Der Terminus Synkretismus ist in der linguistischen Literatur mehrdeutig. Einerseits bezeichnet er einen diachronen Prozeß, durch den zwei oder mehr Exponenten morphosyntaktischer Kategorien zusammenfallen, so daß zwei oder mehr grammatische Bedeutungen (zum Beispiel zwei Kasus), die früher durch zwei verschiedene Exponenten ausgedrückt wurden, später nur noch durch einen ausgedrückt werden. Gebraucht man den Terminus Synkretismus entsprechend auf synchroner Ebene, sollte er sich auf das Fehlen von Isomorphismus zwischen Form und Funktion beziehen und darauf hinweisen, daß ein und dieselbe Form mehrere Funktionen ausdrücken kann: "The term 'syncretism' traditionally refers to cases where two or more meanings are associated with one and the same form" (Gvozdanovic 1991:134). In diesem Sinne nähert sich der Begriff des Synkretismus in unklarer Weise dem der Polysemie an (s. 1.3.). Auf der anderen Seite ist der Terminus Synkretismus auch in einem weiteren Sinn doppeldeutig. Einige Wissenschaftler identifizieren als Synkretismus nur die völlige Fusion der Exponenten zweier oder mehrerer grammatischer Bedeutungen. Andere dagegen sprechen von verschiedenen Graden von Synkretismus, wenn sich diese Fusion nur in einigen Teilen des Paradigmas realisiert. Für dieses zweite Phänomen wird auch der Terminus Homophonie gebraucht (s. 1.2.). Beide Blickwinkel, der synchrone und der diachrone, bedingen die Abgrenzung der drei Begriffe Synkretismus, Homophonie und Polysemie mit (s. 1.1.). Aus der sychronen Perspektive allein ist es schwierig, Synkretismus von Homophonie abzugrenzen, während in diachroner Perspektive das Ergebnis des Synkretismus die Polysemie zu sein scheint. Aufgrund der Verwendung des Terminus Synkretismus in der Fachliteratur nicht nur der letzten Jahre, sondern schon des 19. Jahrhunderts ist eine befriedigende Abgrenzung der drei Begriffe nicht möglich, ohne die gewählte Perspektive und den angewendeten theoretischen Rahmen zu spezifizieren.

Synkretismus

LURAGHI, SILVIA
2000-01-01

Abstract

Der Terminus Synkretismus ist in der linguistischen Literatur mehrdeutig. Einerseits bezeichnet er einen diachronen Prozeß, durch den zwei oder mehr Exponenten morphosyntaktischer Kategorien zusammenfallen, so daß zwei oder mehr grammatische Bedeutungen (zum Beispiel zwei Kasus), die früher durch zwei verschiedene Exponenten ausgedrückt wurden, später nur noch durch einen ausgedrückt werden. Gebraucht man den Terminus Synkretismus entsprechend auf synchroner Ebene, sollte er sich auf das Fehlen von Isomorphismus zwischen Form und Funktion beziehen und darauf hinweisen, daß ein und dieselbe Form mehrere Funktionen ausdrücken kann: "The term 'syncretism' traditionally refers to cases where two or more meanings are associated with one and the same form" (Gvozdanovic 1991:134). In diesem Sinne nähert sich der Begriff des Synkretismus in unklarer Weise dem der Polysemie an (s. 1.3.). Auf der anderen Seite ist der Terminus Synkretismus auch in einem weiteren Sinn doppeldeutig. Einige Wissenschaftler identifizieren als Synkretismus nur die völlige Fusion der Exponenten zweier oder mehrerer grammatischer Bedeutungen. Andere dagegen sprechen von verschiedenen Graden von Synkretismus, wenn sich diese Fusion nur in einigen Teilen des Paradigmas realisiert. Für dieses zweite Phänomen wird auch der Terminus Homophonie gebraucht (s. 1.2.). Beide Blickwinkel, der synchrone und der diachrone, bedingen die Abgrenzung der drei Begriffe Synkretismus, Homophonie und Polysemie mit (s. 1.1.). Aus der sychronen Perspektive allein ist es schwierig, Synkretismus von Homophonie abzugrenzen, während in diachroner Perspektive das Ergebnis des Synkretismus die Polysemie zu sein scheint. Aufgrund der Verwendung des Terminus Synkretismus in der Fachliteratur nicht nur der letzten Jahre, sondern schon des 19. Jahrhunderts ist eine befriedigende Abgrenzung der drei Begriffe nicht möglich, ohne die gewählte Perspektive und den angewendeten theoretischen Rahmen zu spezifizieren.
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