opfer der Stadt. Aber für einen echten, unantastbaren Teil unserer Künstler ist die Weltstadt eine entscheidende Durchgangsstation geworden zum besseren Wiederfinden erst ihres Heimatbodens da draußen.

Die Weltstadt ist ihnen keine Heimat, sie ist niemandes Heimat außer der Dekadenten. Aber eine Station ist sie der Heimatliebe für alle, eine Augen-Kuranstalt, die unsere Nerven schärft. So schenkt sie uns in der alten Heimat nachträglich eine neue.

Es ist ganz besonders in der deutschen Lyrik heute merkbar, was die Großstadt als Durchgangsstation vertieft hat in der Auffassung des Landschaftlichen. In diesem Sinne möchte man manchmal sagen: die Weltstadt ist einfach die neue Zeit, der große schmutzige Torbogen, durch den jeder einmal hindurch muß, um seine höhere Stufe zu finden. Das ist aber doch wohl [42]wieder zu viel. Dafür brechen zu viele den Hals in diesem schwarzen Tor.

Oder ist auch das nur die „Auslese der Passendsten“, die selbst durch die Kunst geht?

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