Joachim Schulze: Die Bilder zum italienischen Minnesang im Canzoniere Palatino, herausgegeben von Elisabeth Schulze-Witzenrath.
Heidelberg: Winterverlag 2018, 90 S., Euro 28,00
ISBN 978-3-8253-6855-5

· Franziska Meier ·


PID: http://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-DA62-5

Ob Joachim Schulze tatsächlich das Buch zu den Bildern des italienischen Minnesangs im Canzoniere Palatino in dieser Form publiziert hätte? Der Bochumer Romanist war 2016 nach kurzer schwerer Krankheit gestorben. Zwei Jahre danach bringt seine Frau Elisabeth Schulze-Witzenrath mit der fachmännischen Unterstützung von Tobias Eisermann das Buch heraus. Leider ist dem Band nichts über die Entstehung oder die ungefähren Pläne, die der Autor damit verband, zu entnehmen. Bei der Lektüre drängt sich manchmal der Eindruck auf, man blicke ins beneidenswert geordnete Arbeitszimmer eines Gelehrten. Denn über weite Strecken handelt es sich um eine akkurate Beschreibung der 180 Miniaturen, die den Canzoniere Palatino schmücken. Schulze fügt seine Beobachtungen zwar durchaus zu einer Ordnung, in der es allerdings mehrfach zu Wiederholungen kommt, vor allem aber fehlt eine abschließende Synthese. Damit sei indes nicht in Abrede gestellt, dass das Buch wertvolle und publikationswürdige Ergebnisse enthält. Noch dazu fügt es sich geschmeidig in die vorherigen Forschungen von Joachim Schulze ein.

Seit den achtziger Jahren hat sich Schulze mit der frühen italienischen Lyrik beschäftigt. 1989 veröffentlichte er die Monographie Sizilianische Kontrafakturen. Versuch zur Frage der Einheit von Musik und Dichtung in der sizilianischen und sikulo-toskanischen Lyrik des 13. Jahrhunderts. Darin wandte er sich gegen die vor allem in Italien immer noch festverwurzelte Ansicht, nach der die italienische Lyrik im Gegensatz zu ihren provenzalischen Vorläufern von Anfang an ohne Musik entstand. Die These wurde wohl am deutlichsten von Aurelio Roncaglia vertreten, unter anderem in seinem Aufsatz «Le corti medievali» von 1984. Den Sonderweg erklärte sich Roncaglia daraus, dass die Dichter der scuola siciliana, weitgehend Beamte am Hof von Kaiser Friedrich II, keine unmittelbare Anschauung von den Vortragsweisen der Troubadours gehabt hätten. Sie kannten lediglich einen Codex mit provenzalischen Gedichten samt Kommentar und Lebensbeschreibungen der Troubadours, den der Kaiser 1232 in Pordenone als Geschenk erhalten und nach Süditalien mitgenommen hatte. Aus den aufgezeichneten Texten ging indes keine musikalische Darbietung hervor. Was man auch immer von dieser Anekdote halten mag, für den schriftlichen Charakter der italienischen Lyrik spricht ihre starke Anlehnung an die aristotelische Naturphilosophie, die sich unter anderem in der Rede über die Liebe bekundet. Bestes Beispiel hierfür ist die Tenzone, die Iacopo Mostacci mit der scholastischen Frage, ob die Liebe ein Akzidenz oder eine Substanz sei, anstieß und auf die er von Piero della Vigna und Giacomo da Lentini entgegengesetzte Antworten erhielt.

Die Radikalität, mit der Roncaglia die These vom «divorzio tra musica e poesia» formulierte, ist von Anfang an bestritten worden. Es sind heute zwar nur wenige musikalische Kompositionen aus dem 13. Jahrhundert erhalten, aus Chroniken ist jedoch belegt, daß in Italien durchaus an Höfen musiziert und gesungen wurde. Insbesondere bei Kaiser Friedrich II und seinem Sohn, König Manfred, werden die Gesangskünste gelobt. Unklar bleibt dabei, ob die Volgare-Dichter selbst den Vortrag übernahmen oder ob es Musiker und Sänger waren, die die Gedichttexte vertonten und vortrugen. In seinen Forschungen zur sizilianischen und sikulo-toskanischen Lyrik hat sich Joachim Schulze intensiv darum bemüht, anhand von historiographischen Zeugnissen und mehr noch anhand der Strophen- und Reimstrukturen die enge Verbindung von Musik und Dichtung für die frühe italienische Lyrik bis zur Vita Nova Dante Alighieris nachzuweisen. 2004 hat er die Recherchen in seinem Buch Amicitia vocalis. Sechs Kapitel zur frühen italienischen Lyrik mit Seitenblicken auf die Malerei fortgesetzt. Da ging es ihm darum nachzuweisen, dass die italienische Lyrik des dreizehnten Jahrhunderts ebenso wie die deutsche Minnelyrik und die Darbietungen der Troubadours ihren festen Ort in der Fest- und Hofkultur hatte. Um das zu belegen, zog er erstmals auch Beispiele aus der bildenden Kunst heran.

Auf den Spuren dieser beiden Monographien bewegt sich Schulzes letzte Arbeit, die dem Text-Bild-Verhältnis im Canzoniere Palatino gewidmet ist. Unter den drei Sammlungen (Vaticano, Laurenziano und eben Palatino) ist er der einzige, der mit Miniaturen ausgestattet ist. Schulze weist darin die bisher für gültig erachtete Einschätzung der Illustrationen des Codex zurück. Luisa Maria Meneghetti hatte in ihrer Studie von Minne-Handschriften, vorwiegend aus dem Veneto, vier Illustrationstypen herausgearbeitet. In der von Lino Leonardi herausgegebenen Edition der drei überlieferten Canzonieri kommt sie zu dem Ergebnis, dass es im Canzoniere Palatino drei der üblichen vier Illustrationstypen gebe: den poetisch-rhetorischen Typus, in dem das oder ein Thema des nachstehenden Gedichtes gemalt ist, den nominalistisch-symbolischen Typus, in dem Personen mit charakteristischen Attributen auftreten, und schließlich den performativen Typus, in dem eine Figur versehen mit einem Instrument vor einem Publikum steht. Schulze geht es nun darum, Meneghettis Einschätzung zu widerlegen, wonach «die meisten Bilder dem poetisch-rhetorischen Typ zuzurechnen seien und dies auch für diejenigen Bilder gelte, die man wegen eines für den Vortrag sprechenden ‹gesto performativo› oder gar eines Musikinstruments dem performativen Typ zuzuordnen versucht sein könnte» (S. 7). Denn Schulze ist überzeugt davon, daß die Bilder zu einem großen Teil dem performativen Typus zuzuteilen sind. Der Canzoniere Palatino, so seine These, liefert in seinem Bildprogramm einen Spiegel des Hoflebens, oder wie er es formuliert, eine «Art bildliches ‹speculum curialitatis›» (S. 32).

Aufschlussreich ist gleich zu Beginn des Buches seine Interpretation des «ersten großen Bildes» der Sammlung. Schulze setzt sich erst mit der Beschreibung und zeichnerischen Rekonstruktion des Florentiner Bibliothekars Francesco Palermo von 1860 auseinander. In dessen Nachfolge hielt man die Illustration für eine rein allegorische Darstellung. Danach habe immerhin der australische Italianist Vincent Moleta im oberen Teil der Illustration keine Allegorie, sondern eine Repräsentation der Herrschaft Amors «über einen weltlichen Hof erkannt». Allerdings habe Moleta den unteren Teil weiterhin für eine Christus-Allegorie gehalten. Schulze, der sich in seiner Auslegung selbst korrigiert, macht dagegen in dem unten abgebildeten Tier eine Art Ibis aus, den heute in Europa ausgestorbenen Waldrapp, sowie in dem Baum, der lange als Allegorie des Lebens begriffen wurde, eine Zypresse, also den charakteristischen Bestandteil eines Ziergartens. Daher könne es sich nicht um eine Allegorie handeln, sondern vielmehr um den Versuch, eine «architektonische Kulisse als herrschaftlichen Ziergarten zu kennzeichnen». (S. 14) Insofern vergegenwärtigten beide Teile des ersten Bildes eine spezifisch höfische Situation, in der die Gedichte samt Miniaturen ihren Platz finden sollten. Gegen diese Interpretation spreche auch nicht, dass die auf das Bild unmittelbar folgende Kanzone Guittone d’Arezzos dem vero amore, der Gottesliebe, gewidmet sei. Im Gegenteil, darin leite das große Bild den für das Werk Guittones bezeichnenden Gegensatz zwischen den frühen profanen und den geistlichen Liebesgedichten ein, die Guittone nach seinem Eintritt in den Orden der Frati gaudenti verfasste. Die Miniaturen zu seiner Lyrik, die einen großen Teil des Canzoniere ausmacht, zeigten den Vortragenden bezeichnenderweise vor einem weiblichen Publikum, doch gehe aus der räumlichen Anordnung der Figuren hervor, dass es sich nicht um eine Situation der Huldigung oder des Lebensbeweises handeln könne.

In seiner Lesart der Illustrationen sieht sich Schulze bestärkt durch Francesco da Barberinos Documenti d’Amore. Auch wenn diese erst Anfang des 14. Jahrhunderts niedergeschrieben wurden, erinnerte ihr Autor doch ausdrücklich daran, dass ihm in Florenz schon in den 1280er-Jahren «dreiundzwanzig die Liebe betreffende Fragen zugegangen seien, von denen eine der Lage und Beschaffenheit der ‹curia amoris› galt» (S. 15). Bezeichnend für den Zusammenhang sei zudem, dass die Documenti d’amore Illustrationen enthielten, in denen die Herrschaft Amors über den weltlichen Hof sowie damals beliebte Amor-Spiele wiedergegeben seien. Obgleich der Canzoniere Palatino vermutlich schon Ende des 13. Jahrhunderts entstand – der Illustrator stammte offenbar aus Pistoia, aber die Bottega hatte ihren Sitz in Florenz –, hält Schulze Francesco da Barberinos «direkte oder indirekte Beteiligung an der Ausarbeitung des ikonographischen Programms einer Lyrikhandschrift [für] durchaus denkbar» (S. 16). Dafür spreche zudem, dass sich Francesco da Barberino in ikonographischen Fragen hervorragend ausgekannt habe, wie sich unter anderem den Illustrationen, die er zu seinen eigenen Gedichten anfertigen ließ, entnehmen lässt.

Das zweite große Bild des Canzoniere Palatino, auf dem man Figuren unter einem Portikus sehen kann, bestätigt, so Schulze, die Vermutung, dass es den Illustratoren vornehmlich um die Situation des Vortrags ging. Für die darauf abgebildeten Motive, etwa den Portikus oder Bäume als Teile von Ziergärten sowie für die festlichen Arrangements, kann er jeweils Beispiele aus der provenzalischen und altfranzösischen Literatur einbringen. Das «mehrfigurige Szenenbild» schließlich, wie Ursula Peters es in ihrer Monographie Das Ich im Bild von 2008 nennt, habe weniger eine «textillustrative Funktion», wie Peters annimmt, als dass es die in den Gedichten selbst höchstens «in Andeutungen thematisierten Umstände ihrer Darbietung» (S. 31) vermitteln wolle. Die höher gesetzte Frauenfigur ist für Schulze übrigens ein weiteres Indiz dafür, dass Francesco da Barberino mit der Entstehung des Canzoniere zu tun hatte. Die Vortragssituation, der gewählte Ort ebenso wie die gezeigten, sich wiederholenden Gesten, etwa der Ergebenheit oder der Betrübnis, sowie die räumliche Anordnung der Figur des Darbietenden gegenüber den höhergestellten Damen entsprächen ziemlich genau den Angaben, die Francesco da Barberino zum Leben am Hof und vor allem zu den Modalitäten der Darbietung von Liebeslyrik und Huldigung vor Damen mache.

Im Detail geht Schulze schließlich die zahlreichen illustrierten Initialen der Sammlung durch. In einer Vielzahl von Einzelanalysen hebt er immer wieder hervor, wie darin Gesten oder Haltungen aus den großen Bildern wiederaufgenommen und ausgeführt werden. Schulze konzentriert sich vornehmlich auf die Handgebärden, die Gesten, die Gegenüberstellung von Herr und Dame, sowie auf die Positur des Vortragenden. Seine Bildbetrachtungen durchsetzt Schulze dann mit Zitaten aus Rhetoriken des 13. Jahrhunderts, darunter der des Brunetto Latini, in denen auf die Gestik beim Reden großen Wert gelegt wird. Das Bildprogramm des Canzoniere liest sich insofern geradezu als eine bildliche Umsetzung von rhetorischen Praktiken, um der eigenen Liebe gegenüber der Angebeteten zum Erfolg zu verhelfen. Anhand eines Reiterbildes, das im Canzoniere Palatino der Kanzone P 47 vorangeht, zeigt Schulze zuletzt, dass damit zwar auf die Ritterwürde des «Messer Raynaldo d’Aquino» hingewiesen werden solle, ohne darum auf diesen Dichter gemünzt zu sein. Die Miniatur sei vielmehr ein guter Beleg dafür, dass «die in der Rubrik genannte Person weder ausschließlich noch hauptsächlich Autor war, sondern das lyrische ‹parlare› oder ‹ragionare d’amore› verbunden mit dem ‹arme portare›, also im Rahmen ihrer repräsentativen ritterlichen Pflichten, betrieb» (S. 78). In anderen Worten: Die Miniaturen vergegenwärtigten nicht den jeweiligen Dichter in seiner Besonderheit oder auch das Dichten als eine außergewöhnliche Begabung, sondern eine höfische Praxis, an der alle teilhätten.

Das Buch endet abrupt mit den Ausführungen zum Reiterbild. Wollte Joachim Schulze seine Arbeit am Canzoniere Palatino fortsetzen, sprich systematisieren? Wenn man sich seine vorherigen Bücher anschaut, bestehen diese häufig aus einer langen Reihe von Kapiteln, die nicht in eine Schlussbetrachtung münden. Bei diesem Buch über Die Bilder zum italienischen Minnesang im Canzoniere Palatino hätte man dem Autor doch gerne einige Fragen gestellt. Wie kommt es, dass der prächtige, aus einer Hand stammende Canzoniere Palatino in seinem Bildprogramm der Darbietung der Liebeslyrik solche Bedeutung beimessen möchte? Schulze führt dazu nur aus, dass die Ehre des szenischen Darbietens als zu flüchtig empfunden wurde und zumindest in den Miniaturen den Augenblick des Festes überdauern sollte. Nur wer hätte dazu den Auftrag geben sollen? Immer wieder taucht in Schulzes Bildbetrachtungen Francesco da Barbarino gleichsam als graue Eminenz auf, die auf die Gestaltung direkt oder indirekt Einfluss gewonnen habe. Wie aber steht es mit jenem «ser Pace», einem Notar, in dem Lino Leonardi den «magister loci della raccolta» ausgemacht hat? Und wie erklärt es sich, dass die abgebildeten Autoren der Gedichte, darunter der Ende des 13. Jahrhunderts so bewunderte Guittone d’Arezzo, in den Miniaturen überwiegend als Teilnehmer einer Festkultur illustriert werden sollen? Selbst der mit einem Szepter ausgestattete Logothet Friedrichs II, Piero della Vigna, verweist offenbar weniger auf die Würde seines Amtes als auf die Wichtigkeit eines wirkmächtigen Vortrags? So plausibel Schulzes These ist, dass der frühen italienischen Lyrik mit den Miniaturen ein Sitz im Leben, das heißt in der höfischen oder städtischen Festkultur, zugewiesen werden sollte, wie hat man sich in den toskanischen Städten dieses höfische Leben im italienischen Duecento konkret vorzustellen? Welchen Anteil am Bildprogramm der Miniaturen könnten die früheren Minne-Handschriften aus Norditalien genommen haben? Schade, dass Joachim Schulze uns darauf keine Antworten mehr geben kann.