Zensur Kant verwendet den Ausdruck ,Zensur‘ zur Be- zeichnung einer richterlichen Instanz. Er spricht auch von der „Censur des Richters“ (KrV A 739 / B 767), „ethische[r] Censur“ (23:404), „Zensur des Geschmacks“ (KU, 5:278), „Censur der Fakultä- ten“ (7:18) und Zensur der Regierung (vgl. Religi- on, 6:8). Verwandte Stichworte Buch, Büchernachdruck; Lesen; Öffentlichkeit; Publikum Philosophische Funktion In KrV spricht Kant von einer durch die Disziplin der reinen Vernunft ausgeübten Zensur. Diese lie- ße sich von den üblichen Einschränkungen der Denkfreiheit dadurch unterscheiden, dass sich die Vernunft selbst eine Disziplin auferlegen kann und muss, „ohne eine andere Censur über sich zu gestatten, imgleichen daß die Grenzen, die sie ih- rem speculativen Gebrauche zu setzen genöthigt ist, zugleich die vernünftelnde Anmaßungen je- des Gegners einschränken, und mithin alles, was ihr noch von ihren vorher übertriebenen Forde- rungen übrig bleiben möchte, gegen alle Angri e sicher stellen könne“ (KrV A 795 / B 823). 2 ÖffentlicherundPrivatgebrauchderVernunft Unter dem „öffentlichen Gebrauche seiner eige- nen Vernunft“ versteht Kant in Aufklärung „den- jenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publicum der Leserwelt macht“ (8:36). Den „Privatgebrauch“ nennt er „denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerli- chen Posten oder Amte von seiner Vernunft ma- chen darf“ (8:37). Jener ließe sich von keiner Zensur einschränken, dieser aber doch. 3 Religionsfreiheit In Religion erklärt Kant, dass „das Gebot: gehorche der Obrigkeit!“, doch auch moralisch ist, und die Befolgung desselben wie auch die aller Pflic ten zur Religion gerechnet werden kann: „so geziemt einer Abhandlung, welche dem bestimmten Begri e der letztern gewidmet ist, selbst ein Beispiel dieses Gehorsams abzugeben, der aber nicht durch die Achtsamkeit bloß auf das Gesetz einer einzigen Anordnung im Staat und blind in Ansehung jeder andern, sondern nur durch vereinigte Achtung für alle vereinigt bewiesen werden kann“ (6:8). 4 WissenschaftlicheFreiheit und Pressefreiheit Im Streit klärt Kant definitiv seine Einstellung zum Zensurwesen. Während die Mitglieder der philosophischen Fakultät dem von Friedrich dem Großen proklamierten und von Kant in Aufklärung formulierten Gebot, „räsonnirt, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht!“ (8:42) weiterhin folgen dürften, seien die Mitglieder der drei oberen Fakultäten (Geistliche, Justizbeamte und Ärzte) der Zensur unterworfen, da sie „als Werk- zeuge der Regierung [. . . ] aufs Publicum gesetzlichen Ein uß haben und eine besondere Klas- se von Litteraten ausmachen, die nicht frei sind, aus eigener Weisheit, sondern nur unter der Censur der Facultäten von der Gelehrsamkeit ö entli- chen Gebrauch zu machen“, nicht zuletzt deswegen, weil „sie sich unmittelbar ans Volk wenden, welches aus Idioten besteht (wie etwa der Klerus an die Laiker), in ihrem Fache aber zwar nicht die gesetzgebende, doch zum Theil die ausüben- de Gewalt haben, von der Regierung sehr in Ord- nung gehalten werden, damit sie sich nicht über die richtende, welche den Facultäten zukommt, wegsetzen“ (7:18). Die Freiheit der Presse ist nach Kant nur bei einer freien, „uneingeschränkten Re- girung“, „bey guter militärischer subordination“, sofern sie „auf allgemeine Anordnungen geht“, erlaubt (Re . 1432, 15:626). Literatur Clarke, Michael: „Kant’s Rhetoric of Enlighten- ment“, in: The Review of Politics 59, 1997, 53–73. Hinske, Norbert: „,. . . warum das gelehrte Volk so dringend nach der Freiheit der Feder schreit‘. Pluralismus und Publikationsfreiheit im Denken Kants“, in: Schwartländer, J. / Willoweit, D. [Hg.]: Meinungsfreiheit – Grundgedanken und Geschichte in Euro- pa und USA, Kehl-Strasbourg: Engel 1986, 31–49. Losurdo, Domenico: Autocensure et compro- mis dans la pensée politique de Kant, Lille: Presses Universitaires de Lille 1993. Niesen, Peter: Kants Theorie der Redefreiheit, Baden-Baden: Nomos 2005. O’Neill, Onora: „Kant on Reason and Religion“, in: Peterson, Grethe B. [Hg.]: The Tanner Lectures on Human Values, Salt Lake City: University of Utah Press 1997, 267–308. Pozzo, Riccardo: „Kant’s ,Streit der Fakultäten‘ and Conditions at Königsberg“, in: History of Universities 16, 2000, 96–128. Selbach, Ralf: Staat, Universität und Kirche. Die Institutionen- und Systemtheorie Immanuel Kants, Frankfurt/M. u. a.: Lang 1993.

Zensur

POZZO, Riccardo
2015-01-01

Abstract

Zensur Kant verwendet den Ausdruck ,Zensur‘ zur Be- zeichnung einer richterlichen Instanz. Er spricht auch von der „Censur des Richters“ (KrV A 739 / B 767), „ethische[r] Censur“ (23:404), „Zensur des Geschmacks“ (KU, 5:278), „Censur der Fakultä- ten“ (7:18) und Zensur der Regierung (vgl. Religi- on, 6:8). Verwandte Stichworte Buch, Büchernachdruck; Lesen; Öffentlichkeit; Publikum Philosophische Funktion In KrV spricht Kant von einer durch die Disziplin der reinen Vernunft ausgeübten Zensur. Diese lie- ße sich von den üblichen Einschränkungen der Denkfreiheit dadurch unterscheiden, dass sich die Vernunft selbst eine Disziplin auferlegen kann und muss, „ohne eine andere Censur über sich zu gestatten, imgleichen daß die Grenzen, die sie ih- rem speculativen Gebrauche zu setzen genöthigt ist, zugleich die vernünftelnde Anmaßungen je- des Gegners einschränken, und mithin alles, was ihr noch von ihren vorher übertriebenen Forde- rungen übrig bleiben möchte, gegen alle Angri e sicher stellen könne“ (KrV A 795 / B 823). 2 ÖffentlicherundPrivatgebrauchderVernunft Unter dem „öffentlichen Gebrauche seiner eige- nen Vernunft“ versteht Kant in Aufklärung „den- jenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publicum der Leserwelt macht“ (8:36). Den „Privatgebrauch“ nennt er „denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerli- chen Posten oder Amte von seiner Vernunft ma- chen darf“ (8:37). Jener ließe sich von keiner Zensur einschränken, dieser aber doch. 3 Religionsfreiheit In Religion erklärt Kant, dass „das Gebot: gehorche der Obrigkeit!“, doch auch moralisch ist, und die Befolgung desselben wie auch die aller Pflic ten zur Religion gerechnet werden kann: „so geziemt einer Abhandlung, welche dem bestimmten Begri e der letztern gewidmet ist, selbst ein Beispiel dieses Gehorsams abzugeben, der aber nicht durch die Achtsamkeit bloß auf das Gesetz einer einzigen Anordnung im Staat und blind in Ansehung jeder andern, sondern nur durch vereinigte Achtung für alle vereinigt bewiesen werden kann“ (6:8). 4 WissenschaftlicheFreiheit und Pressefreiheit Im Streit klärt Kant definitiv seine Einstellung zum Zensurwesen. Während die Mitglieder der philosophischen Fakultät dem von Friedrich dem Großen proklamierten und von Kant in Aufklärung formulierten Gebot, „räsonnirt, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht!“ (8:42) weiterhin folgen dürften, seien die Mitglieder der drei oberen Fakultäten (Geistliche, Justizbeamte und Ärzte) der Zensur unterworfen, da sie „als Werk- zeuge der Regierung [. . . ] aufs Publicum gesetzlichen Ein uß haben und eine besondere Klas- se von Litteraten ausmachen, die nicht frei sind, aus eigener Weisheit, sondern nur unter der Censur der Facultäten von der Gelehrsamkeit ö entli- chen Gebrauch zu machen“, nicht zuletzt deswegen, weil „sie sich unmittelbar ans Volk wenden, welches aus Idioten besteht (wie etwa der Klerus an die Laiker), in ihrem Fache aber zwar nicht die gesetzgebende, doch zum Theil die ausüben- de Gewalt haben, von der Regierung sehr in Ord- nung gehalten werden, damit sie sich nicht über die richtende, welche den Facultäten zukommt, wegsetzen“ (7:18). Die Freiheit der Presse ist nach Kant nur bei einer freien, „uneingeschränkten Re- girung“, „bey guter militärischer subordination“, sofern sie „auf allgemeine Anordnungen geht“, erlaubt (Re . 1432, 15:626). Literatur Clarke, Michael: „Kant’s Rhetoric of Enlighten- ment“, in: The Review of Politics 59, 1997, 53–73. Hinske, Norbert: „,. . . warum das gelehrte Volk so dringend nach der Freiheit der Feder schreit‘. Pluralismus und Publikationsfreiheit im Denken Kants“, in: Schwartländer, J. / Willoweit, D. [Hg.]: Meinungsfreiheit – Grundgedanken und Geschichte in Euro- pa und USA, Kehl-Strasbourg: Engel 1986, 31–49. Losurdo, Domenico: Autocensure et compro- mis dans la pensée politique de Kant, Lille: Presses Universitaires de Lille 1993. Niesen, Peter: Kants Theorie der Redefreiheit, Baden-Baden: Nomos 2005. O’Neill, Onora: „Kant on Reason and Religion“, in: Peterson, Grethe B. [Hg.]: The Tanner Lectures on Human Values, Salt Lake City: University of Utah Press 1997, 267–308. Pozzo, Riccardo: „Kant’s ,Streit der Fakultäten‘ and Conditions at Königsberg“, in: History of Universities 16, 2000, 96–128. Selbach, Ralf: Staat, Universität und Kirche. Die Institutionen- und Systemtheorie Immanuel Kants, Frankfurt/M. u. a.: Lang 1993.
2015
9783110172591
Immanuel Kant
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