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Gerade dem alten, grauen Kloster der Dominikaner gegenüber steht das große, weiße Haus des Juden, hart an der Heerstraße, die von Lemberg nach Skala führt und das düstere Städtchen durchschneidet. Wer in einem der kleinen, schmutzigen Häuser des Ghetto geboren ist, wächst in Ehrfurcht und Bewunderung auf vor diesem Hause und seinem Besitzer, dem alten Moses Freudenthal. Dieses Haus und dieser Mann sind der Stolz von Barnow. Und Beide rechtfertigen auch, jedes in seiner Weise, diesen Stolz.
Da ist zuerst das Haus. Es ist, als wüßte es seinen Wert, so stolz und stattlich steht es da in seinem weißen, reinlichen Aufputz, mit der langen, glänzenden Fensterreihe des ersten Stockwerks, mit den bunten Kaufläden zu ebener Erde, zu beiden Seiten des mächtigen Thorwegs, der einladend geöffnet ist. Denn dieses Haus ist ein Einkehrhaus und die Edelleute wissen seine Vorzüge zu schätzen, wenn sie ins Bezirksamt oder zum Wochenmarkt in die Stadt kommen, und ebenso die Kavallerieoffiziere aus den Dörfern
Aber der alte, hochgewachsene Mann mit den düsteren Zügen ist noch weit mehr. Seine Familie ist seit Menschengedenken die vornehmste im Städtchen, sein Betständer in der »Schul'« steht der erste in der ersten Reihe. Wie nach seines Großvaters Tode sein Vater, so ist er nach seines Vaters Tode Vorstand der Gemeinde geworden, ohne daß er sich darum beworben, ohne daß es Jemand eingefallen wäre, ihn nicht zu wählen. Er gilt als der frömmste und ehrlichste Mann der Judenschaft. Und dazu sein Reichtum, sein ungeheurer Reichtum!
Seine Glaubensgenossen halten ihn für einen Millionär und sie haben Recht. Denn ihm gehört nicht nur das Haus mit all' dem, was d'rum und d'ran ist, auch mehrere Güter der Umgegend kann er mit größerem Rechte sein nennen, als die polnischen Barone und Edelleute, die auf ihnen sitzen. Und das
Würde es euch nach all' dem wundern, wenn ihr hören würdet, daß Moses Freudenthal nicht nur der reichste und stolzeste, sondern auch der meist beneidete Mann des Ortes ist?! Aber dem ist nicht so. Fraget den ärmsten Mann in der Judenstadt, den Thoralehrer, der mit seinen sechs Kindern am Hungertuche nagt, oder den Wasserträger, der die Woche hindurch vom frühen Morgen bis zum späten Abend vom und zum Stadtbrunnen keucht, fragt sie, ob sie mit Moses tauschen wollen, und sie würden euch »Nein« sagen. Denn größer als dieses Mannes Reichtum ist sein Unglück.
Ihr könnt es ihm freilich nicht vom Gesicht ablesen, wenn ihr ihn so stolz und stattlich vor dem Thorwege seines Hauses stehen seht. Unter dem kleinen schwarzen Sammetkäppchen quillt das Haar silbergrau hervor; silbergrau und dünn sind auch die beiden langen Locken, die nach der Weise der Chassidim an den Wangen herabfließen. Aber die Gestalt ist noch kräftig und ungebeugt, und der seltsam geschnittene, talarähnliche Judenrock aus schwarzem Tuche kleidet sie stattlich genug. Der alte Mann steht fast bewegungslos da und sieht dem Anstreicher zu, der die Thüre des Branntweinladens mit frischer, giftgrüner Farbe überzieht
Nur wenige Stunden noch, denn die Sonne neigt zum Untergang und der Freitag Nachmittag geht zu Ende. In den Häusern rüsten sie überall für den Ruhetag; die Gasse liegt im hellen Sonnenglanze verödet. Nur vom Amte her kommt der Bezirksrichter, der gelbe, magere Herr Lozinski, mit einem jungen Fremden den Weg herauf und bleibt einige Minuten plaudernd bei Moses stehen, ehe er die Treppe zu seiner Wohnung emporsteigt. Sie sprechen von den schlechten Zeiten, wie hoch das Agio stehe, und dann, wie schön sich diesmal der April anlasse. Und es ist auch heute ein so lieber, rechter Frühlingstag, wie ihn
»Ein merkwürdiger Mensch, der alte Moses!« plaudert oben der Bezirksrichter zu seinem Gaste, dem neuen Aktuar. »Ich weiß nicht, ein Sonderling. Man würde es ihm nicht ansehen; er weiß mehr vom Jus als der beste Advokat. Und denken Sie nur: er ist der reichste Mann im ganzen Kreise. Man spricht von mehreren Millionen. Und dabei plagt er sich die ganze Woche, als müßte er sein Essen für den Sabbath verdienen!«
»Ein Schmutzian, wie die Juden alle,« sagt der Aktuar und ringelt den Rauch seiner Cigarre in die Luft.
»Hm! doch nicht! Er ist wohlthätig, man muß sagen, sehr wohlthätig. Das macht ihm aber keine Freude und das Verdienen auch nicht. Und doch spekuliert er fortwährend. Für wen? ich bitte Sie, für wen?!«
»Hat er keine Kinder?« fragt der Andere.
»Ja freilich! Das heißt, wie man's nimmt. Nach
Der alte Mann, dessen Geschichte alle Welt kennt, lehnt unten noch immer an der Thür seines Hauses und sieht zu, wie die Blütenzweige im Klostergarten im Winde schwanken. Woran er wohl denken mag? An seine Geschäfte nicht. Denn seine Augen sind feucht geworden und um die Lippen zuckt es einen Augenblick wie verhaltener Schmerz. Er legt seine Hand über die Augen, als blende ihn das Sonnenlicht.
Dann richtet er sich auf und schüttelt das Haupt, als wollte er die trüben Gedanken mit abschütteln. »Beeilt Euch! es wird bald Sabbath!« ruft er dem Anstreicher zu und tritt näher heran, um die Arbeit zu besichtigen. Der kleine, buckelige Mann im abgeschabten polnischen Schnürrock ist eben mit den beiden Thürflügeln fertig geworden und hinkt nun mit dem Farbentopf an den Fensterladen. Im hellsten Zinnoberrot hatte diese Tafel einst in schöneren Tagen geprangt und in weißen Buchstaben war darauf jener schlichte Witz zu lesen gewesen, den man überall an den Schenkstuben der jüdisch-polnischen Städtchen findet: »Heute ums Geld, morgen umsonst!« Nun ist die Pracht längst dahin, die Worte sind unleserlich geworden, und emsig führt der Kleine den Pinsel mit dem saftigen
Aber Moses denkt wohl an Wichtigeres und blickt kaum auf. »So?« sagt er dann gleichgültig.
»Ei freilich!« fährt das Männchen eifrig fort. »Erinnert Ihr Euch nicht mehr? Vor fünfzehn Jahren war's und gerade an einem so schönen Tage wie heute, da hab' ich's gemalt. Das Haus war noch neu und ich noch ein junger Bursch. ›Ich bin zufrieden mit Euch, Janko!‹ habt Ihr damals gesagt. Ihr seid vor dem Thore gestanden, ich glaube gar, an derselben Stelle und neben Euch Eure kleine Esterka. Heilige Jungfrau! was war das Kind schön! Und wie lieb es gelacht hat, wie so ein weißer Buchstabe nach dem andern auf dem roten Grund herauskam! Es hat auch gleich gefragt, was sie bedeuten, das liebe Kind! Und drei Theresienzwanziger habt Ihr mir für die Arbeit gegeben. Ich weiß es noch ganz genau. Ich hab' damals gedacht: ›Janko! das ist deine letzte Arbeit in Barnow.‹ Denn der alte Herr von Polanski hat mich nach Krakau schicken wollen, in die Malerschule. Aber er hat bald selbst nichts gehabt und sogar später seine Tochter Jadwiga aus Not und Durst verkaufen müssen, und so bin ich ein Anstreicher geblieben. Ja, der Mensch denkt und ... Teufel! der Alte ist fort und ich lüge da nur mich selber laut an wie ein Narr. Der Jud' zählt gewiß wieder seine Millionen ...«
Aber Janko irrt. Moses Freudenthal zählt in
So sitzt er lange in der Dämmerung. Dann erhebt er sich und richtet den Blick nach oben, nicht wie ein Flehender – nein! wie ein Mann, der sein gutes Recht fordert. »Mein Herr und Gott!« ruft er, »ich flehe nicht, daß sie wiederkomme, denn durch meine Knechte ließe ich sie von meiner Schwelle jagen; ich flehe nicht, daß sie wiederkomme, denn durch meine Knechte ließe ich sie von meiner Schwelle jagen; ich flehe nicht, daß sie glücklich werde, denn sie hat zu viel gesündigt an Dir und mir; ich flehe nicht, daß sie elend werde, denn sie ist mein Fleisch und Blut; ich flehe nur, daß sie sterbe, damit ich meinem einzigen Kinde nicht fluchen muß, daß sie sterbe, mein Herr und Gott, sie oder ich! ...«
Und oben schließt der Bezirksrichter seine Erzählung: »Was aus der hübschen Kleinen geworden ist, weiß man nicht. Man denkt nicht mehr an sie; auch der Alte scheint die Geschichte vergessen zu haben.
Es ist Dämmerung geworden im Städtchen, aber Licht in dem Herzen seiner Bewohner. Das düstere winkelige Ghetto strahlt im Glanze von tausend Kerzen und tausend frohen Menschenangesichtern. Wie ein gewöhnliches, natürliches Ereignis und doch zugleich wie eine geheimnisvolle, wonnige Offenbarung ist der Sabbath eingezogen in die Herzen und in die Stuben, und hat alles Dunkel und alle Ärmlichkeit der Wochentage aus ihnen verscheucht. Heute ist jede Kammer erleuchtet und jeder Tisch gedeckt und jedes Herz selig. Der Thoralehrer hat des Hungers vergessen, der Wasserträger der harten Arbeit, der Dorfgeher des Hohnes und der Schläge, und der reiche Wucherer der Prozente. Heute sind Alle gleich und Alle gläubige, fröhliche, demütige Söhne eines Vaters. Das dürftige Talglicht im Thonleuchter und die Wachskerze im silbernen Kandelaber bescheinen dasselbe Bild. Die Töchter des Hauses und die kleinen Knaben sitzen still da und sehen der Mutter zu, die nach altem schönem Brauch ihren Segen über die Sabbathlichter spricht, der Vater langt vom Bücherbrett das mächtige Gebetbuch und giebt es seinem ältesten Knaben, daß er es ihm bis zum Thore der Synagoge nachtrage. Dann treten sie auf die Gasse; die Männer gehen mit den Männern, die Weiber mit den Weibern, wie es die strenge Sitte fordert. Sie sprechen nicht viel mit einander und das wenige ernst und ruhig.
Auch in dem großen weißen Hause gegenüber dem Kloster strahlen die Sabbathlichter. Aber eine fremde Hand hat sie entzündet und kein frommer Frauenmund spricht den Segen über sie. In der guten Stube prangt das feinste Linnen auf den Tischen und reicher schwerer Hausrat an den Wänden, doch kein frohes Kinderlachen klingt darin und kein liebes Wort. Nur die vielen Kerzen knistern leise im Verbrennen und das giebt einen traurigen Ton.
Aber der alte Mann, der nun im Festtagsgewand in die Stube tritt, ist der Einsamkeit und dieser Töne schon seit Jahren gewohnt, seit langen, ewig langen fünf Jahren. Früher freilich hat er oft um sich blicken und lauschen müssen, ob die liebe Stimme nicht wieder klinge. Denn ein solcher Abend war es ja, da sein Kind von ihm gegangen. Heute jedoch schreitet er rasch durch die Stube, nimmt das schwere, ledergebundene Buch vom Brette und verläßt eilig das Haus. Oder fürchtet er gerade heute die Geister der Erinnerung, die ihm aus allen Ecken und Enden der einsamen, lichtbestrahlten Stube aufsteigen müssen?!
Wenn dem so, dann ist es thöricht, ihnen entfliehen zu wollen, Moses Freudenthal! Sie heften sich an deine Fersen und sie umschwirren dein Haupt, magst du noch so rasch dahineilen durch die engen, dämmerigen Gäßchen. Sie klingen in deinen Ohren, magst du es auch versuchen, mit den Begegnenden zu plaudern, sie stehen
»Jubelt vor Gott! Brechet aus in Freude, in Jubelklang und Sang. Er richtet die Welt nach seinem Rechte, die Völker nach Gerechtigkeit!«
»Und den Einzelnen?« schreit es in dem unglücklichen Mann auf, »den Einzelnen – zermalmt er!« Seine Augen ruhen auf den Zeilen des Buches, seine Lippen flüstern die Worte des Gebetes, aber er betet nicht, er kann nicht beten! Wie ein Gespenst erwacht sein ganzes Leben und drängt sich vor sein Auge, wie ein Gespenst und doch in quälender Greifbarkeit und Lebendigkeit ...
»Wer nicht mehr beten kann,« hat ihm sein alter Vater oft gesagt, und er muß heute der Worte gedenken, »den soll man wegweisen von dem Angesichte des Ewigen.« Noch weiß er sich des Tages ganz genau zu entsinnen, da er es vernommen. Damals war er ein Knabe von dreizehn Jahren gewesen und hatte eben zum ersten Male die Betriemen anlegen dürfen, zum Zeichen, daß er in den Bund der Männer getreten. An jenem Tage war ihm das Leben aufgegangen, nicht weich und feenhaft, wie den Glücklichen dieser Erde, sondern hart und nüchtern, wie den anderen Söhnen seines Volkes. Wie alle die Anderen
Horch! Jubelnd, sehnend, herzergreifend beginnt nun der Vorbeter das uralte Sabbathlied: »Lecho daudi likras kalle.« Und im stürmischen Chor stimmen die Anderen ein: »Lecho daudi likras kalle« – komm', o Freund, der Braut entgegen, den Sabbath laßt uns fröhlich empfangen!
Seltsames Weben in der Seele eines Volkes! Auf die Gottheit und allein auf diese überträgt es alle Glut und alle Sinnlichkeit seines Herzens und seines Geistes. Demselben Volke, welches einst das Hohe Lied gedichtet, den ewigen Hymnus der Liebe, und die Geschichte der Ruth, die schönste Idylle der Weiblichkeit, demselben Volk ist in der tausendjährigen Nacht, Bedrückung und Ruhelosigkeit die Ehe ein Geschäft geworden, geschlossen, um Geld zu erwerben und um die Auserwählten Gottes nicht aussterben zu lassen. Und sie ahnen nicht einmal den entsetzlichen Frevel, der darin liegt.
Auch Moses Freudenthal nicht. Er hat sein Weib hoch gehalten alle Tage ihres Lebens, wie auch sie
Aber war er es wirklich?! Warum war dann seine Stirne so häufig umdüstert, warum weinte dann das Rosele, wenn es allein war, als wollte ihm das Herz brechen?! Auf dem Glücke dieser beiden Menschen, die sich erst allmählich in gegenseitige Achtung hineingewöhnt, lag ein schwerer Schatten: ihre Ehe blieb kinderlos. Und weil eine fremde Hand sie zusammengefügt, weil sie einander doch in tiefster Seele fremd gegenüberstanden, darum konnten sie es nicht verwinden und fanden in sich kein Gegengewicht gegen diesen Schmerz. Der stolze Mann trug sein Weh verschlossen in der Brust und sah fast unbewegt zu, wie sein Weib dahinwelkte. Wenn seine Leute von Trennung sprachen, dann schüttelte er das Haupt, aber sein Mund fand auch kein Wort der Liebe für die Unglückliche. So vergingen lange Jahre. Aber
»Lobet Gott den Allgelobten!« tönt die Stimme des Vorbeters in die Träume des Brütenden. Und die Gemeinde erwidert: »Gelobt sei Gott, unser Herr, der da schaffet den Tag und schaffet die Nacht, der da wälzet das Licht vor die Finsternis und die Finsternis vor das Licht, Er, der Allmächtige, der Beständige, der Gott der Heerscharen!«
»Gelobt sei Gott!« ... Mit welchen Gefühlen hatte Moses Freudenthal mit eingestimmt in diesen Ruf an jenem Sabbathabend vor zweiundzwanzig Jahren, an dem er zum ersten Mal als Vater das Haus Gottes betreten! Wie hatte sein Herz geblutet und gejauchzt, wie hatte er geweint vor Freude und Schmerz! Denn wohl war ihm ein Töchterlein geboren worden, aber sein Weib war gestorben an der späten, schweren Geburt. Ergeben und ohne Klage hatte sie die ungeheuren Schmerzen ertragen und selbst
»Es war eine schwache Stunde!« murmelt der Mann und erhebt sich mit den Anderen zu dem langen Gebete, das man stehend sprechen muß, »eine schwache, thörichte Stunde! Weh' mir, daß ich nachgegeben, und Fluch dem, der mich dazu verführt!«
O, wie du da frevelst, Moses Freudenthal! Wie dich das Unglück auch geläutert und dich dein eigen Herz erkennen gemacht, noch immer kannst du es nicht erfassen, daß es eine Sünde gewesen, als du deinem Kinde das Licht und die Welt verschließen gewollt,
Das aber war vor dreizehn Jahren gewesen, an einem milden, hellen Sommerabend. Auf den Häusern und Plätzen lag das Mondlicht und der Staub der Straße glänzte weit hinaus, wie mattes Silber. Moses Freudenthal saß auf der Steinbank vor seinem Hause und brütete vor sich hin. Es war ihm seltsam weich zu Mute; er mußte immer wieder, ohne daß er es wollte, seiner Jugend und seines verstorbenen Weibes gedenken. Ihm zur Seite saß sein neunjähriges Töchterchen und blickte mit weit geöffneten Augen hinaus in die Mondnacht. Da kam ein Mann die Gasse herauf und blieb vor den Beiden stehen. Moses erkannte ihn nicht sogleich, aber die kleine Esther sprang auf und jubelte: »Onkel Schlome! Das ist schön, daß du zu uns kommst!« Nun erkannte auch Moses den späten Gast und stand befremdet auf. Was wollte Schlome Grünstein bei ihm und woher kannte sein Kind den »Meschumed?« Er war sein Jugendgespiele und der Bruder seines Weibes, aber seit zwanzig Jahren und darüber hatte Moses kein Wort mit ihm gesprochen. Denn mit einem »Meschumed«, mit einem Abtrünnigen vom Glauben, darf der Fromme keine Gemeinschaft haben
Da war es ihm seltsam ergangen. Der Vater hatte den schüchternen und tiefsinnigen Knaben, der nur in seinen Büchern lebte und da allein Witz und Scharfsinn zeigte, zum Rabbi bestimmt. Schlome war damit zufrieden, studierte sich fast um seine Gesundheit und übertraf bald seine Lehrer. Denn in dem schwachen Knaben loderte eine verzehrende Sehnsucht nach Wissen und Erkenntnis. Diese Sehnsucht ward sein Verderben und der Fluch seines Lebens. Durch Geld und flehentliche Bitten bewog er den christlichen Schulmeister des Ortes, ihm heimlich, in späten Nachtstunden, das verbotene, verhaßte Hochdeutsch zu lehren und die »Christenweisheit«. Von der letzteren aber wußte der Schulmeister selbst nicht allzu viel und half sich damit, daß er seinem ungestümen Schüler, kaum daß dieser lesen konnte, alle Bücher aus der Klosterbibliothek zuschleppte, deren er nur immer habhaft wurde. So las der heranreifende Jüngling die seltsamsten und wirrsten Dinge bunt durcheinander und legte sie sich oft seltsam genug zurecht. Da kam ihm auch eines Tages ein Buch in die Hände, das ihn dem Wahnsinn nahe brachte. Die Form und der
Das war der Mann, der in jener Mondnacht Ihr?! O Schwager – denkt an meine Schwester!« Moses Freudenthal zuckte auf wie ein Wild, das ein Schuß ins Herz getroffen. Er wollte zürnend erwidern, er wollte den fremden Mahner wegweisen von der Schwelle. Aber er konnte es nicht. Er mußte sein Haupt beugen vor dem Blicke des verachteten, gemiedenen Mannes; er mußte nach langem Kampfe leise, tief aufatmend, sagen: »Es war nicht meine Schuld!« – »Nein,« sprach der Meschumed und seine Stimme klang wieder mild und ruhig, »nein, es war nicht Eure, es war Eures und meines Vaters Schuld. Aber was Ihr an Eurem Kinde thut, das lastet auf Euch, nur auf Euch!« Und als der erschütterte Mann nichts zu erwidern vermochte, fuhr er fort: »Verhärtet nicht Euer Herz, auf daß Ihr nicht frevelt. Denkt an das Wort, das geschrieben steht: ›Gebet zu trinken Denen, die es dürstet!‹ Schwager, darf ich Eurem dürstenden Kinde das Licht und das Leben zeigen?!« Auch darauf hatte dieser nichts zu erwidern vermocht, aber am nächsten Tage ging die seltsame, fast unglaubliche Kunde durch die Gasse, Moses Freudenthal habe sich mit Schlome, dem Meschumed, versöhnt und ihm sogar sein einziges Kind anvertraut.
Da fühlte er seine Schulter berührt und wandte sich um und wich dann entsetzt zurück, als hätte er ein Gespenst erblickt. Seine Brust keuchte, seine Augen glühten, seine Hand ballte sich zur Faust. Vor ihm stand der Mann, dem er geflucht, ein kranker, greiser, gebrochener Mann – Schlome, der »Meschumed«.
»Ich muß Euch sprechen!« sagte er zu Moses, »ich habe einen Brief ...«
Aber dieser zuckte wild auf in Zorn und Schmerz: »Schweigt, Elender! Ich will nichts hören! ...«
Der Meschumed trat näher heran und wiederholte: »Ich muß Euch sprechen. Beschimpft mich, aber hört mich. Sie ist ...«
Aber weiter kam er nicht. Wie ein gehetztes Wild eilte Moses hinweg, durch die engen Gassen und über den Marktplatz, bis er vor seinem Hause stand. Halb ohnmächtig sank er auf die Steinbank am Thore. Hier harrte er, bis sein Atem ruhiger ging, bis seine Pulse minder heftig schlugen. Da war's ihm, als würde irgendwo über ihm sein Name genannt. Im ersten Stockwerk waren die Fenster erleuchtet und weit geöffnet; lautes Lachen klang herab. Die Frau Bezirksrichter hatte heute ihren Empfangsabend. Und nun hörte er's noch einmal, ganz vernehmlich: sein Name, dann eine stürmische Lachsalve. Aber der alte Mann achtete nicht darauf, er ging in seine Stube und schob Speise und Trank, die ihm die alte Dienerin vorsetzte, von sich. »Sie ist tot,« klang es unablässig in seinen Ohren und in seinem Herzen, »gewiß – sie ist tot!« So saß er voll wilder, dunkler, streitender Gedanken in der einsamen, lichterfüllten Stube. Es war sehr still um ihn; nur die vielen Kerzen knisterten leise im Verbrennen und das gab einen traurigen Ton ...
*
Die Frau Bezirksrichter hatte heute ihren Empfangsabend. Im Nebenzimmer spielten die Herren Whist und Tarock, vielleicht auch ein kleines, harmloses Hazardspielchen. Im Salon saßen die Damen um
Und sie erzählte: »Also, Sie wissen, es handelt sich um die Esterka, die Tochter des Alten. Als wir hierher zogen, war sie zehn Jahre alt, hübsch groß für dies Alter, mit schwarzen Haaren und großen blauen Augen. Man bekam sie wenig zu sehen, zu hören war sie fast gar nicht; sie saß den ganzen langen Tag und oft bis in die Nacht hinein über den Büchern. Meine Malvina war beiläufig im gleichen Alter und lud sie
Das war so im Sommer vor neun Jahren. Und im Herbste, an einem Sabbath Nachmittag kommt die Esther zu meiner Tochter und bittet und weint und fleht, man möge ihr ein deutsches Buch leihen, sonst müsse sie sterben. Denn der Alte hatte ihr alle Bücher weggenommen und hielt sie außerdem so streng, daß sie sich auch unmöglich welche verschaffen konnte. Aber den Umgang mit uns gestattete er ihr. Das war ihm natürlich eine Ehre und er wußte auch, daß ich eine Frau von Grundsätzen bin. Also wie gesagt, die Kleine fleht und weint und klagt so herzbeweglich, daß ich gerührt werde. Und so leihe ich ihr denn, was wir so an deutschen Büchern zufällig im Hause haben: Heines Reisebilder, Klopstocks Messiade, Kaiser Joseph
Die Damen stimmen eifrig bei. Nur die Frau des Güterdirektors nicht. Denn diese Frau ist sehr dick, und geistreich ist sie auch nicht, aber sie hat ein braves Herz. »Das war nicht recht!« spricht sie sehr laut und sehr ernst. »Sie haben da eine schwere Schuld auf sich geladen!«
Die Frau Bezirksrichter blickt sie erstaunt an. Wäre sie nicht eine höfliche Frau, eine Frau von Welt und die Hausfrau dazu, sie würde spöttisch lächeln und mit den Achseln zucken. So aber begnügt sie sich, entschuldigend zu sagen: »Mon Dieu! es handelt sich ja nur um eine Jüdin!«
»Nur eine Jüdin!« wiederholt der Chorus der Andern laut und leise. Auch wird viel gekichert.
»Spotten Sie nur,« meint die Hausfrau eifrig. »Deshalb behaupte ich doch: es ist in den ungebildeten Jüdinnen sehr wenig moralisches Gefühl!«
»Ja!« ist die trockene Antwort, »besonders wenn man sie durch Paul de Kock bildet. Aber ich bitte, lassen Sie sich nicht stören, fahren Sie fort.«
Und die Frau Bezirksrichter fährt fort:
»Ja, wo bin ich nur geblieben?! Richtig! – Also im nächsten Frühjahr war sie mit meinem ganzen Kock fertig. Andere deutsche Bücher hatte ich auch nicht mehr. Da bat sie mich so lange, bis ich für sie in der Leihbibliothek in Tarnopol abonnierte. Ich that es nicht gerne, es machte viele Scherereien, aber sie bat so sehr, mein Gott, ich hätte ein Marmorherz
Das Wort des Alten ist wahr geworden; es hat sich wirklich Manches in dem einen Jahre geändert, besonders was die hübsche Esterka betrifft, aber in ganz anderem Sinne, als er es gemeint hatte. Sehen Sie, unser Doktor da hält mich für eine Judenfeindin, aber dennoch bin ich gerecht und sage: das Mädchen, obwohl innerlich verderbt, hatte sich bis dahin äußerlich sehr brav gehalten. Und doch war die Versuchung sehr groß gewesen. Im ganzen Kreise kannte man sie, im ganzen Kreise nannte man sie nur die ›schönste Jüdin.‹ Das Einkehrhaus und die Weinstube unten hatten damals mehr Gäste, als dem Besitzer lieb war. Wenn die jungen Edelleute zum Bezirksamt kamen, so hielten sie nicht einen, sondern drei Gerichtstage; die ledigen Beamten vom Gericht und Steueramt saßen in der Weinstube ihre Amtsstunden ab, und erst die Husarenoffiziere – nun, die hatten dort gar ihre beständige Garnison. Alle kümmerten sich um die Esther, aber sie um Keinen. Sie traf selten mit den Gästen zusammen, dafür sorgte der Vater. Begegnete sie ihnen zuweilen, so erwiderte sie höflich ihren Gruß. Aber all die plumpen und feinen Schmeicheleien prallten an ihr ab, als wäre sie taub, und wollte ihr Einer ungebührlich begegnen, so kam er kurios weg. Davon weiß der junge Baron Starsky ein Lied zu singen – Sie kennen ihn vielleicht
Aber seit ihrer Verlobung wurde das anders. Nicht etwa, als ob sie gegen alle freundlicher geworden wäre. Aber gegen Einen wurde sie es, mehr als notwendig. Dieser Eine war der Rittmeister Graf Géza Szapany von den Württemberg-Husaren. Er war kein gewöhnlicher Mann, dieser Rittmeister, wahrhaftig! Hoch, schlank, mit dunklen Haaren, interessanten, schwarzen Augen und einem allerliebsten Schnurrbärtchen. Ich schmeichle ihm nicht, unsere Freundin Hortensia wird es bestätigen, sie hat ihn auch gekannt ...«
Frau Hortensia, die Gattin des Bezirksadjunkten, eine üppige Blondine, wird blutrot und wirft ihrer »Freundin«, der Hausfrau, einen giftigen Blick zu. Dann sagt sie möglichst gleichgültig: »Ich erinnere mich, er war ein hübscher Mann.«
»Hübsch?« fragt die Erzählerin. »Schön war er, sehr schön. Und so interessant! Und das feine Benehmen! Ich sage Ihnen, der verstand sich auf die Frauen, er hatte freilich auch schon genug Erfahrung. Auch die schöne Esterka wußte er bald zu fangen. Er näherte sich ihr fast scheu; er machte ihr kein Kompliment, das wirkte gerade. Und im Übrigen war sie ja, wie gesagt, innerlich verderbt
Auch der Gesellschaft kommt es so vor. Die Damen kichern und die Herren lachen. Nur eine Dame kichert nicht: die brave, dicke, deutsche Frau in der Sophaecke. »Sie scheinen die Geschichte nicht so heiter zu finden?« fragt sie ihr Nachbar, der Arzt.
»Nein!« erwidert sie, »es ist ja im Grunde traurig, das arme Mädchen war ja nur ein Opfer!«
»Ja!« sagt der Arzt und seine Stimme vibriert, »sie war ein Opfer! Aber nicht ein Opfer des schönen Rittmeisters, auch nicht das unserer lieben Hausfrau da. Die Sache liegt tiefer, viel tiefer. Wie das Zwielicht unheimlicher ist als die Nacht, so ist die halbe Bildung verderblicher als die Unwissenheit. Die Unwissenheit und die Nacht halten das Auge umfangen und fesseln den Fuß an die Scholle; das Wissen und der Tag öffnen das Auge und lassen uns fröhlich vorwärts schreiten; das halbe Wissen aber und das Zwielicht nehmen uns halb die Binde vom Auge, und lassen uns ins Ungewisse schreiten und – straucheln! Armes Kind! vom reinen Quell hat man sie zurückgerissen, aber es dürstete sie und sie trank aus der Lache. Armes Kind! Sie ...«
Aber ein ziemlich deutliches Gähnen macht den Sprecher verstummen. Denn die dicke Frau ist eine brave Frau, aber geistreich ist sie nicht und unverständliche
»So wußte Graf Géza sie bald zu Allem zu bewegen. Und als er nach Marburg in die Garnison versetzt wurde, da folgte sie ihm auch dorthin. Als Moses an einem Freitag Abend – es war g'rad so wie heute – nach Hause kam, da fand er das Nest leer. Da war nun ein Gepolter unten, ein Schreien, Weinen und Suchen – es ist nicht mit Worten zu beschreiben. Mein Mann war unten; der Moses hat gerast wie ein wildes Tier; es sind fünf Jahre her, aber ich werde die Nacht nicht vergessen ...
Auch in den nächsten Tagen war es sehr unheimlich. Sie machten es gerade so, als ob die Esther gestorben wäre. Die Läden und die Weinstube wurden gesperrt, die Bilder im Hause schwarz verhangen, die Spiegel gegen die Wand gekehrt. In einer Ecke ihres Zimmers brannte durch sieben Tage und sieben Nächte ein kleines Licht, und eben so lange saß der Moses barfuß, mit zerrissenem Gewande, auf der Diele dieses Zimmers. Ich weiß nicht, ob es wahr ist, aber die Juden sollen sogar am Sonntag darauf die Totentruhe leer auf den Friedhof getragen und dort ein leeres Grab geschlossen haben. Am achten Tage aber stand Moses auf und ging ruhig seinen Geschäften nach. Ich bitte Sie – so ein Jud'! Er kam sogar am selben Tage zu uns, den Zins zu fordern; ich erkannte ihn kaum, er war während der Woche grau geworden. Er war ganz ruhig und gefaßt und jetzt scheint er seine Tochter ganz vergessen zu haben.
»Und hat man nie wieder etwas von der Esther gehört?« fragt die dicke Frau.
»Doch, einmal. Aber es ist ungewiß. Der kleine Lieutenant Szilagy – Sie kennen den läppischen Lügner! – der auf Urlaub in Ungarn war, erzählt, er habe den Grafen mit der Esther in einer Loge im Pester Nationaltheater gesehen. Aber der Kleine lügt immer. Und dann kann es auch ein anderes hübsches Mädchen gewesen sein«.
»Wissen Sie, meine Damen«, nimmt nun Frau Emilie, die gebildete Lembergerin, das Wort, »wissen Sie, an was mich die Geschichte erinnert hat?! An ein sehr lustiges Theaterstück, das ich einmal in Lemberg gesehen habe. Es ist aus dem Englischen, von einem gewissen ... o diese englischen Namen ...«
»Vielleicht Shakespeare?« hilft ihr der Arzt.
»Shakespeare,« wiederholt der Bezirksrichter, »das ist ein ziemlich bekannter Dichter.«
»Ja, ein recht hübsches Talent!« meint der Doktor, ernst wie ein Grab.
»Richtig, Shakespeare!« fährt Frau Emilie fort, »und das Stück heißt: ›Der Kaufmann von Venedig‹. Da kommt ein Jud' vor – er heißt Shylock – dem auch seine Tochter entführt wird und dem auch sein Geld lieber ist als sein Kind! Und da schlage ich nun vor, wir nennen den Freudenthal von heute ab nicht mehr bei seinem Namen, sondern« – die Sprecherin macht eine Kunstpause – den »Shylock von Barnow!«
»Ha! ha! ha! Der Shylock von Barnow!«
*
Am nächsten Morgen lachten sie nicht mehr. Sie lachten auch fürderhin nie mehr über den Shylock. Sie nicht und kein anderer Mensch.
Dieser Morgen, der Sabbathmorgen, hatte etwas Entsetzliches mit seinem fahlen Lichte beschienen. Es war ein nasser, nebeliger, unfreundlicher Morgen. Nach Mitternacht hatte der Wind, der sich erst leise, dann immer stärker erhoben, Wolken zusammengetrieben, schwere, schwarze Wolken, die den Mond verhüllten und sich herabsenkten auf das öde Gelände. Dann hatte der Wind geschwiegen, und die Wolken waren immer schwerer herabgesunken und hatten endlich als dichter, kalter Nebel die Ebene bedeckt und das düstere Städtchen.
In den kleinen Häusern schlief alles. Kein Schritt tönte in den engen Gassen. Nur die Hunde wachten in den Hofräumen und der Nachtwächter vor dem Rathause. Dieser würdige Beamte schlief gegen seine Gewohnheit nicht, weil ihn die Hunde nicht schlafen ließen. Diese bellten unaufhörlich. Zuerst die Hunde am Eingang des Städtchens, dann der riesige Hofhund der Dominikaner, endlich der schwarze »Britan« des Moses Freudenthal. Daraus schloß der erfahrene Mann, daß wahrscheinlich ein fremder Mensch durch die Gasse gehe, an dem Kloster vorüber und
Er täuschte sich nicht. Man hörte im Hause des Freudenthal das wütende Gebelle. Die alte Dienerin erwachte davon und erhob sich, um nachzusehen oder den Knecht zu wecken. Als sie an dem Zimmer des Herrn vorüberging, sah sie einen Lichtschein durch die Thürspalte fallen, und auf das Geräusch ihrer Schritte trat der alte Moses selbst heraus. Er war angekleidet; er hatte offenbar noch nicht die Ruhe gesucht, obwohl es gegen die zweite Morgenstunde ging. Auch sah er sehr angegriffen aus. »Geht wieder zur Ruhe,« sagte er der alten Frau, »ich will selbst nachsehen.«
In diesem Augenblick schlug der Hund noch einmal laut an, dann verwandelte sich das Gebell in freudiges Gewinsel. Man hörte, wie das mächtige Tier hin und her sprang und an der Thür kratzte. Es hatte den Ankömmling offenbar erkannt und suchte nun zu ihm zu kommen.
Der alte Mann war totenbleich. »Wer mag das sein?« murmelte er. Dann ging er schwankenden Schrittes auf den Hausflur. Die Dienerin wollte ihm folgen. »Zurück!« rief er ihr heftig zu. Eine Kerze nahm er nicht mit, es war ja Sabbath. So tastete er im Dunkel auf das Hausthor zu.
Die Dienerin blieb stehen und horchte. Sie hörte,
Dann ward Moses' Stimme hörbar; er sprach sehr laut und heftig. Wie ein Schelten klang es und dann wie eine feierliche Verwünschung oder Beschwörung. Aber den Sinn der Worte konnte die alte Frau nicht fassen ... Kein sterbliches Ohr hat die Worte vernommen, die Moses Freudenthal zu dem Wesen gesprochen, das in jener unheimlichen Nacht an seine Thüre gepocht.
Nach einer bangen Minute hörte die alte Frau den Thorflügel knarren, Moses kehrte zurück. Er kehrte allein zurück; auch der Hund war draußen geblieben. Dann war es einen Augenblick still, und darauf hörte die Dienerin einen schweren Fall. Sie ergriff eine Kerze – was kümmerte sie in ihrer Todesangst die fromme Satzung? – und eilte zum Thore. Da lag Moses Freudenthal, ohne Regung, bleich wie ein Toter. Als sie sein Haupt erhob, röchelte er leise auf.
Die alte Frau begann ein durchdringendes Jammergeschrei.
Die Dienerin jammerte, die Knechte standen ratlos umher, der Arzt mühte sich um den Kranken; so vergingen die Stunden bis zum Morgen. An das fremde Wesen vor dem Thore dachte Niemand.
Als der Tag graute, wurde heftig an das Thor geklopft. Der Nachtwächter stand draußen und mehrere Leute, die schon so früh zu Markte gekommen. Sie hatten eine Tote vor dem Thore gefunden, ein ärmlich gekleidetes, abgezehrtes, junges Weib. Der schwarze Britan lag neben der Leiche und winselte und leckte ihr die Hände. Wenn sich ihr Jemand nähern wollte, knurrte er drohend auf.
Der Bezirksarzt trat heraus und beugte sich über die Tote. Er legte noch prüfend die Hand auf ihr Herz; es schlug nicht mehr. Dann blickte er in das starre, bleiche Antlitz. Und er kannte dieses Antlitz. Tief erschüttert richtete er sich empor. Er befahl, daß man die Leiche ins Totenhaus trage. Dann ging er wieder zu dem Kranken, der ohne Besinnung dalag.
Am nächsten Tage begrub man die Esther Freudenthal. Man wußte nicht, welchen Glaubens sie gewesen, ob sie Jüdin geblieben, ob sie Christin geworden. Auch ihr Onkel Schlome, der in wahnsinnigem, fassungslosem
In ihren Kleidern fand man nur ein Päckchen Briefe. Sie hatten alle dieselbe Unterschrift: Géza. Der letzte, welcher den Poststempel eines kleinen ungarischen Städtchens trug, lautete: »Ich will Dir's ehrlich sagen: ich bin der Geschichte satt! Ich bin jetzt hier, bleibe hier und rate Dir nicht, mich aufzusuchen. Mein Wachtmeister, der Koloman, hat mir versprochen, sich Deiner anzunehmen. Du gefällst ihm. Gefällt er Dir nicht, so geh' heim.«
Sie war heimgegangen. –
Der alte Moses starb nicht an den Folgen jener Nacht. Er lebte noch lange; er überlebte seinen Schwager und viele glückliche, gesegnete Menschen. Ein düsterer, einsamer, unheimlicher Mensch, so wankte er dem Grabe zu. Als er starb, weinten nur die Klagefrauen, die dazu gemietet waren. Sein großes Vermögen vermachte er dem Wunderrabbi von Sadagóra, dem heftigsten Feinde des Lichts, dem eifrigsten Verfechter des alten, finstern Glaubens.
Das ist die Geschichte vom Moses Freudenthal, den sie den »Shylock von Barnow« nannten.