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Poetik.
Die Dichtkunst und ihre Technik. ──────
Vom Standpunkte der Neuzeit

von
Rudolph Gottschall.

[Abbildung]
Breslau,
Verlag von Eduard Trewendt.
1858.

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Vorwort. ──────


Wollte man vielseitigen Versicherungen glauben, so wäre eine Aera
des Materialismus hereingebrochen, in welcher die Poesie sich mit einer
vollkommen untergeordneten Rolle begnügen müßte. Nichts würde in
diesem Falle überflüssiger sein, als eine Poetik zu schreiben, da selbst diejenigen,
denen die dichterische Muse noch einige Theilnahme abzuschmeicheln
vermöchte, ihr Jnteresse nicht auf die Kenntniß jener Gesetze ausdehnen
würden, welche das dichterische Schaffen regeln. Doch nach
unserer Ueberzeugung ist die Lebenskraft der Poesie zu groß, als daß die
vorübergehende Ungunst der Zeit sie ersticken könnte. Jm Gegentheil,
hat eine neue Kulturepoche begonnen, so beginnt sie auch für die Poesie,
und es ist nöthiger als je, auch auf ästhetischem Gebiete das Bleibende
vom Vergänglichen zu sondern, damit die Dichtkunst nicht im Joche veralteter
Regeln seufze, sondern neue Bahnen einschlage, auf denen sie die
Lorbern der Zukunft erreichen kann. Sie hat dies zum Theil gethan,
aber ohne von einer wissenschaftlichen Aesthetik gewürdigt zu werden,
welche diesen neuen Aufschwung nur mit verdrossener Miene betrachtete.
Wenn überhaupt in Deutschland seit langer Zeit keine specielle technische
„Poetik“ erschienen ist, so fehlt es noch mehr an einem wissenschaftlichen
Werke, welches den neuen dichterischen Bestrebungen als Fahne dienen,
die Gleichstrebenden um sich versammeln könnte und, nach den ewigen
Regeln des Schönen, die Berechtigung derjenigen neuern Erscheinungen
nachzuweisen versuchte, die von einer vorurtheilsfreien Aesthetik verdammt
werden, weil sie den gewohnten Kreis der Dichtung mit freieren Bahnen
vertauschten.


Zu einem solchen Unternehmen dürften meine schwachen Kräfte gewiß |#f0010 : RIV|

nicht ausreichen, würden sie nicht dadurch verstärkt, daß ich aus der Mitte
der neueren Bestrebungen heraus, mit der gesammelten Kraft der Zeitgenossen,
mein Werk zu vollenden trachte, daß ich gleichsam die latente
Poetik,
welche in den Dichtungen der neuern Poeten schlummert, entbinde
und ihr einen wissenschaftlichen Ausdruck zu geben suche. Poesie
und Poetik hängen auf's Jnnigste zusammen. Der Philosoph mag die
Jdee des Schönen bestimmen; aber selbst ein Aristoteles hätte seinem
Werke kein konkretes Leben verleihen können, wenn nicht die erhabenen
Schöpfungen eines Homer und Sophokles seinem poetischen Kanon
vorausgegangen wären. Der größte Gesetzgeber auf dem Gebiete der
Dichtkunst bleibt ewig der dichterische Genius. Weil aber die Jdee des
Schönen, sobald sie in die Erscheinung untertaucht, mit jedem Jahrhundert
ihre Hülle wechselt: so ist Nichts gefährlicher, als der Götzendienst,
der mit diesen abgelegten Schlangenhäuten der Geschichte getrieben wird,
als diese Verwechslung des Ewigen und Vergänglichen, welche in der
That das zerbrechliche Fundament einer die neuern Erscheinungen verurtheilenden
Rhadamanthenweisheit bildet. Auch unser Jahrhundert
giebt der ewigen Schönheit eine neue Hülle; unsere Dichter haben die
großartigsten Jmpulse zur Fortentwicklung der Poesie im Geiste der Zeit
gegeben; aber die Mehrzahl unserer Aesthetiker hat diese Fortschritte nur
mit Achselzucken begrüßt, weil sie das ursprüngliche Wesen des Schönen
in dieser neuen Erscheinungsform nicht zu erkennen vermochten.


Von diesem Standpunkte aus angesehn, kann es mir unmöglich zum
Nachtheile gereichen, daß ich mich selbst produktiv auf den verschiedensten
Gebieten, in der Lyrik, Dramatik und Epik, versucht habe. Nur in der
Werkstatt des dichterischen Schaffens selbst belauscht man seine Geheimnisse,
und wie schon eine vollkommen unproduktive Kritik etwas Eunuchenhaftes
hat und ihre Lehren mit einer Fistelstimme vorträgt, der die vollen
Brusttöne fehlen, so ist dies in viel höherem Grade bei einer Poetik der
Fall, in welcher alle Feinheiten der dichterischen Technik zur Sprache |#f0011 : RV|

kommen müssen. Ganz abgesehn von Horaz, Vida und Pope ─ hat
unsere Aesthetik nicht durch unsere klassischen Dichter, durch Lessing,
Herder, Schiller, Goethe, Jean Paul,
die wesentlichste Fortbildung
erhalten? War es nicht der innige Zusammenhang mit der Produktion,
der sie selbst erst in neue Bahnen führte? Und haben unsere
neuen ästhetischen Systematiker viel mehr gethan, als jene genialen
Aperçus der Dichter in eine wissenschaftliche Form zu bringen und durch
logischen und metaphysischen Kitt niet- und nagelfest zu machen? Niemand
wird leugnen wollen, daß die Kritik ein wesentliches Moment des
dichterischen Schaffens ist! Welche Kritik muß der Dichter schon bei Erfindung
eines Plans ausüben, wieviel verwerfen, sichten, neuschaffen, welchen
Scharfsinn erfordert die konsequente Durchführung der Charaktere, die
logische Entwickelung der Handlung! Jedes fertige Werk steht gleichsam
auf einem Schutt von Planen, Motiven, Fragmenten, der in der Werkstatt
des Dichters zurückgeblieben. Der Dichter hat sich selbst hundertmal
kritisirt, ehe ihn sein Kunstrichter einmal beurtheilt. Und sollte,
bei aller Begeisterung, die ihn treibt, dem Poeten bei dem Einschlagen
neuer Richtungen, dem Schaffen neuer Formen das volle Bewußtsein
über seinen Weg und sein Ziel fehlen? Ein Dichter ist daher gewiß mehr
als der bloße Theoretiker befähigt, einen lebensvollen und nutzenbringenden
Kanon der Dichtkunst zu entwerfen.


Obgleich ich mich schon lange mit diesem Plan trug und auch den
Entwurf des Werkes schon ausgearbeitet hatte, so wartete ich doch das
Erscheinen des letzten Heftes der umfangreichen Vischer'schen „Aesthetik“
ab, welches die Dichkunst behandelt, um mich zu überzeugen, ob diese
Arbeit nicht die meinige überflüssig mache. Doch der Aesthetiker, der die
einzelnen Künste nur in den Bau seines ganzen Systems hineinarbeitet,
hat immer mehr ihre allgemeine Seite im Auge und kann sich nicht mit
dem erforderlichen Behagen in die Einzelnheiten der Technik versenken,
nicht die Physiognomie einzelner Werke und Dichter mit jener Lebendigkeit |#f0012 : RVI|

ausmalen, welche der abstrakten Regel erst Wärme und Frische giebt!
Je größer überhaupt die architektonische Kunst des Aesthetikers ist, je
mehr er sein Paragraphennetz wie eine logische Kette ineinanderschlingt
und jeden neuen Satz nur als Resultat der vorausgehenden Entwickelung
giebt: um so weniger wird sich der einzelne Theil selbstständig von
dem ganzen Organismus lostrennen lassen, um so weniger wird er
ohne Rückblicke, Hinweise auf Früheres, ja ohne vollständige Kenntniß
der im allgemeinen Theil enthaltenen Entwickelungen verständlich
sein. Dies ist in der That bei der Vischer'schen Aesthetik der Fall ─
die Lehre von „der Dichtkunst“ ist reich an jenen philosophischen
Abbreviaturen, deren Schlüssel nur das ganze Werk giebt. Hierzu
kommt, daß die Rücksichtnahme auf die neueste Literatur eine außerordentlich
geringe ist, und somit die Hauptzwecke meiner Poetik dort
keine Erledigung gefunden haben. Wie ich indeß der Aesthetik
Vischer's allgemeine Grundbestimmungen des Schönen und der Kunst
verdanke, welche ich zu adoptiren um so weniger Bedenken trug, als auch
die Wissenschaft des Geistes, wie die der Natur, positive Resultate aufweist,
auf denen sich weiter bauen läßt, wenn überhaupt von einer gemeinsamen
Arbeit der Geister die Rede sein soll: so verdanke ich noch zwei
neuern Werken eine Fülle von Anregungen, dem Werke des tief und feingebildeten
Rosenkranz:die Poesie und ihre Geschichte“ und dem
des geistvollen Carrière:das Wesen und die Formen der
Poesie,
“ indem das erstere für die sehr wichtige geschichtliche Auffassung
und Behandlung des Stoffes glänzende Gesichtspunkte aufstellt, das
zweite mit echt dichterischem Geiste die großen Kunstwerke aller Zeiten
interpretirt und vielen Axiomen der Poetik eine neue überzeugende Fassung
giebt. Doch auch diese beiden Werke konnten das meinige nicht
überflüssig machen, da ich nicht nur in vielen Punkten von ihnen abweiche,
sondern auch nur die konsequente Betonung des modernen Princips
für unsere Dichtkunst durch die ausführliche Detailbehandlung der Tech= |#f0013 : RVII|

nik, besonders der Lehre von den Bildern und Figuren und einzelnen
Versarten, und durch die eingehende Berücksichtigung der Poesie der
Gegenwart andere und neue Elemente in mein Werk aufgenommen.
Die Ansicht, die ich bereits als Literarhistoriker in meinem Werke „über
die deutsche Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts“ ausgesprochen,
daß es die Aufgabe der „neuern Poesie“ sei, den modernen Geist
aus der jungdeutschen Gährung, Zersplitterung und Formlosigkeit heraus
in Kunstwerke von fester schöner Form und echtem Adel zu retten, suche
ich hier für die einzelnen Formen der Dichtkunst zu beweisen, indem ich
dabei manche mit Unrecht vernachlässigte und nicht an und für sich, sondern
nur durch ihren früheren Jnhalt antiquirte Form, z. B. Ode,
Epistel, Satire u. a., wieder in Aufnahme zu bringen suche.


Es konnte mir nicht darauf ankommen, die allgemeinen Grundbestimmungen
der Aesthetik ausführlicher zu entwickeln. Gerade auf diesem
Gebiete haben Schelling, Solger, Hegel, Weisse, Vischer,
Rosenkranz, Kuno Fischer
u. A. in neuer Zeit Vortreffliches
geleistet. Jch konnte in faßlicher Darstellung davon nur soviel aufnehmen,
als erforderlich ist, um die Stellung der Poesie im Reiche des
Schönen und im Reiche der Künste verständlich zu machen. Jch wollte
die Ziele meiner „Poetik“ nicht verrücken; ich wollte mein Werk nur in
die Lücke einschieben, welche jene Aesthetiker offen gelassen, indem ich eine
einzelne Kunst in der Fülle ihres Details erschöpfend behandle. Freilich
müssen gerade hierbei die allgemeinen Principien der Aesthetik zur vollsten
Geltung kommen und ihre maaßgebende Kraft bewähren.


Wenn ich meine „Poetik“ eine „moderne“ nenne, so gebrauch' ich
dies Wort nur in jener Bedeutung, die ich bereits in meiner „Nationalliteratur“
erklärt. Jch verlange von der Poesie, daß sie aus dem Geiste
ihrer Zeit und ihres Volkes herausdichte, wie es die Poeten des Alterthums
und Mittelalters gethan; denn nur eine aus dem Leben der
Gegenwart herausgeborne Poesie darf auf eine Zukunft rechnen. So |#f0014 : RVIII|

selbstverständlich dies scheint, so sehr wird gerade in unserer Zeit und in
Deutschland dagegen gesündigt, indem eine Alles sich aneignende Gelehrsamkeit,
ein mit der Kultur aller Zeiten übersättigter Geschmack die
unmittelbare Lebenskraft der Poesie verloren haben und noch mehr den
Maaßstab für das, was im Leben der Gegenwart Wurzeln zu schlagen
vermag. Eine gewaltige Dichterkraft wird auch fremdartige Formen
ihrem Genius dienstbar machen und, wenn dieser Genius auf der Höhe
seines Jahrhunderts steht, die Nation mit wahrhaft neuen Schöpfungen
bereichern; doch wenn diese Formen nur äußerlich nachgeahmt werden,
wenn wir in den Nachempfindungen einer untergegangenen oder exotischen
Kultur aufgehn, in Ghaselen persisch und türkisch lieben, in Trimetern
alte Griechenfürsten auf den Kothurn peitschen, in Minneliedern und
Balladen altdeutsche Sprechweise aufwärmen und faustrechtliche Bravour
feiern: so wird unsere Literatur nur den babylonischen Thurmbau in
Scene setzen, eine allgemeine Sprachverwirrung hervorrufen und das
Jnteresse der Nation so nach allen Richtungen zersplittern, daß zuletzt eine
vollkommene Jndifferenz gegen alle Poesie die Folge sein muß. Denn
in der That, die erdrückende Masse einer den Markt überschwemmenden
Literatur, in welcher selbst das Hervorragende sich nur schwer Bahn zu
brechen vermag, wird ja gerade durch den erstaunlich thätigen Dilettantismus
erzeugt, der an die Nation die Zumuthung stellt, sich für alle seine
akademischen Studien zu interessiren, mag er seine Modelle aus China,
Egypten oder Lappland nehmen. Gerade nach dieser Seite hin wünschte
ich, daß meine „Poetik“ reformatorisch auftreten, daß sich Alle, welche
die moderne Poesie in meinem Sinne auffassen, wie ein starker Phalanx
um ihr Panier sammeln möchten. Jch wäre stolz darauf, nur die äußere
Veranlassung zu einem Zusammenhalt für Gleichstrebende gegeben zu
haben! Schon die Poetiken eines Gottsched und Breitinger wirkten
in dieser Weise. Es bedarf keiner Koterieen und keiner Schulen; es
bedarf nur einer Losung, welche die Heerlager sondert!

|#f0015 : RIX|


Weit entfernt, die Poesie des Alterthums zu verdammen oder zu ignoriren,
gehör' ich zu ihren wärmsten Verehrern, und diese Poetik mag Zeugniß
dafür ablegen, ob ich in ihren Geist eingedrungen. Nicht nur daß
die Wiedergeburt unserer Nationalliteratur unter den Auspicien der großen
Genien des Alterthums vollzogen worden ist ─ sie vollzieht sich noch
immer, noch jeden Augenblick mit dem Hinblick auf diese großen Muster;
ja sie wird ihren höchsten Aufschwung erst durch ihr vollkommenes Verständniß
nehmen. Antike und moderne Poesie sind sich so wenig entgegengesetzt,
daß die moderne Poesie jene nur in ihrem Wesen, statt in
ihren Aeußerlichkeiten nachzuahmen braucht, um ihr gänzlich ebenbürtig
zu werden. Das Wesen der antiken Poesie aber war ihr vollständiges
Durchdrungensein vom Geiste des Alterthums, ihr vollständiges
Aufgehn in der Kultur der damaligen Gegenwart ─ möge die moderne
Poesie sich ebenso vom Geiste ihrer Zeit durchdringen lassen, und sie ist
besser bei den Alten in die Schule gegangen, als wenn sie den lyrischen
Gedanken in Spondäen und Molossen erquetscht oder das Opfermesser
der antiken Tragödinnen mit feierlicher Würde schwingt und das Blut,
welches die Klytemnestren und Medeen vergossen, in ihrer dramatischen
Wanne auffängt. Jch habe daher die antike und moderne Poesie in diesem
Werke gleichmäßig berücksichtigt, Beispiele aus beiden nebeneinandergestellt;
ich habe der modernen Poesie gleichzeitig das ehrenvolle Piedestal
der antiken geben und die antike dem Verständniß der Gegenwart näherbringen
wollen, indem ich nicht die himmelweite Kluft statuirte, welche
die Gelehrsamkeit zwischen den alten Klassikern und den Dichtern der
Gegenwart aufreißt.


Zwei Punkte mußten bei Abfassung des Werks mein Bedenken erregen:
zunächst, wieweit eine Poetik das Literarhistorische berücksichtigen, und
dann, wieweit sie die Mittheilung von Musterdichtungen, die Beispielsammlung,
ausdehnen dürfe? Was das Erste betrifft, so kann eine Poetik
unmöglich eine Geschichte der Poesie geben, ohne ihre abgesteckten Grenzen |#f0016 : RX|

bei weitem zu überschreiten; aber ebensowenig ist eine durchgreifende
Darstellung der einzelnen Dichtgattungen möglich ohne eine Charakteristik
der hervorragenden Dichter, die sich in ihnen ausgezeichnet! Erst
das lebensvoll erläuterte Dichtwerk selbst macht den Begriff der Gattung
klar; den historischen Entwickelungsgang nachzuweisen, ist oft wesentlicher,
als in der Luft schwebende Begriffsbestimmungen festzuhalten. Auch
würde die Kenntniß der Poesie und ihrer Gattungen eine mangelhafte
bleiben, wenn die Namen ihrer Hauptvertreter auf jedem Gebiete nicht
genannt würden. So kam es vorzüglich auf ein richtiges Maaßhalten
an und darauf, alles literarhistorische Detail abzuweisen und nur den
Grundcharakter der Dichter und Dichtungen zu entwickeln. Daß ich
dabei vorzugsweise die Neuzeit berücksichtigt, liegt im Plan meines Werkes;
und in der That, was könnte eine Poetik nützen, welche die Dichter,
die der Nation am nächsten stehn und sich in Aller Händen befinden,
nicht erläutert, sondern ignorirt, sodaß die bekanntesten Werke nicht einmal
in die alten Rubriken passen wollen? Jn Bezug auf den zweiten
Punkt war ich fest entschlossen, meine Poetik nicht nach Gottsched's
Beispiel in eine Anthologie zu verwandeln. An Blumenlesen fehlt es in
neuer Zeit nicht ─ und über das Lyrische kann überhaupt keine Beispielsammlung
hinausgehn. Proben aus epischen und dramatischen Dichtungen
können nie das Wesen des Epos und Drama erläutern. Auch
war es nicht meine Absicht, in dieser bequemen Weise um die Gunst des
Publikums zu buhlen. Solche mit sparsamem kritischem Text durchschossene
Anthologieen können auf den Namen einer Poetik keinen Anspruch
machen. Und wie beschränkt ist bei diesen ausgedehnten Mittheilungen
doch der Dichterkreis, den sie vertreten! Wie wenig wird durch solche
äußerliche Zusammenstellung, wo oben die dürftige Regel und drunter
ohne weitere Vermittelung die in aller Ausführlichkeit abgedruckten Beispiele
stehn, das kritische Verständniß der Dichter gefordert! Das Beispiel,
das die Regel erläutern soll, muß nicht in behaglicher Breite neben sie |#f0017 : RXI|

hingestellt, es muß in sie hineinverwebt werden, um sie zu beleben;
es muß die schlagende Pointe der Regel in's Licht setzen helfen. Deshalb
kann es nur kurz sein, nur die einzelne Stelle kann mitgetheilt
werden, wo es sich um die Erläuterung eines Versmaaßes, eines Bildes
u. dgl. handelt. Gilt es dagegen, die Gesetze der Komposition im Ganzen
anschaulich zu machen, so ist für die Poetik die Gabe geschmackvoller
Reproduktion erforderlich, welche sich nicht nur auf die gedrängte Mittheilung
der wesentlichen Züge beschränkt, sondern auch durch die Art und
Weise der Mittheilung zugleich die feinste Jnterpretation der Regel und
des Beispiels zu geben vermag. Nur durch solche dichterische Proben
und überdies durch den Hinweis auf Dichter und Dichtwerke, die dem
Autor immer gegenwärtig sein müssen, und die das Publikum zur Ergänzung
mangelhafter Kenntniß zur Hand nehmen und nachschlagen kann,
wird eine Poetik wahrhaft lebendig gemacht, während sie zugleich ihre
wissenschaftliche Würde behauptet.


Jedem Autor sollte bei Abfassung seiner Werke ein bestimmtes Publikum
vorschweben, für das er schreibt! Jch bin der Ansicht, daß das
Publikum, welches sich überhaupt für Poesie interessirt, einer Poetik seine
Theilnahme schenken wird, welche, selbst vom dichterischen Hauch durchdrungen,
das Gesetz des Schönen und seine lebendige Wirklichkeit in den
Werken der Dichtung mit dem empfänglichen Sinne der Leser zu vermitteln
sucht. Auch glaube ich, daß sich dies Werk durch übersichtliche Form
als Handbuch für Schulen und höhere Bildungsanstalten empfiehlt.
Die producirenden Kräfte der Gegenwart könnten gewiß manche Anregung,
wenn nicht aus meiner Behandlung, so doch aus der Fülle des
mitgetheilten Stoffes schöpfen, die Tageskritik aber feste Grundsätze, die
ihr zum großen Theil fehlen und durch sonderbare, oft mit unfehlbarer
Sicherheit hingestellte Behauptungen ersetzt werden. Ja wie sehr bedaure
ich, daß meine Kräfte zu schwach sind, um der deutschen Kritik jenen einheitlichen
Halt
zu geben, dessen sie bedarf, damit unsere Nationalliteratur |#f0018 : RXII|

sich wieder aus einem Mittelpunkte heraus mit voller Kraft
entwickele, und die Nation mit Energie in die Kreise ihrer großen Talente
gebannt werde! Jetzt herrscht eine grenzenlose Verwirrung der kritischen
Principien, ganz abgesehn vom Lob der Kameraderie und den verschiedenen
Aeußerungen der Parteiwuth; große Talente werden durch kleinlich
mäkelnde Beurtheilung auf das Niveau der Mittelmäßigkeit herabgedrückt,
der Glauben an die dichterische Kraft der Gegenwart durch die
grundlosesten Behauptungen erschüttert. Kein kritisches Organ hat einen
unbedingt konangebenden Einfluß; keins nimmt auf das andere Rücksicht;
keine Association der Kräfte ersetzt an Macht, was dem Einzelnen fehlt!
Und doch kann auch kein Einzelner eine Poetik schaffen, welche als gesetzgebender
codex auch nur für eine Majorität anerkannte Gültigkeit hätte!
Wie weit bin ich von solcher Anmaßung entfernt! Nur ein solches Werk
anzubahnen, ist mein Bestreben, indem ich die dichterische Arbeit des
Zeitgeistes selbst zu seiner Grundlage mache und als ihr Jnterpret auftrete,
statt eine willkürliche Diktatur nach selbsterfundenen Regeln auszuüben.
Und nur wenn die Poesie der Gegenwart anerkennt, daß ich für
ihre Bestrebungen und Leistungen die richtige Formel gefunden: dann ist
meinem Werk ein gewisser Halt verliehn und eine weiter zeugende Lebenskraft;
dann wird es sein Scherflein dazu beitragen, daß die blinde Willkür
kritischer Diktatoren nicht mehr begründeten Ruhm verdunkeln und
das Publikum irreführen kann, daß die Phrase als Phrase gebrandmarkt
wird, die Dichtkunst auf sicheren Bahnen nach festen Zielen ringt und die
Nation erkennen lernt, was sie an ihren Dichtern hat!


So möge dies Werk denn hingehn, und wenn es nur die Theilnahme
der Leser für die Poesie, besonders für die moderne erweckt und wachhält,
so ist es nicht umsonst geschrieben worden, mögen auch alle höheren Ziele,
die mir lockend vor der Seele schwebten, an der Unzulänglichkeit meiner
Kraft gescheitert sein!


Rudolph Gottschall.

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Jnhalt. ──────

Seite
Einleitung.
Geschichte der Poetik 1
Erste Abtheilung.
Begriff und Wesen der Dichtkunst.
Erstes Hauptstück.
Die Poesie im System der Künste.
Erster Abschnitt. Das Schöne und die Kunst 21
Zweiter Abschnitt. Die Dichtkunst 29
Dritter Abschnitt. Die Dichtkunst und die Malerei 36
Vierter Abschnitt. Die Dichtkunst und die Musik 48
Fünfter Abschnitt. Die Poesie und die Prosa 57
Zweites Hauptstück.
Der Geist der Dichtkunst.
Erster Abschnitt. Die dichterische Stoffwelt 68
Zweiter Abschnitt. Die productive Phantasie 85
Dritter Abschnitt. Jdealismus und Realismus 98
Vierter Abschnitt. Der Dichter und der Zeitgeist 103
Fünfter Abschnitt. Das dichterische Kunstwerk 109
|#f0020 : RXIV|

Seite
Drittes Hauptstück.
Die Technik der Dichtkunst.
Erster Abschnitt. Das dichterische Wort 128
Zweiter Abschnitt. Bilder und Figuren 148
A. Bilder. 150
1. Die Vergleichung 150
2. Die Metapher 155
3. Die Personifikation 162
4. Die Hyperbel 168
5. Die Metonymie 172
B. Figuren 174
Dritter Abschnitt. Ueber den Gebrauch des bildlichen Ausdruckes 184
Vierter Abschnitt. Vers und Reim 198
Fünfter Abschnitt. Die vorzüglichsten Versmaaße 209
1. Das trochäische Versmaaß 209
a. Die trochäische Dipodie 210
b. Dreifüßige Trochäen 210
c. Vierfüßige Trochäen 211
d. Fünffüßige Trochäen 213
e. Sechs- und siebenfüßige Trochäen 214
f. Der trochäische Tetrameter 214
2. Das jambische Versmaaß 214
a. Die jambische Dipodie 216
b. Der drei- und vierfüßige Jambus 216
c. Der fünffüßige Jambus 218
α. Das Sonett 220
β. Die Stanzen, die ottave rime 222
γ. Die Terzine 224
d. Der sechsfüßige Jambus 225
α. Der Trimeter 225
β. Der Alexandriner 226
e. Der achtfüßige Jambus. (Tetrameter.) 227
3. Das daktylische Versmaaß 228
α. Zwei- und mehrfüßige Daktylen 228
β. Der Hexameter 229
γ. Der Pentameter 231
4. Das anapästische Versmaaß 232
a. Die anapästische Dipodie 232
|#f0021 : RXV|

Seite
b. Der vierfüßige Anapästus 232
c. Der achtfüßige Anapästus (Tetrameter). 233
Sechster Abschnitt. Altdeutsche, antike, orientalische Strophen 234
1. Die Nibelungenstrophe 234
2. Antike Strophen 236
a. Die alcäische Strophe 238
b. Die sapphische Strophe 239
c. Die asklepiadäischen Verse 240
d. Die großen Odenstrophen 241
3. Orientalische Versarten 243
a. Die Gaselen 243
b. Die Makâmen 244
Zweite Abtheilung.
Die Formen der Dichtkunst.
Eintheilung 247
Erstes Hauptstück.
Die Lyrik.
Erster Abschnitt. Wesen der Lyrik 248
Eintheilung der Lyrik 271
Zweiter Abschnitt. Die Lyrik der Empfindung: Das Lied 272
1. Das Volkslied und Kunstlied 281
2. Die Ballade 285
3. Das erhabene und komische Lied 288
Dritter Abschnitt. Die Lyrik der Begeisterung: Die Ode 289
1. Die Hymne 295
2. Die eigentliche Ode 298
3. Die Dithyrambe 300
Vierter Abschnitt. Die Lyrik der Reflexion: Die Elegie 302
1. Die klassische Elegie 315
2. Romanische und orientalische Formen 319
3. Die moderne Reflexionspoesie 322
Zweites Hauptstück.
Die epische Dichtung.
Erster Abschnitt. Wesen des Epos 327
Zweiter Abschnitt. Die Volksepopöe 344
|#f0022 : RXVI|

Seite
Dritter Abschnitt. Das Kunstepos 356
1. Das historische Epos 359
2. Das romantische Epos 364
3. Das religiöse Epos 367
4. Das komische Epos 369
Vierter Abschnitt. Die dichterische Erzählung 371
1. Die strengepische Erzählung 372
2. Die didaktisch=epische Erzählung 374
a. Die Fabel 374
b. Die Parabel 375
3. Die lyrisch=epische Erzählung 376
Fünfter Abschnitt. Der Roman und die Novelle 378
1. Der historische Roman 387
2. Der Zeitroman 390
3. Das Märchen und die Novelle 394
Sechster Abschnitt. Das didaktische Gedicht 397
1. Das Epigramm 398
2. Das Lehrgedicht 400
3. Die Satire 402
4. Die Epistel 403
Drittes Hauptstück.
Die dramatische Dichtung.
Erster Abschnitt. Wesen und Begriff des Drama 405
Zweiter Abschnitt. Die Technik des Drama 420
Dritter Abschnitt. Die Tragödie 434
Vierter Abschnitt. Das Lustspiel, das Schauspiel und die Posse 455
1. Das idealistische Lustspiel 459
2. Das realistische Lustspiel 464
a. Das Jntriguenlustspiel 466
b. Das Charakterlustspiel 468
3. Das historische Lustspiel 471
|#f0023 : E1|

Einleitung.

Geschichte der Poetik. ──────


Die ersten Dichter folgten in naiver Weise den Eingebungen der
Begeisterung; das kritische Bewußtsein, das bei jeder freien Schöpfung
vorhanden, war noch unzertrennlich mit der Jnspiration verknüpft. Dem
Vorbild des Genius folgten die minder begabten Nachahmer, welche mit
diesem Vorbilde zugleich die in Fleisch und Blut verwandelte ästhetische
Regel überkamen.


Am wenigsten war die orientalische Poesie, welche, wie jenes Riesenbild
des Sohns der Morgenröthe unter den egyptischen Mimosen bei
den Berührungen des ersten Sonnenstrahls, hymnenartig bei den
Berührungen des Göttlichen ertönte, welche es in ihren Schöpfungen
kaum zu organischer Gliederung brachte, dazu geeignet, ein klares
Bewußtsein in Bezug auf die Gesetze des Schönen wach zu rufen. Erst
als in Hellas die Kunst ihre klassische Blüthe erreicht, ja schon wieder
hinter sich hatte, trat die Philosophie auf, um uns über das Wesen des
Schönen und die Grundgesetze der einzelnen Dichtgattungen zu belehren.


Eigenthümlich ist das Verhalten der beiden größten griechischen Denker
zur Poesie. Der dichterische Plato wollte die Dichter aus seiner
vollkommenen Republik verbannen, weil sie lügen und verkehrte Vorstellungen
verbreiten; der nüchterne, streng logische Aristoteles erwies
der Poesie die Ehre, sie in einem Werke von drei Büchern, von denen
uns leider! nur eins im Auszuge erhalten ist, einer wissenschaftlichen
Untersuchung zu unterziehn. Dieser Widerspruch erklärt sich nur daraus,
daß die ganze Platonische Weltanschauung und besonders seine Politik
mit Poesie durchdrungen und gesättigt war und daher für die Poesie keine
besondere Stätte übrig blieb. Gleichwohl hat Plato über das Wesen
des Schönen die tiefsten Ahnungen gehabt, sowie Aristoteles die Grundsätze |#f0024 : 2|

der einzelnen Dichtgattungen mit einer noch für den heutigen Tag
kanonischen Richtigkeit auseinandersetzte. Mit Plato's genialen Anschauungen
beginnt die Aesthetik, mit den scharfen Begriffsbestimmungen
des Aristoteles die Poetik. Unter der Platane, die über den
herrlichen Sprechern des „Phädros“ rauschte, ist die Bedeutung des
Schönen zuerst in ganzer Tiefe ausgesprochen worden. Die ewigen
Jdeeen, die Urbilder der Dinge, hat der Geist schon gesehn, eh' er in dies
sterbliche Leben gebannt wurde ─ in der gegenwärtigen Welt schaut er
Gegenstände, die ihn an jene vollkommenen Urbilder erinnern, und diese
nennt er schön. Das Schöne ist also nach Plato die Erscheinung einer
ewigen Jdee. Jm „größeren Hippias“ hat Plato diese geniale
Anschauung in der gewohnten Weise seiner Dialektik näher zu begründen
versucht. Er führt die Schönheit der einzelnen Dinge auf die Jdee der
Schönheit zurück; er sondert unser Verhältniß zum Schönen von den
Verhältnissen zum Nützlichen und Angenehmen; er schafft gleichsam
dem Schönen einen reinen Aether für seine Bewegung und unsern
Genuß. Jn der „Republik,“ wie im „Gastmahl“ spricht er von der
Begeisterung der Dichter, welche ja in ihrer Form seiner eigenen verwandt
war. Das Hineinschauen des Ewigen in die Erscheinung ist der
Punkt, wo sich Dichter und Denker begegnen. Der „Enthusiasmus“
Plato's ist die zeugende Kraft des Poeten und gleichzeitig der elektrische
Funke, der durch die Kette der empfangenden Gemüther hindurchsprüht.
Die Poetik des Stagiriten dagegen, soweit sie uns überliefert ist, geht
wenig auf Untersuchungen über das Wesen des Schönen und den Quellpunkt
der dichterischen Begeisterung ein, sondern läßt nur hin und wieder,
bei der Prüfung der tragischen und epischen Dichtkunst, einige allgemeine
Winke von großer Tragweite fallen. Mit Recht wird Aristoteles von
Lessing der „Euklides“ der Poetik genannt, und sein Werk ein ebenso
unfehlbares, wie die Elemente des Mathematikers. Es war seine seltene
Fähigkeit, auf allen Gebieten die Begriffe zu bestimmen, die Gattungen zu
sondern. Alles stand scharf umrissen, klar abgegrenzt vor seinem Geiste;
jede Wissenschaft erhielt unter seinen Händen eine systematische Gliederung.
Jn seiner „Poetik“ hat er die Unterschiede zwischen der epischen
und dramatischen Poesie in mustergültiger Weise dargethan und in Bezug
auf die letztere in den Lehren von den drei Einheiten, von der Reini= |#f0025 : 3|

gung der Leidenschaften durch die Tragödie, von ihrer Verwickelung
und Auflösung
ein für allemal die Bahn gebrochen.
Daß seine Lehre zahlreichen Mißverständnissen ausgesetzt war, ist bekannt;
die französische Dramatik erstarrte durch ihre einseitige Auffassung, und
erst ein verwandter, scharf denkender und sondernder Geist, wie Lessing,
legte ihren Kern, befreit von den vergänglichen Schlacken, dem prüfenden
Auge dar. Daß Aristoteles die Kunst aus dem Triebe der Nachahmung
(μίμησις) gleich in den ersten Kapiteln seiner Poetik ableitet, hat nicht
nur die ästhetischen Verirrungen eines Batteux hervorgerufen, sondern
könnte auch dem modernen Realismus eine scheinbare Begründung geben.
Doch ist Aristoteles weit davon entfernt, unter dieser „Nachahmung“ ein
bloßes Abschreiben der Wirklichkeit zu verstehn. Sonst würde er weder
vom Dichter verlangen können, daß er im Trauerspiel bessere Menschen,
als seine Zeitgenossen, nachahmen solle *)─ eine Stelle, aus der sich
schon die Schiefheit des deutschen Ausdruckes „nachahmen“ hinlänglich
ergiebt ─ noch den physikalischen Poeten (φυσιόλογοι), welche blos Natur
schildern, allen dichterischen Werth absprechen.


Die Bedeutung dieser philosophischen Dioskuren Griechenlands ist
nun in Jahrhunderten nicht wieder erreicht worden. Die Neuplatoniker,
wie Plotin und Proklus, führten nur die platonischen Jdeeen weiter
aus und verwischten zum Theil ihr Gepräge, indem sie die Jdee des
Schönen in einen abstracten Begriff verwandelten; andere, wie Longin in
seiner bekannten Schrift „über das Erhabene“ und Quinctilian, hatten
nur rhetorische Zwecke, nur die Bildung des Redners vor Augen. Die
Poetik selbst verwandelte sich in eine Receptirkunst und behielt diese Gestalt
lange Jahrhunderte hindurch, indem sie bald in genialen Aperçu's, bald
in dürrem Formalismus aufging. Der geistvollste dieser Receptenschreiber
bleibt immer der weltmännische Quintus Flaccus Horatius in
seiner „ars poetica,“ in welcher er mit jenem liebenswürdigen dichterischen
Conversationstone, der ihn auszeichnet, die Pisonen über die
Dichtkunst unterrichtet. Ein Weltmann ist in der Regel ein schlechter
Systematiker ─ und so darf man bei Horaz keinen wissenschaftlichen

*)
Arist. Poet. κεφ. 2: ἤτοι βελτίονας \̓η καδ'ἡμᾶς, \̓η χείρονας, \̓η
καὶ τοιούτους ἀνάγκη μιμεῖσθαι, und am Ende: ἡ δε (τραγῳδία) βελτίους μιμείσθαι
βούλεται τῶννῦν.
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Zusammenhang suchen, selbst davon abgesehn, daß diese Poetik in eine
dichterische Form gekleidet war und der Satyren- und Epistelndichter in
ihr keineswegs den Ruhm seines leichtspielenden Witzes und seiner gewandten
und unterhaltenden Darstellungsgabe einbüßen wollte. Er faßt daher
seine Poetik im Style einer Gastronomie ab, indem er die leckerste Zubereitung
der Gerichte lehrt und dabei selbst nicht die schärfsten Gewürze
seines kaustischen Witzes schont. Ueber das Wesen des Schönen und der
Dichtkunst, über die Unterschiede der Gattungen, über die Begeisterung des
Dichters erhalten wir keine Aufklärung, wohl aber einzelne treffliche Winke
über die dichterische Technik, die sich durch ihren eleganten Lapidarstyl
dem Gedächtniß einprägen. Seine Poetik erinnert selbst an jene poetische
Vignette, die er in ihren ersten Versen warnend ausmalt ─ der satyrische
Fischschwanz will zum schönen jungfräulichen Antlitz der Dichtkunst, die
er darstellt, nicht recht passen. Er springt von Bild zu Bild in einer
meist zufälligen Jdeeenassociation und schwingt mit besonderem Behagen
die Geißel des Sittenrichters über die literarischen Zustände Roms.
Doch ein feiner Kopf, der so reich war an glücklichen Einfällen, wie
Horaz, that auf jedem Gebiete „kühne Griffe,“ und so finden sich auch
in seiner Poetik Regeln und Bemerkungen, die nie veralten, sondern im
Gegentheil durch die Zeit an innerer Kraft und äußerer Tragweite
gewonnen haben. Die Poetik des Horaz fand zahlreiche Nachahmer
unter geistesverwandten Poeten oder solchen, die es zu sein glaubten.
Bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts hinein suchten einzelne Dichter
in Versen die Gesetze der Dichtkunst populair zu machen. Wir erwähnen
den Cremoneser Hieronymus Vida (geb. 1507), den Poeten
des Schachspiels, welcher in drei Büchern eine dichterische Gesetzgebung
in Hexametern veröffentlichte. Wir finden in dieser Poetik manche treffende
Bemerkung; aber das Muster des didaktischen Dichters war nicht geeignet,
Vertrauen zu seinen Lehren zu erwecken. Er ist ungebührlich weitschweifig
und überladen, dabei unglücklich in seinen Bildern, denen alle schlagende
Kraft fehlt. Hierzu kommt seine abgöttische Verehrung für Virgil, der
ihm hoch über den griechischen Dichtern steht, und aus dessen Werken allein
er die Velege für seine Regeln schöpft. Dadurch verfällt er auch in die
bedenkliche Einseitigkeit, alle seine Vorschriften fast nur auf die epische
Dichtung zu beziehn. Was er im ersten Buche über Erziehung des Poeten |#f0027 : 5|

mittheilt, gehört einer sehr trivialen Pädagogik an; im zweiten Gesang
behandelt er die dichterische Erfindung und Composition nach dem Vorbilde
der Aeneide; im dritten den dichterischen Ausdruck, wobei er über die
charakteristische Poesie des Verses, gleichsam über den Geist
des Metrums
einige glückliche Bemerkungen macht*). Dem Beispiele
eines Horaz und Vida folgten im siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderte
zwei verwandte Geister, der Franzose Boileau-Despréaux
(geb. 1636) und der Engländer Alexander Pope (geb. 1686). Beide,
fein, scharf und witzig, schrieben gleichsam eine Poetik in Epigrammen.
Die Werke Beider galten lange Zeit als bewunderter Kanon ästhetischer
Regeln. Boileau, in der Blüthezeit der klassischen französischen Literatur,
deren Hauptvertreter, wie Corneille, selbst über das Wesen der Dichtkunst
nachzudenken liebten, brachte ihren kritischen Niederschlag in Verse,
deren präcise, scharfgeschlossene Form eine kanonische Sicherheit athmete.
Er ging mehr als seine Vorgänger auf die einzelnen Arten der Dichtkunst
ein, die er fast durchweg in einer schlagenden Weise charakterisirte.
Wie musterhaft ist z. B. seine Darstellung des Sonetts**). Pope, ein
mit Horazischem Geiste gesättigter Poet, hat zwar in seinem Gedicht:
essay on criticism“ eigentlich die Kritiker kritisirt, aber dabei
über das Wesen der Poesie viel Treffendes gesagt, indem er ihre höhere
Berechtigung gegenüber einer einseitigen Kritik vertheidigt. Jn der That
verdiente dies ebenso elegante wie witzige Gedicht neu übersetzt zu werden,
*)
Vidae poeticorum lib. III. v. 365 u. flgde.
**)
Art poetique II., 82.
On dit à ce propos, qu' un jour ce Dieu bisare (Apolle)
Voulant pousser à bout tous les rimeurs Français
Inventa du Sonnet les rigoureuses loix;
Voulut qu' en deux quatrains de mesure pareille
La rime avec deux sons frappât huit fois l'oreille,
Et qu' ensuite, six vers, artistement rangés,
Fussent en deux tercets par le sens partagés.
Surtout de ce poëme il bannit la licence:
Lui-même en mesura le nombre et la cadence:
Defendit qu' un vers faible y put jamais entrer,
Ni qu' un mot déjà mis osât s'y rémontrer.
Du reste il l'enrichit d'une beauté suprême.
Un sonnet sans defauts vaut seul un long poëme.
|#f0028 : 6|

um unsern modernen deutschen Zuständen einen Spiegel vorzuhalten.
Wenn er im zweiten Theile seines Gedichtes die Fehler auseinandersetzt,
welche ein richtiges Urtheil verhindern, wenn er im dritten das Bild eines
anmaßenden Kritikers entwirft, der alle Bücher liest und alle Bücher, die
er liest, angreift:


All books he reads and all he reads assails ─


und ihm das Bild des echten Kritikers gegenüberstellt, der ohne Vorurtheil
und blinde Rechthaberei auftritt:


Not dully prepossessed nor blindly right,


dessen Seele frei von Hochmuth ist, der gerne lobt, wenn die Vernunft
auf seiner Seite steht*); wenn er die Kritiker tadelt, deren anmaßendem
Geiste alle freieren Schönheiten nur als Fehler erscheinen**), und
von einem vollkommenen Kritiker verlangt, daß er jedes Werk in demselben
Geiste
lese, in welchem es der Autor geschrieben hat, daß er
nicht da nach unbedeutenden Fehlern suche, wo Begeisterung das Gemüth
hinreißt***) ─ wer erkennt nicht die Tragweite dieser mit ebensovielem
Witz wie liebenswürdiger Anmuth des Ausdruckes aufgestellten Behauptungen
für unsere Gegenwart, welche gerade an kritischer Ueberhebung
erkrankt und zahlreiche Portraits zu jenen Popeschen Unterschriften zu
geben vermag?


Wenn die Dichter in ihrer Weise, das heißt fragmentarisch in anmuthigen
und pointenreichen Versen, in einem sich dem Gedächtniß einprägenden
Lapidarstyle die Regeln der Dichtkunst festzusetzen suchten: so konnten
die Gelehrten in einem Zeitalter der wiedererwachenden Wissenschaft nicht
hinter jenen Bestrebungen zurückbleiben, nicht ohne Beeinträchtigung der
akademischen Würde ein für die Kenntniß des Alterthums so wichtiges
Gebiet, wie das der Poetik, dem Belieben der Schöngeister überlassen.
Wenn diese die Poetik etwas leicht, flüchtig, unsystematisch behandelten:
so verfielen die Männer der Wissenschaft in das entgegengesetzte Extrem,
indem sie pedantisch die widerstrebende Poesie in einen starren Formalismus
bannten! Welch' ein Herbarium poetischer Blüthen ist die Poetik

*)
Essay on criticism 641: a soul exempt from pride,
And love to praise with reason on his side.
**)
Essay on criticism 170.
***)
Ibid. 233 u. flgde.
|#f0029 : 7|

Scaliger's*), das beste Werk dieser Richtung! Wie ertödtend wirkt
die Sucht, jede dichterische Wendung zu klassificiren, jeden Ausdruck in
das Schema einer rhetorischen oder poetischen Figur zu bringen! Jn der
erstickenden Fülle des gebotenen Stoffes bringt indeß Scaliger manches
kritisch Anregende, seine Beurtheilung römischer Dichter hält sich von der
Einseitigkeit eines Vida frei; er würdigt Horaz und Ovid nach Verdienst.
Was Fabricius, von Eib u. A. auf diesem Gebiete humanistischer
Kritik leisteten, ja selbst die Werke des berühmten Gerhard Voß**)
(geb. 1577), die sich von jener ertödtenden Systematik Scaliger's freihalten,
überschritten nicht das Gebiet einer interpretirenden Kritik, waren
nur den humanistischen Studien dienstbar und konnten die poetische Entwickelung
nicht fördern.


Gleichzeitig mit diesen gelehrten Regelsammlungen über die Dichtkunst
entwickelte die Volkspoesie der Meistersänger die erste, noch
schüchterne deutsche Poetik in den Tabulaturen. An Formalismus
konnten diese Regeln der Handwerkspoesie kühn mit den überfeinen
Distinctionen der Gelehrten wetteifern; nur standen sie in unmittelbarem
Zusammenhang mit der dichterischen Praxis und waren überdies wegen
ihrer Dürftigkeit leicht zu übersehn. Ebenso dürftig blieb die erste in
deutscher Sprache geschriebene Poetik des Altmeisters der schlesischen Dichter,
Martin Opitz, welche schon in ihrem halbdeutschen halblateinischen
Titel das Bestreben jener Schule charakterisirte, die humanistischen
Studien mit der deutschen Nationalpoesie zu vermitteln***). Das Vertrauen

*)
Die Poetik des Julius Caesar Scaliger (zuerst aufgelegt 1561) zerfällt
in sieben Bücher: historicus, hyle, idea, parasceve, criticus, hypercriticus,
epinomis
. Das erste Buch giebt eine Notizensammlung über das Theater,
die Spiele, die musikalischen Jnstrumente der Alten; das zweite behandelt vorzugsweise
die Metrik; das dritte den Jnhalt der Poesie und die Lehre von den Figuren;
das vierte den Styl, die Schreibweise; das fünfte giebt eine praktische Kritik,
Erläuterungen, die aus den Parallelstellen klassischer Dichter geschöpft sind; das sechste
eine literarische Kritik, die mit den neulateinischen Poeten beginnt und bis auf Horaz
und Ovid zurückgeht; das siebente einen fragmentarischen Anhang.
**)
Gerardi Joannis Vossii de artis poeticae natura ac constitutione
(1647), institutionum poeticarum libri tres (1647).
***)
Martini Opitzii von Boberfelt Prosodia germanica, Oder gantz new
Corrigirtes und verbessertes Buch von der Teutschen Poeterei: Frankf. 1634.
|#f0030 : 8|

des wackern Altmeisters auf die poetische Kraft der Muttersprache
und darauf, daß unser Land unter keiner „so rauhen und ungeschlachten
Luft“ liege, „daß es nicht ebendergleichen zur Poesie tüchtige ingenia
könne tragen,“ bildet die eigentliche Glanzseite des Büchleins, das die
Lehren von dichterischer Erfindung und Disposition, von der Zubereitung
und Zier der Worte, von den Reimen nur flüchtig streift und sich weder
durch reichhaltigen Jnhalt, noch durch geschickte Definitionen auszeichnet*).
Dennoch war damit für die deutsche Poetik die Bahn gebrochen ─
und ein Jahrhundert später gab der kritische Leipziger Dictator Johann
Christoph Gottsched
seinen „Versuch einer kritischen Dichtkunst
(1750) heraus, welcher, wie man auch über seine Bedeutung
denken mag, doch einen bedeutenden Fortschritt gegen die schüchterne
Poeterey des schlesischen Dichters bekundet. Gottsched hat sich mit seinem
kalten und klaren ostpreußischen Verstande unleugbare Verdienste um die
deutsche Poesie erworben, wenn ihm auch das Organ für die freieren
dichterischen Schönheiten fehlte und er zu sehr der oft farblosen Correctheit
der französischen Muster nachstrebte. Sein Kampf gegen den
Schwulst und die Uebertreibungen der zweiten Schlesischen Dichterschule,
selbst seine Verbannung des Hanswurst's von der deutschen Bühne,
welcher seine stereotypen Unfläthereien weder zur Zierde noch zum Heile
gereichen konnten, sind noch immer nicht nach Gebühr gewürdigt, weil die
nachstrebende jüngere Generation in ihrem siegreichen Kampfe gegen die
Steifheit der Gottsched'schen Poetik die Sympathieen der Gegenwart für
sich hat. Gerade diese Poetik ist wohl das beste Werk des Leipziger
Kritikers. Uebersichtlich und faßlich geordnet, ansprechend stylisirt, klar,
wenn auch oberflächlich in den Begriffsbestimmungen, überall Zeugniß
ablegend für die Belesenheit des Autors in der klassischen, französischen
und neuern deutschen Literatur, nimmt die Poetik Gottsched's eine
Stellung in der letzteren ein, welche in dieser Weise, dem Fortschritte der
*)
Man vergleiche z. B. die Definition der Tragödie, p. 36: „die Tragoedie ist an
der majestet dem Heroischen getichte gemesse ohne das sie selten leidet das man geringen
standespersonen und schlechte Sachen einführe: weil sie nur von Königlichem Willen,
Todtschlägen, verzweiffelungen, Kinder- und Vätermörden, Brande, Blutschanden,
Kriege und Aufruhr, Klagen, Heulen, Seufftzen und dergleichen handelt.“
|#f0031 : 9|

Zeit entsprechend, nicht wieder ausgefüllt worden ist. Was der Kritiker
über den Charakter und guten Geschmack eines Poeten, über poetische
Nachahmungen, über poetische Worte, Perioden, Figuren, über die poetische
Schreibart sagt, hat meistens seinen guten Grund, und nur dem
besondern Theil fehlt, bei einzelnen treffenden Bemerkungen, die tiefere
Einsicht in das Wesen der Dichtgattungen.


Gegenüber diesem, vorzugsweise auf die Reinheit des Geschmackes
hinarbeitenden Werke verfocht nur Breitinger'sKritische Dichtkunst
(2 Bde. 1740) eine phantasievollere Richtung, stellte die englischen
Muster den französischen gegenüber und gab den Anstoß zum Streit der
Schweizer und der Anhänger Gottsched's und damit zur fruchtbringenden
Fortentwickelung deutscher Poesie. Der ganzen bisherigen Poetik
fehlte es indeß an einem höheren Princip. Eine gründliche Reform auf
diesem Gebiete konnte daher erst stattfinden, als die Aesthetik selbst durch
die Fortschritte der Philosophie einen tiefern Jnhalt gewonnen, während
gleichzeitig die geniale Praxis großer Dichter neue Muster schuf. Die
seltene Vereinigung bedeutender Denker und Dichter, welche die Blüthe
unserer Nationalliteratur bezeichnet, mußte die Fundamente einer neuen
Aesthetik legen, deren Entwickelung wir, da wir keine Geschichte der
Aesthetik schreiben, nur in allgemeinen Umrissen andeuten können.


Nach einem Princip des Schönen hatten französische und englische
Philosophen und Kunstrichter gesucht. Batteux, verführt durch die
μιμησις des Aristoteles, glaubte es in der Nachahmung der schönen
Natur gefunden zu haben, eine flache und äußerliche Auffassung, welche
durch Ramler und Andere auch in Deutschland verbreitet wurde*).


Die englischen Sensualisten Shaftesbury, Hutcheson, Adam
Smith, Hogarth,
und vor Allen der geistreichste Edmund Burke,
faßten ebenfalls das Schöne zu äußerlich und sonderten das ästhetische
Gebiet nicht vom moralischen und politischen. Erst der Deutsche
Alexander Gottlieb Baumgarten (geb. 1714), ein Schüler Wolf's,
legte die Fundamente der Aesthetik als einer selbstständigen Wissenschaft**).

*)
Ramler übersetzte BatteuxCours de belles-lettres“ (4 Bde. 1753).
**)
De nonnullis ad poëma pertinentibus (1735); Aesthetica (2 Bde. 1750 bis
1758). Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (3 Bde. 1748─50), nach seinem
Ableben von Meier herausgegeben.
|#f0032 : 10|

Das Schöne besteht nach ihm darin, daß die Vollkommenheit einer
Sache in ihrer Erscheinung wahrgenommen wird. Doch gehört nach
der Wolf'schen Lehre die Wahrnehmung den niedern Seelenkräften
an, so daß das Schöne, das Genie in der Baumgarten'schen
Auffassung in eine allzuniedrige Sphäre herabgedrückt wird. Die
Nachfolger Baumgarten's, besonders Sulzer, suchten den Begriff des
Vollkommenen näher zu erörtern, doch kamen sie über die Platonische
Vermischung des Guten und Schönen nicht hinaus. Auch Johann
August Eberhard
(geb. 1739), welcher die Wirkung des Schönen
im leichten und gefälligen Spiele der Seelenkräfte suchte, vermochte nicht
der Aesthetik eine tiefere Grundlage zu geben; wohl aber hat er sie zuerst
in einer leichten, klaren, faßlichen Weise durchgearbeitet, alle Zweige der
Kunst im Einzelnen nicht ohne Sachkenntniß und in gefälliger Darstellung
behandelt und auch der „Poetik“ im vierten Bande seines
Handbuches der Aesthetik“ (1803─5) eine eingehende Besprechung
gewidmet. Dies nicht ohne französische Grazie geschriebene Werk enthält
treffende Einzelnheiten, welche auch für die Gegenwart nicht veraltet zu
nennen sind. Freilich darf man nicht vergessen, daß der Hallenser Aesthetiker
bereits unsere klassischen Meisterwerke als Musterbilder in's Auge
fassen konnte.


Die Gedankenwelten, welche Kant und Fichte geschaffen, mußten
auch für das Schöne eine Stätte bereiten. Kant nahm die Lehre vom
Schönen in seine „Kritik der Urtheilskraft“ auf: doch konnte er,
seinem ganzen Standpunkte nach, die schönen Gegenstände der Natur
und Kunst nur von Seiten des sie beurtheilenden Geistes auffassen und so
das selbstständige Wesen des Schönen nicht ergründen. Doch hat er das
ästhetische Urtheil selbst so scharf bestimmt, daß er durch diese Bestimmung
einen Fortschritt der Aesthetik möglich machte. Er leitete dies Urtheil
aus dem freien Spiele des Verstandes und der Einbildungskraft her.
Es ist interesselos, ohne Beziehung auf die Zwecke unseres Willens,
erkennt nur die innere Zweckmäßigkeit des Gegenstandes an; es ist von
allgemeiner Gültigkeit und innerer Nothwendigkeit. Der große sittliche
Revolutionair Fichte, dem die Welt nur eine Schranke für den rastlos
strebenden Geist war, der sie ewig zu überwinden und aus sich zu erzeugen
suchte, hatte dennoch einen für eine geniale ästhetische Auffassung fruchtbaren |#f0033 : 11|

Gesichtspunkt, den Solger auf der einen, die Romantiker auf
der andern Seite weiter entwickelten.


Jnzwischen war, in Beispiel und Lehre, unsere klassische Poetik
an's Licht getreten, wie wir wohl die Summe jener ästhetischen Einsichten
nennen dürfen, die in den Werken eines Lessing, Schiller, Goethe,
Herder, Jean Paul
enthalten sind und den großartigen Aufschwung
unserer Literatur sowohl bewirkten als begleiteten. Es war eine in allen
Zeiten seltene Erscheinung, daß unsere großen Dichter auch große Denker
waren, eine Erscheinung, die für die klassische Blüthenepoche unserer
Literatur bezeichnend ist. Kunst und Wissenschaft gingen Hand in Hand;
die Production war von einer nimmer schlummernden Kritik begleitet, und
die Siege, die der Genius auf dem Gebiete der Poesie erfocht, suchte er
selbst wissenschaftlich zu verwerthen und für die Aesthetik fruchtbringend
zu machen. Zu allen Zeiten zwar sind große Dichter auch wahrhaft
große Geister gewesen, und es würde auf unsere Epoche ein trauriges Licht
werfen, wenn die Poeten der Miniaturlyrik, die auch geistig das Format
ihrer Werke nicht überschreiten, ihre Tonangeber werden könnten; aber
niemals hat sich diese geistige Bedeutung so einstimmig auf das ästhetische
Gebiet geworfen und die Gesetze der Kunst und des Schönen zu entdecken
gesucht. Durch diese innige und untrennbare Verbindung der schaffenden
Kraft und sinnenden Einsicht wird aber andererseits der revolutionaire
Charakter unserer klassischen Epoche angezeigt, welche auf jedem Wege,
praktisch und theoretisch, die neue Bahn brechen wollte, ein Charakter, der
deutlich genug verräth, daß sie mehr der Beginn, als der Abschluß
einer neuen literarischen Aera ist. Diese klassische Poetik nun ist formlos;
sie ist in Abhandlungen, Briefen, Fragmenten, Maximen, Skizzen enthalten;
aber dennoch ergänzt sie sich und greift ineinander; denn der
Genius hat sie geschrieben und zwar der Genius, der sich nicht isolirte
auf irgend einem schöngeistigen Patmos, um ganz besondern Offenbarungen
zu lauschen, sondern der im bewußten und gewollten Zusammenhang
blieb mit seiner Zeit und den gleichstrebenden Geistern. Den kritischen
Theil dieser Poetik hat der scharfsinnige Lessing geschrieben. Es lag in
der eigenthümlichen Natur dieses seltenen Mannes, daß er, um zu wirken,
eines gegebenen Stoffes bedurfte, wie der Chemiker, welcher nur die
gegebenen Stoffe componiren und decomponiren kann, aber gerade in der |#f0034 : 12|

Analyse die schönsten Entdeckungen macht. Wie der chemische Proceß
seine eigene Wärme erzeugt: so der kritische Proceß bei Lessing. Wenn
er auch die Theile in der Hand behielt, fehlte ihm doch nie das geistige
Band. Ebenso bedurfte seine rüstige Natur der Polemik ─ Schlag auf
Schlag ─ da sprühten erst die Funken heraus! Sein „Laokoon,“ in
welchem er die Grenzen der Dichtkunst, der Plastik und Malerei aus einem
einzigen Beispiele zu entwickeln suchte; seine „Hamburger Dramaturgie,
welche oft an unbedeutenden Theaterstücken das Wesen der
dramatischen Dichtkunst darlegte, das richtige Verständniß des Aristoteles
durch die scharfsinnigsten Untersuchungen förderte und die deutsche Dichtung
von den Fesseln des französischen Geschmacks befreite, sind solche
Thaten einer schöpferischen Kritik, die gerade bei dem Aufräumen eines
Augiasstalles ihre herkulische Kraft am meisten bewährt. Wie Lessing
der schroffe Mann des Princips, der scharfen Sonderung und Begrenzung:
so ist Herder das nachempfindende Gemüth, mit ästhetischer
Feinfühligkeit begabt, um allen Zeiten und Nationen die Schätze des
Schönen abzugewinnen. Lessing geht negativ zu Werke; er erringt das
ästhetische Resultat, indem er das einzelne Kunstwerk opfert; Herder verfährt
positiv; er opfert sich selbst dem Kunstwerk, er fühlt und lebt sich in
dasselbe hinein, und über dieser nachdichtenden Hingebung schwebt der
eigenthümliche Duft der Schönheit. Wo Lessing Kritiker ist, bleibt
Herder Jnterpret, gleichsam ein Dichter aus zweiter Hand! Sein Hauptwerk
in diesem Sinne ist: der Geist der hebräischen Poesie, in
welchem er mit dichterischer Weihe und Schwung die Psalmensänger und
Propheten des alten Testamentes reproducirte und dadurch mehr zu
ihrem wahren Verständniß beitrug, als eine Menge höchst gelehrter Theologen,
welche gerade die wichtigste Auslegungsweise jener Offenbarungen,
die ästhetische, verschmähten. Jn den „Stimmen der Völker
zeigte Herder denselben ästhetischen Sinn, jenen feingeistigen Siderismus,
der die verborgenen Metalladern des Schönen aufzuspüren weiß.
Er bereicherte die „klassische Poetik“ mit einer herrlich interpretirten
Mustersammlung ─ wir brauchen blos noch an seinen „Cid“ zu erinnern,
um die Vollständigkeit seiner Anthologie, die er aus allen Zeiten
und Zonen zusammentrug, anschaulich zu machen.


Schiller und Goethe lassen sich hier nicht getrennt nennen! |#f0035 : 13|

Haben sie doch in ihrem „Briefwechsel“ die folgenreichsten Betrachtungen
über epische und dramatische Poesie zusammen niedergelegt
und zusammen in ihren „Xenien“ den kritischen Jmperatorenthron
errichtet, von dem sie den Föderalismus der deutschen Literatur in
den Staub schmetterten. Daß Schiller von der Jdee des Schönen
und Goethe von seiner Erscheinung ausging, war gerade der Grund,
daß sie in der Mitte des Weges sich begegnen mußten! Schiller schrieb
den allgemeineren Theil der „klassischen Poetik;“ er war ihr Metaphysiker.
Jn der That sind seine ästhetischen Verdienste groß genug,
um ihm in dieser Wissenschaft einen selbstständigen Platz zu sichern.
Er hob die Einseitigkeit des subjectiven Kant'schen Standpunktes auf
und machte zuerst die Jdee der Schönheit in ihrer freien Selbstständigkeit
geltend. Jn seinen Aufsätzen: „über die tragische Kunst,
über das Erhabene,“ „Anmuth und Würde“ entwickelt er
dieselben Jdeeen, die er mit dichterischer Prägnanz in seiner Lyrik ausspricht.
Hier strebt er mit einer platonischen Begeisterung nach der Vermählung
der Wahrheit und Schönheit, nach der Versöhnung von
Wissenschaft und Kunst; dort nennt er die Schönheit die Bürgerin
zweier Welten, deren einer sie durch Geburt, der andern durch Adoption
angehört, indem sie ihre Existenz in der sinnlichen Natur empfängt und
in der Vernunftwelt das Bürgerrecht erhält. Der beurtheilende Geschmack
aber soll diese Vermittelung zwischen Sinnlichkeit und Geist übernehmen,
Anschauungen zu Jdeeen adeln und die Sinnenwelt in ein
Reich der Freiheit verwandeln. Und wenn Schiller in seiner „ästhetischen
Erziehung des Menschengeschlechts
“ der Schönheit wieder
einen pädagogischen Zweck unterzuschieben scheint; so verschwindet dieser
Schein alsbald, indem gerade diese Abhandlung das Jdeal der Schönheit
als die Einheit der Realität mit der Form, als das Jdeal der
Menschheit selbst entwickelt. Von einzelnen Theilen der Poetik kamen
Schiller's Bestrebungen am meisten der Tragödie zugute, indem er sich
mit Vorliebe der Darstellung des Pathetischen und Erhabenen hingab.
Seine Unterscheidung zwischen „naiver“ und „sentimentaler“ Dichtungsweise
hat mehr einen literarhistorischen, als philosophischen Werth.
Goethe dagegen, der Naturalist, der von dem einzelnen Phänomen ausging,
beschäftigte sich mehr mit Kunstbetrachtung und zeigte hierbei |#f0036 : 14|

dasselbe intuitive Genie, das seiner Naturanschauung einen so bedeutenden
Werth gab. Jn seinen „Propyläen,“ in seinen „Schriften
über Kunst und Alterthum
“ hat er sich vorzugsweise über bildende
Kunst und Malerei, und zwar auch mehr über die äußerlichen Seiten
derselben ausgesprochen. Dagegen enthalten seine „Briefe,“ seine
„Maximen,“ seine später veröffentlichten Gespräche eine Fülle jener sinnigen
Reflexionen über die Poesie, wie sie aus einem mit ihren höchsten
Aufgaben und ihrer Technik gleich vertrauten Sinne ungezwungen hervorgehen,
ohne die charakteristische Vorliebe des Dichters für das Plastische
und Epische zu verleugnen. Goethe fügte dem Schatze der klassischen
Poetik die Maximen der Kunstbetrachtung und Offenbarungen
ihrer technischen Geheimnisse hinzu.


Noch fehlte der klassischen Poetik ein wesentlicher Abschnitt; der
Humor war von jenen großen Genien nicht in den Kreis ihrer Betrachtung
gezogen worden. Der reichbegabte Geist Jean Paul's war vor
Allen berufen, diesen Abschnitt zu ergänzen. Jn seiner „Vorschule der
Aesthetik,
“ in welcher über das Wesen der Dichtkunst, besonders über
den dichterischen Styl die geistreichsten und schlagendsten Reflexionen enthalten
sind, kamen auch zuerst der Humor, die Jronie, der Witz zu ihrem
vollen ästhetischen Recht. Vom Geiste der brittischen Humoristen
genährt, in Deutschland selbst Meister und Muster dieses Styles, verschmolz
Jean Paul Regel und Beispiel in seltenster Weise; er sprach
humoristisch über den Humor, witzig über den Witz; aber mit diesen
Blitzen seines Genius erhellte er das Wesen des Komischen in einer so
schlagenden Weise, daß die späteren Aesthetiker sich nur an seine Erklärungen
anschließen konnten. Zugleich sehen wir bei Jean Paul am deutlichsten
das Hervorgehen der klassischen Poetik aus einer praktischen
Nöthigung, ihren innigen Zusammenhang mit der Production der Dichter.
Auch Jean Paul fühlte das Bedürfniß, seine Schöpfungen, seine
Dichtweise zu rechtfertigen, weil für den Humor in Deutschland keine
ästhetische Richtschnur bestand. So trat er auf als Gesetzgeber für ein
Gebiet, das er thatsächlich in Besitz genommen, und dessen Besitz er in
ein gutes Recht verwandeln wollte. Jn der That macht unsere klassische
Epoche den Eindruck literarischer Anfänge, so sehr man auch vom
Gegentheil durchdrungen zu sein scheint; die Autoren gleichen jenen |#f0037 : 15|

Ansiedlern, die mit gezogenem Schwert hinter dem Pfluge hergehen, um
das urbar gemachte Land gegen alle Angriffe zu vertheidigen.


Die romantische Poetik setzte das Werk der klassischen weiter
fort, nur daß das dichterische Talent ihrer Vertreter bei weitem geringer
war und die kritische Richtung mehr in eine literarhistorische überging.
Das Princip dieser Poetik war bekanntlich die Jronie, welche sie aus
dem Fichte'schen System herleitete, und die ein großer Kunstphilosoph,
Solger, in seiner „Aesthetik“ (1829) und in seinem „Erwin
(2 Bde. 1815) als den Mittelpunkt der künstlerischen Thätigkeit entwickelt.
Jn der Fichte'schen Welt, in welcher der Geist in unaufhörlichem
Ringen mit der Natur begriffen ist, kann das Schöne keine bleibende
Stätte finden; es ist dort nur ein flüchtiges Aufleuchten der Jdee,
ein Jdeal, das in seinem Erscheinen verschwindet. Die Erscheinungswelt
selbst ist nichtig, und „die Stimmung des Künstlers, wodurch er die wirkliche
Welt als das Nichtige setzt,“ ist die künstlerische Jronie*).
Diese Begriffsbestimmung Solger's, der in seinen Werken eine tiefe Einsicht
in das Wesen des Schönen und der Kunst bekundet, unterscheidet
sich durchaus von der Auslegung, welche die Romantiker diesem Begriff
unterschoben. Bei Solger ist die Welt nichtig, „gegenüber der göttlichen
Jdee;“ bei den Romantikern ist sie nichtig gegenüber der Willkür des
Künstlers, der muthwillig mit jedem Gehalte spielt, für welchen es kein
bindendes Gesetz giebt, weil das Genie, ein selbstsüchtiger Despot, nur
seinen eigenen Launen folgt. Das war die Jronie, aus der die „Lucinde“
hervorging und zugleich „die christliche Kunst,“ der Phantasus und die
Shakespearomanie, die fromme Pfalzgräfin und das politische Wochenblatt,
die Begeisterung für jede Reaction und die Reaction gegen jede
Begeisterung; es war die Jronie, die aus dem „Athenäum“ und der
„Europa“ der beiden Schlegel orakelte und zuletzt die Welt= und
Literaturgeschichte zu einer Apotheose des Katholicismus verfälschte.
Doch auch hier war die Vereinigung zwischen Theorie und Praxis unverkennbar;
auch diese ästhetische Gesetzgebung sollte eine thatsächliche
Umwälzung der Literatur zu rechtlicher Geltung bringen. Jhre Verdienste
bestehen theils darin, daß sie der deutschen Lyrik den Kreis der

*)
Solger, Vorlesungen über Aesthetik p. 125.
|#f0038 : 16|

romanischen Dichtformen eroberte und auf die orientalischen hinwies,
daß sie Shakespeare und Calderon lebensfähig auf die deutsche Bühne
verpflanzte und daraus fruchtbare Gesichtspunkte für die Entwickelung
des deutschen Drama's gewann, die sie freilich in der eigenen Praxis
mißverstand oder verleugnete, theils in der Geltendmachung eines volksthümlichen
Princips, gegenüber der antiken Richtung der Klassiker, wenngleich
diese Volksthümlichkeit eine verkehrte war, indem sie auf mittelalterlichen
Voraussetzungen beruhte. Tieck's „dramaturgische Blätter“
und August Wilhelm Schlegel's „Vorlesungen über dramatische
Kunst“ sind die Epochemachenden Werke der romantischen Poetik.


Die ästhetische Wissenschaft selbst wurde von den Koryphäen der
Philosophie, Schelling und Hegel, weiter entwickelt. Der Standpunkt
Schelling's, die intellectuelle Anschauung, mußte für die Philosophie
der Kunst sehr fruchtbar werden; in der That fand er in ihr das
allgemeine Organon der Philosophie und den Schlußstein des ganzen
Gewölbes*). Die Natur ist zweckmäßig, ohne zweckmäßig hervorgebracht
zu sein; in der Kunst ist nicht nur das Product, sondern auch die
Production zweckmäßig, ohne das Bewußtlose, den inneren bewältigenden
Drang, die Macht des Genius auszuschließen. Er nennt S. 460
die Kunst „die einzige und ewige Offenbarung, die es giebt;“ das Dichtungsvermögen
aber, die Einbildungskraft und die idealische Welt der
Kunst die höchste Potenz der productiven Anschauung.“ (S. 473.) Ueber
das Verhältniß der Kunst zur Natur spricht er sich in seiner vortrefflichen
Rede**) dahin aus, daß nicht die todte Reproduction der Natur das
Wesen der Kunst sein könne, sondern das Produciren der Jdee,
welche in der Natur sich darstelle. Die höchste Stellung, welche Schelling
der Kunst einräumte, wurde ihr zwar von Hegel nicht zuerkannt;
aber dieser gründliche, systematische Denker, der nicht blos alle Wissenschaften
in ein großes System vereinigte, sondern auch jede einzelne
wieder mit seltenem Talent architektonisch ausbaute, gab auch das erste
Lehrgebäude der „Aesthetik,“ mit vorzüglicher Berücksichtigung der

*)
Schelling, System des transscendentalen Jdealismus S. 19.
**)
Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zur Natur. Schelling's gesammelte
Schriften I. S. 342─396.
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historischen Entwickelung der Kunst und mit scharfer Begriffsbestimmung
der einzelnen Künste. Die Poetik Hegel's, der letzte Theil seiner „Aesthetik,“
ist reich an den gediegensten Entwickelungen und trefflichen, lange
nicht genug beachteten Winken. Er hat die Stellung der Poesie zum
Zeitgeiste meisterhaft entwickelt und damit einer modernen Dichtung die
Bahn freigelassen; er hat die Bedeutung der von vielen Kunstrichtern
gering geachteten Richtung Schiller's und seines dramatischen Pathos
schlagend gewürdigt, er hat sich gegen den Dilettantismus und eine eben
so schaale wie forcirte Volkspoesie erklärt. Gerade nach dieser praktischen
Seite hin ist er von Vischer nicht erreicht worden, der von einer ästhetischen
Feinschmeckerei auf dem Gebiete der Poesie nicht freizusprechen ist
und der modernen Dichtung in seiner Poetik keine erhebenden Ziele zu
stecken verstand. Dies hindert indeß keinesweges, seine umfangreiche
Aesthetik“ für das überaus verdienstliche Hauptwerk der Neuzeit zu
erklären, das ebenso ausgezeichnet ist durch großartige Architektonik und
spekulative Phantasie, wie durch geistvolle und lebendige Kritik. Seine
Lehre vom „Schönen“ im Widerstreit seiner Momente, vom „Erhabenen
und Komischen,“ ebenso seine Lehre von der einseitigen Existenz des
Schönen, dem Naturschönen und der Phantasie, deren höhere Einheit
die Kunst ist, sind bahnbrechende Thaten der neueren ästhetischen
Forschung. Der Raum verstattet uns nicht, auf Weiße's Aesthetik, auf
Ruge's Verdienste um die Entwickelung des Komischen, auf des geistvollen
Rosenkranz „Aesthetik des Häßlichen“ und „Geschichte der
Poesie,“ auf Kuno Fischer's schwunghafte, platonisirende „Diotima,
die Jdee des Schönen, die er als Weltbegriff im Zusammenhang mit den
Jdeeen der Religion und Sittlichkeit auffaßte, auf Rötscher's Untersuchungen
über die dramatische Poesie, auf Moritz Carrière's geistvolle
Winke über Dichtkunst, auf Schopenhauer's geniale Auffassung
der Kunst, besonders der Musik, auf Frauenstädt's „ästhetische Fragen“
näher einzugehen; ebensowenig können wir die kritische Entwickelung
der neueren Literatur, welche die Production nach Art der klassischen
und romantischen begleitete, von Heine und Börne ab durch die jungdeutsche
Reformpoetik Gutzkow's, Laube's, Mundt's, Kühne's,
Jung's,
durch die protestantische Gesinnungskritik „der Halleschen Jahrbücher,“
welche die politische Lyrik ebenso formulirten, wie einst das |#f0040 : 18|

Athenäum die christliche Kunst, bis zu den tonangebenden Organen der
Gegenwart verfolgen. Aber diese Poetik selbst wird Zeugniß dafür ablegen,
daß diese reiche Entwickelung für sie keine verlorene ist; sie wird ihre
Resultate zusammenfassen und die Summe derselben durch die Einsichten
zu vermehren suchen, die dem Verfasser aus dem eingehenden Studium
der modernen Poesie und den Anregungen der eigenen Production
zuströmten.

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Erste Abtheilung.

Begriff und Wesen der Dichtkunst.

[Abbildung]

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Erstes Hauptstück.

Die Poesie im System der Künste. ──────

Erster Abschnitt.

Das Schöne und die Kunst.


Der Verstand, der die Welt der Erscheinung in ihrem Zusammenhang
zu erkennen sucht, sieht sich alsbald in die unendliche Kette von Ursache
und Wirkung verstrickt. Jede Ursache hat eine Wirkung und ist selbst die
Wirkung einer vorausgehenden Ursache. Der Verstand kann seine Untersuchungen
nur willkürlich abbrechen oder beschränken, wenn er, an dieser
Kette fortlaufend, zur Ruhe kommen will. Ebenso unbefriedigend sind die
rastlosen Strebungen des Willens, welcher die Welt sich anzueignen sucht:


Jn der Begierde such' ich nach Genuß
Und im Genuß verschmacht' ich nach Begierde.


Unerfüllt bleibt die Mehrzahl der Wünsche, welche das Herz bewegen;
der erfüllte Wunsch zeigt sich oft der Erfüllung unwerth, und der erreichte
Zweck weist über sich selbst nach einem andern fernern Ziele hinaus. Nur
wenn wir uns von jener Erkenntnißweise, von dieser blinden Macht der
Triebe losreißen, nur wenn wir die Dinge unabhängig von unserm Wollen
und von ihrem Zusammenhange mit andern Dingen betrachten, öffnet
sich uns die reine Welt der Jdeeen, in der wir das einzelne Object in
seiner ewigen Bedeutung erfassen und ebenso selbst als einzelnes Subject
mit den Augen des ewigen Geistes sehn. Diese Anschauungsweise nennt
Plato Enthusiasmus, Spinoza ein Sehen sub specie aeternitatis,
Schelling intellectuelle Anschauung, Schopenhauer die Betrachtungsart
der Dinge unabhängig vom Satze des Grundes; es ist die
Anschauung des Denkers, der das ewige Gesetz in der Erscheinung findet,
die Anschauung des Künstlers, der in der Sinnenwelt die göttliche Jdee |#f0044 : 22|

wiederschaut, die in ihm selbst lebt. Dennoch ist zwischen der Anschauung
Beider noch ein wesentlicher Unterschied. Dem interesselosen Denker verschwindet
alsbald die einzelne Erscheinung in der Jdee; er erkennt
und sucht nur das Wesen in der zufälligen Form; dem Künstler aber
ist die einzelne Erscheinung selbst Jdee; er braucht nicht über sie
hinauszugehn; die Jdee ist individuell lebendig, die Erscheinung unmittelbare
Gegenwart der Jdee. Dies ist die Offenbarung des Schönen.
Das Schöne ist also Jdee und nicht der Welt des Endlichen und
Zufälligen angehörig. Erst wenn wir uns über das eitle Reich der
Zwecke und des verstandesmäßigen Zusammenhanges erhoben haben in
eine Welt, wo uns unmittelbar der Strahl des Göttlichen berührt,
erreichen wir das Reich der Jdeeen und der Schönheit. Die Schönheit
ist daher auch dem zufälligen Belieben entnommen; jeder gemeine, materielle
Reiz ist ihr fremd; die Nachahmung des Wirklichen gehört nicht in
ihr Gebiet; sie ist allgemein gültig, wesentlich in ihren Bestimmungen
und gefällt mit Nothwendigkeit und ohne besonderes Jnteresse.


Doch die Jdee des Schönen ist und bleibt anschaulich; und
gerade dadurch unterscheidet sich das Schöne vom Wahren und Guten.
Das Reich der Wahrheit ist das Reich des Denkens; wahr ist der
Gedanke, der sich als wirklich und vernünftig legitimiren kann. Diese
Beweisführung bedarf aber eines methodischen Ganges, der die Anschaulichkeit
ausschließt. Dennoch sehn wir, daß große Denker, wie Schelling,
die Kunst für das höchste Organon der Philosophie erklären und
gleichsam ihr Gedankengebäude mit der Kuppel des Schönen überwölben,
daß große Dichter, wie Schiller, es als Problem der Zukunft hinstellen,
die der Schönheit zugereifte Wissenschaft zum Kunstwerk zu adeln, und
begeistert ausrufen:


Was wir als Schönheit hier empfunden,
Wird einst als Wahrheit uns entgegengehn.


Unleugbar groß ist die Verwandtschaft des Wahren und Schönen,
mag man nun das Schöne als ein Moment im Entwickelungsgange
der Erkenntniß ansehn oder auf ihrem Gipfel die Anschauung des Schönen
zum Vorbilde machen für die Anschauung des Wahren. Dennoch
ist das Jnteresse der Wahrheit ein anderes, als das der Schönheit,
das Jnteresse der Wissenschaft ein anderes, als das der Kunst. Dem |#f0045 : 23|

Denker gilt das einzelne anschauliche Object Nichts; er strebt darnach, das
innere Gesetz der Dinge zu erfassen. Jhm gilt nur der Gedanke, der
Begriff des Gegenstandes; er verwandelt das Sinnliche in ein Gedachtes.
Dem Künstler aber gilt das einzelne Object in seiner unmittelbaren
Sinnlichkeit Alles, indem die Jdee des Schönen nur in ihm lebendig ist.
Hiermit ist nicht ausgeschlossen, daß die sinnliche Anschauung des Schönen
auch eine im Geiste wiedergeborne sein kann, wie es z. B. in der
Poesie der Fall ist, oder daß die Gedankenwelt der künstlerischen Behandlung
den reichsten Stoff giebt; doch dann muß der Gedanke die sinnliche
Hülle borgen und die Wahrheit in der Schönheit aufgehn.


Aehnlich verhält sich die Jdee des Guten zur Jdee des Schönen,
die der platonischen, ja der hellenischen Weltanschauung überhaupt in
Eins zerflossen (καλὸν κἀγαθόν). Doch das Gute erstrebt erst jene Harmonie,
die im Wesen des Schönen liegt. Der Standpunkt des Guten
ist die Forderung, der Standpunkt des Schönen die Vollendung.
Das Gute soll die Welt überwinden, das Schöne hat sie überwunden.
Nun wird sich zwar auch das Gute in seiner rastlosen Arbeit verwirklichen,
die Harmonie erreichen, die es erstrebt, und dann scheint es mit
dem Schönen zusammen zu fallen; aber das Gute ruht nicht aus in
der errungenen Versöhnung; es liegt in seinem Wesen, darüber hinauszugehn,
in neuer Arbeit nach neuen Zielen zu ringen. Jm Guten
erklärt sich das Soll für permanent, das im Schönen ein für alle
Mal aufgehoben ist. Jm Guten ringt der Wille ewig mit dem Stoff;
im Schönen scheint die Jdee aus dem verklärten Stoff heraus. Das
Gute kann Jnhalt des Schönen sein; dann gilt es aber nicht, weil es
gut, sondern weil es schön ist. Nimmt es an und für sich eine selbstständige
Geltung in Anspruch: so wird das Schöne durch den praktischen
Zweck, das moralische Sollen, die Absichtlichkeit zerstört. Jm Reiche der
„schönen Sittlichkeit,“ das in Hellas verwirklicht schien, das vielen Denkern
und Dichtern als Jdeal vorschwebt, ist daher nicht das Schöne im
Guten, sondern das Gute, dem stets ein unerquicklicher Rest bleibt, im
Schönen aufgehoben.


Das Schöne ist Jdee, aber erscheinende Jdee, welche ohne Rest
in der einzelnen Erscheinung aufgeht. Dieser vollkommene Zusammenschluß
der Jdee und ihres Bildes macht das Wesen der Schönheit aus. |#f0046 : 24|

Hier kommt das Einzelne zum ersten Male zu seinem vollen Rechte.
Die Jdee des Guten und Wahren triumphirt nur, wenn das Einzelne
vernichtet wird. Der Gedanke verlangt, daß das Einzelne sich auflöse
in's Allgemeine, in den Begriff; die Sittlichkeit, daß das Einzelne sich
dem Allgemeinen opfere. Das Schöne erst giebt dem Einzelnen die volle
Kraft und Weihe der Eigenthümlichkeit; es macht das Einzelne zum
Träger der Jdee. Wie wir später sehen werden, ist auch der Geist
des Künstlers, der es producirt, der Genius, die Spitze der geistigen Einzelnheit,
das Einzelne als Einziges. Darum auch konnte Plato von
der Liebe sprechen, mit der wir das Schöne erfassen; denn wir lieben
immer nur das Einzelne, in welchem wir das Urbild der Seele schauen.


Doch die einzelne Erscheinung in ihrer Stoffschwere kann das Schöne
nicht spiegeln; hier würde wieder die Welt der Zufälligkeit das Jdeal
vernichten. Der sinnliche Stoff muß im Feuer der Jdee verzehrt sein;
Nichts übrig bleiben, als ein über ihm schwebender sinnlicher Schein, als
die reine Form. Schiller sagt: „das Kunstgeheimniß des Meisters
besteht darin, daß er den Stoff durch die Form vertilgt.“ Die Jdee
wird Gestalt, die Gestalt Jdee ─ das ist das Wesen des Schönen.


Doch die Jdee des Schönen ist nicht starr und bewegungslos; sie ist
kein todter Begriff! Lebendig und schöpferisch erträgt sie in sich den
Widerspruch, den Kampf, läßt die Dissonanzen frei gewähren und rettet
doch ihre ewige Harmonie. Die Jdee ist Thätigkeit und Bewegung ─
das Schöne in seiner Bewegung ist Anmuth. Man darf die Anmuth
nicht mit Lessing und Schiller auf die menschliche Schönheit beschränken,
wenn sie sich auch hier am klarsten ankündigt in jenen sympathetischen
Bewegungen, welche unwillkürlich die willkürlichen begleiten;
überall dämmert die Anmuth empor, wo die Linien der Schönheit, von
starrer Gebundenheit befreit, zu erzittern beginnen. Am schlagendsten
und schönsten hat Schelling in seiner Rede: „Ueber das Verhältniß der
bildenden Künste zur Natur“ das Wesen der Anmuth ausgesprochen, wo
er sie historisch als eine Entwickelungsstufe der Kunst darstellt: „Jm
Beginn erscheint der schaffende Geist ganz verloren in die Form, unzugänglich,
verschlossen und selbst im Großen noch herb. Je mehr es ihm
aber gelingt, seine ganze Fülle in Einem Geschöpf zu vereinigen, desto
mehr läßt er allmählich von seiner Strenge nach, und wo er die Form |#f0047 : 25|

völlig ausgebildet, so daß er in ihr befriedigt ruht und sich selbst faßt,
erheitert er sich gleichsam und fängt an, in sanften Linien sich zu
bewegen.
Dieses ist der Zustand der schönsten Blüthe und Reife, wo
das reine Gefäß vollendet dasteht, der Naturgeist frei wird von seinen
Banden und seine Verwandtschaft mit der Seele empfindet. Wie durch
eine linde Morgenröthe, die über der ganzen Gestalt aufsteigt, kündigt
sich die kommende Seele an: noch ist sie nicht da, aber Alles bereitet sich
durch das leise Spiel zarter Bewegungen zu ihrem Empfange. Die
starren Umrisse schmelzen und mildern sich in sanfte. Ein liebliches
Wesen, das weder sinnlich noch geistig, sondern unfaßlich ist, verbreitet
sich über die Gestalt und schmiegt sich allen Umrissen, jeder Schwingung
der Gliedmaßen an. Dieses, wie gesagt, nicht greifliche und doch Allen
empfindbare Wesen ist es, was die Sprache der Griechen mit dem Namen
der Charis, die unsrige als Anmuth bezeichnet.“


Wir haben gesehn, daß die Schönheit die Einheit der Jdee und
des Bildes, ihre vollkommene Harmonie ist. Diese Harmonie aber
wird aufgelöst, nicht zerstört; die Jdee sprengt mit triumphirender
Gewalt das Band dieser Einheit; sie greift über das Bild hinaus; sie
erhebt sich über die Gestalt ─ und das ist das Wesen des Erhabenen.
Doch auch diese kühne Ausweichung muß zur Harmonie zurückkehren,
die dann um so vollkommener ist, da sie den Widerspruch überwunden
in sich aufgenommen. Jn diesem Erheben liegt zugleich eine
Thätigkeit! Je plötzlicher es stattfindet, desto imposanter ist seine
Wirkung, desto rascher scheint die Schranke der Gestalt zerbrochen.
Daß sie dies aber in Wahrheit nicht ist, daß die Form gleichsam gewaltig
ausgedehnt, aber doch nicht formlos wird ─ das ist das Geheimniß
des Erhabenen. Die Elasticität des Schönen wird durch das Erhabene
am meisten angestrengt, aber nicht gebrochen. Das reine Schauen, das
uns dem Schönen gegenüber erquickte, wird durch das Erhabene
erschwert, indem es uns gewaltsam aus seiner Sphäre reißt. Ueberlegene
oder ungeahnte Kräfte, furchtbare Gewalten aus dem Reiche der
Natur und des Geistes stürmen auf uns ein und drohen mit ihrer
unendlichen Macht den schauenden Geist zu erdrücken. Er fühlt sich nicht
mehr als das reine, denkende und schauende Wesen; er fühlt sich auf einmal
in seiner Endlichkeit. Aber daß er doch wieder mit kühnem Kampfe |#f0048 : 26|

über alle diese Störungen triumphirt und sich durch diesen Triumph
doppelt über sein persönliches, endliches Sein in das Reich der reinen Anschauung
erhebt ─ das läßt die ästhetische Wirkung des Erhabenen, des
kämpfenden Schönen, größer erscheinen, als die der ruhigen und kampflosen
Schönheit. Neben dieser Unendlichkeit des sinnlich Erhabenen, des
Raumes, der Zeit, der Kraft, welche die in der Natur schlummernde Jdee
zu solcher überraschenden Mächtigkeit erhebt, daß der Geist sich ihr gegenüber
erst klein fühlt, um sich dann groß zu fühlen, einer Erhabenheit,
der in der sittlichen Welt die Naturkraft des Bösen entspricht, giebt es
auch eine positive sittliche Erhabenheit, der Kampf und das Opfer für
die Jdee mit Aufgabe der sinnlichen Lebensgüter. Dies ist die Erhabenheit
der Helden und Märtyrer der Menschheit, die für ihre Ueberzeugung
stritten, duldeten und starben, eines Regulus, der für die Pflicht sich opfert,
eines Cato, der für das Jdeal seiner Republik in den freiwilligen Tod
geht. Hier theilen wir die Erhebung der Helden über das Vergängliche
und dringen durch die Schauer der Wehmuth, die letzte Verklärung
der geopferten Sinnlichkeit, zu dem frohlockenden Triumphe des freien
Geistes
hindurch. Ebenso erhaben ist die Leidenschaft, mag sie nun
die welthistorische der Cäsaren und Napoleone sein, die, während sie dem
eigenen großen Triebe folgen, nur Organe des Weltgeistes sind, oder
mag sie den Dolch eines Macbeth und Othello schwingen und uns durch
die furchtbare That erschrecken. Jn der Leidenschaft vereinigt sich das
sinnlich und sittlich Erhabene; es ist die aller Banden spottende Naturkraft
und zugleich die höchste imponirende Energie des Wollens. Darum
machen auch jene Zeitalter der Geschichte, in denen die Leidenschaft
herrscht, die Revolutionen der Menschheit, einen erhabenen Eindruck.
Vor Allem aber ist erhaben eine Weltanschauung, für welche das Göttliche
eine über die Welt übergreifende Macht ist. Deshalb bietet die
hebräische Poesie die reichsten Beispiele für das Erhabene. Es ist
ebenso einseitig, das Erhabene auf die Natur, wie auf die Welt des
Geistes beschränken zu wollen. Da das Erhabene wesentlich in einem
Hinausgehn über das gewohnte Maß besteht, so ist es zugleich
dunkel, denn dunkel ist alles Unmeßbare. Bis zur Gestaltlosigkeit
erscheinende Umrisse sind ihm eigen. So sagt Hiob, als er sein Nachtgesicht
erzählt: „Es stand ein Bild vor meinen Augen, und ich kannte |#f0049 : 27|

seine Gestalt nicht, es war stille, und ich hörte eine Stimme: „wie
mag ein Mensch gerechter sein als Gott!“ Gerade die Dunkelheit ruft
hier die Wirkung des Erhabenen hervor. Es liebt die Andeutung, die
Kürze, die sinnliche Abbreviatur. Die Jdee überflügelt das Bild. Es
ist erhaben, daß Jupiter's Augenbrauen den Olymp bewegen ─ erhaben,
daß die Gottheit nicht hinter dem Feuer, nicht hinter dem Donner, nicht
hinter dem Sturmwinde kommt, sondern im linden, leisen Wehen. Je
mehr das Bild sich verkleinert, desto mehr wächst der Gedanke.


Das Erhabene wird zum Tragischen, wenn ein Held im Kampfe
mit der Weltordnung und dem Weltgesetze untergeht. Schon im Allgemeinen
ist der Untergang alles Hervorragenden, der Macht, der Herrschaft,
der Schönheit, des Glückes, durch das Naturgesetz, durch die blinde
Macht des Zufalls tragisch. Eine solche Tragödie ist „das Loos des
Schönen,“ Max unter den Hufen der Pferde. Diese blinde Macht ist
der Neid der Götter, vor welchem Solon warnt, und vor welchem Polykrates
zittert. Hier ist noch kein Handeln, keine gewußte, gewollte Ueberhebung!
Anders, wenn der Wille handelnd eingreift in die Welt, sich
zur That entschließt, wenn die Leidenschaft in dämonischer Kraft nach
ihren Zielen ringt! Jede That wird zur Schuld; denn sie stört sowohl
den Zusammenhang des Bestehenden, das sich gegen sie wendet, als sie
auch, als die That eines bestimmten Charakters, mit dem Fluche seiner
Einseitigkeit behaftet ist.


Jm Erhabenen sehen wir den Widerstreit der beiden Momente des
Schönen so gestaltet, daß die Jdee das Bild überflügelt und in
Schatten stellt. Die Wiederherstellung des verlorenen Gleichgewichtes
verlangt nothwendig, daß auch umgekehrt die Erscheinung, das Bild,
die Jdee überflügle und sich auf Unkosten der letzteren zu behaupten suche.
So wenig in jener Form das Bild verschwand: so wenig verschwindet
hier die Jdee. Dort war das Bild zum sinnlichen Zeichen herabgedrückt;
aber dies Zeichen genügte, um die erhaben aufschwebende Jdee in der
Welt des Schönen festzuhalten; hier schimmert die Jdee durch die in
aller Breite und Fülle behaglich ausgedehnte Erscheinungswelt hindurch,
und gerade ihr Schimmer giebt diesem Standpunkte die echte Freudigkeit.
Das umgekehrte Erhabene nun ist das Komische. Das
Komische als die Ueberhebung der Erscheinung ist vorzugsweise sinnlich; |#f0050 : 28|

jeder Stufe des Erhabenen stellt es eine Gegenstufe gegenüber. Rückt
es dieselbe dicht und plötzlich an jene heran ─ so entsteht der Contrast.
Das Erhabene betont das Allgemeine, das Komische das Einzelne;
dort verschwindet die Welt in der Gottheit, hier die Gottheit in
der Welt; aber diese Welt selbst ist nur ein freies Spiel des Komischen,
dem seine eigene Willkür, das eigene Wohlsein und Wohlseinlassen über
Alles geht. Du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas. Das
Erhabene kann unmittelbar komisch werden: das Heilige einer früheren
Welt kann der Aufklärung einer späteren in einem komischen Lichte
erscheinen. Das Komische fixirt sich in der Posse, im komischen Typus,
in der burlesken Gestalt. Jn der Welt des Geistes aber wird es zum
Witz, der „fragmentarischen Genialität,“ dem vorüberfliehenden Blitz des
Komischen, der, indem er entlegene Vorstellungen gesellt, den Widerspruch
in der Welt der Erscheinung schlagend hervorhebt. Der Humor
aber erfüllt die ganze Persönlichkeit; im Humor wird der komische Proceß
zum absoluten, sein Wesen ist die Wehmuth über den gebrochenen Schein
der Jdee in der Welt, über den ewigen Widerspruch zwischen Göttlichem
und Jrdischem, Geist und Natur; aber er mißt das erstere mit dem zweiten.
Die ganze Welt der Sinnlichkeit, alle Contraste des Witzes und
der Phantasie, den höchsten Farben- und Gestaltenreichthum erschöpft er,
um die Jdee damit zu messen, die aber erhaben immer über dies Maß
hinausgreift. Darum ist in seinem Lachen „Schmerz und Größe,“ und
er führt die lachende Thräne im Wappen. Aus diesem ganzen Widerstreite
der kämpfenden Schönheit, diesem Fliehen und Suchen der
Jdee und des Bildes stellt sich zuletzt die reine Schönheit wieder her,
bereichert durch diesen Kampf, den sie als wesentlich in sich selbst aufgenommen.



Doch wie kommt die Jdee der Schönheit zur Erscheinung? Das
bewußtlose Dasein der Jdee ist die Natur, das bewußte der Geist.
Auch das Schöne schlummert in der Natur und erwacht im Geiste.
Natur und Geschichte ist die Stoffwelt des Schönen; es geht durch alle
Reiche der Natur, durch alle Zeitalter der Geschichte hindurch. Aber nur
selten entbindet es hier der Zufall in seiner ganzen Reinheit; ungeläutert,
getrübt, mit Fremdartigem verbunden harrt es des erlösenden Geistes.
Die Stufe des Geistes, auf der er das Schöne im Finden schafft und |#f0051 : 29|

im Schaffen findet, ist die Phantasie. Jn der productiven Phantasie
lebt die Jdee in ihrer Reinheit, und durch sie wird das stoffartig Schöne
zum Jdeal geläutert. Doch dies Bild der reinen Schönheit ist nur
ein innerliches. Die Phantasie hat das Naturschöne zerstört, aber nur,
um es schöner wieder aufzubauen. Das innere Bild bedarf derselben
äußeren Wirklichkeit, wie das Naturschöne. Dazu aber gehört der sinnliche
Stoff, in den es die Phantasie hineinarbeitet. Diese Einheit des
Naturschönen und der Phantasie ist die Kunst; sie ist die Thätigkeit,
die sie im einzelnen Gebilde lebendig hinstellt für die Anschauung
aller. Die Thätigkeit des Künstlers ist theoretisch und praktisch zugleich.
Die Jdee lebt und entfaltet sich zuerst im Gemüthe des Künstlers, und
dann schließt sie sich wieder im Kunstwerke zusammen. Der Genius ist
die innere, das Kunstwerk die äußere Offenbarung der Jdee; das
künstlerische Schaffen, welches höchste Begeisterung und Besonnenheit in
sich vereinigt, die Verwandlung der inneren Offenbarung in die äußere.
Diese Verwandlung ist ihrem Wesen nach eine nicht analysirbare Transsubstantiation;
ihre äußere Form ist die künstlerische Technik. Die
Kunst gliedert sich nun in Künste, die Alles beherrschende Seele des ganzen
Kreises bleibt die Poesie, die ebenso gegenwärtig ist in jeder einzelnen
Kunst, wie sie dieselben in ihrem eigenen Reiche wiederholt. Um so mehr
bedarf es scharfer Grenzbestimmungen dieses Reiches, damit die Poesie
nicht in ihrer scheinbaren Allgegenwart ihr eigenstes Wesen verflüchtige. ──────


Zweiter Abschnitt.

Die Dichtkunst.


Wir haben gesehen, daß die Kunst dem inneren Jdeal eine sinnliche
Gegenwart
schaffen, das Kunstwerk sich als Einzelnes in einem
bestimmten Stoffe darstellen muß. Jn der That bezwingt die Architektur
den todten Stein zu harmonischer Gestalt; die Plastik arbeitet aus Marmor
und Erz die schönen Formen des Göttlichen heraus; die Malerei
zaubert auf die Wand oder die Leinwand mittelst der Farbe Gestalt und
Leben und überwindet die Fläche, indem sie den Schein aller Dimensionen
über sie hinhaucht. Wo aber ist der Stoff, das Material der |#f0052 : 30|

Dichtkunst? Wo ist die sinnliche Gegenwart des dichterischen Gebildes?
Die in der Vorstellung wiedergespiegelte Sinnlichkeit ist das Material
der Dichtkunst. Die Einbildungskraft ist gleichsam die Erinnerung der
ganzen äußeren Welt, die in die Seele aufgenommene Stoffwelt. Diese
sinnliche Vorstellung ist Material, wenn auch vergeistigtes. Wie draußen
sind auch in der Seele die Erscheinungen bunt zusammengewürfelt und
aufgehäuft; wo das Schöne darin erscheint, schimmert es, selbst zufällig,
durch eine Welt der Zufälligkeit hindurch. Diese Welt der Vorstellungen
ist daher ebensogut wie Stein, Marmor und Erz, wie Farbe und Leinwand,
ein Stoff der Kunst. Aber er ist der reichste, wie wir gleich
hinzusetzen können. Er hat keine Erdschwere, wie jene unmittelbar sinnlichen
Stoffe, welche durch ihre ganze Beschaffenheit die Thätigkeit des
Künstlers in engere Kreise bannen. Er ist ihr am verwandtesten; denn
der Künstler schafft nur durch die gesteigerte Kraft und Jntensität der
Vorstellung und Anschauung, welche in der Poesie zugleich das Material
seiner Kunst bildet. Die allgemeine Phantasie also, die sich passiv und
empfangend verhält, ist der Stoff, in welchen der Dichter sein Kunstwerk
überträgt, in dem er es aufbaut. Wohl weckt in dieser Phantasie schon
das Gedächtniß die schlummernden Bilder; aber nur in zufälliger Reihe
oder an der Kette des Verstandes. Die schaffende Phantasie aber weckt
in der empfangenden die Bilder nach dem Gesetze des Schönen; sie greift
nur diejenigen Tasten zusammen, die einen harmonischen Akkord geben,
und läßt die dazwischen liegenden in ihrem Schlummer verharren. Daß
der Stoff todt, roh sei, der Bildung gewärtig, erfüllt sich auch hier wie
bei den anderen Künsten; denn die Einbildungskraft ist, dem Dichter
gegenüber, ein leeres Blatt, auf das er schreibt. Die empfangende Phantasie
ist eine camera obscura; die schaffende führt die wechselnden Bilder
in ihr vorüber. Wohl bedarf jede andere Kunst ebenfalls der aufnehmenden
Phantasie*); aber das Kunstgebilde, das sie schafft, steht
selbstständig zwischen dem Schaffenden und Empfangenden; das Kunstgebilde
des Dichters wird aus der Phantasie heraus und in die Phantasie
hineingebaut. Die einzige Vermittlerin des geistigen Verkehrs, die

*)
„Die Einbildungskraft durch die Einbildungskraft zu entzünden, ist das Geheimniß
des Künstlers.“ (Wilhelm von Humboldt, Werke Bd. 4. S. 19.)
|#f0053 : 31|

Sprache, kann hier auch nur die schaffende und empfangende Phantasie
vermitteln. Die Sprache aber ist auch das Organ und Vehikel des
gewöhnlichen Bewußtseins. Wie sich daher die dichterische Vorstellung
von der gewöhnlichen unterscheidet: so die dichterische Sprache von der
gewöhnlichen. Das Wort bezeichnet den Begriff und ruft das Bild
hervor. Der erstere ist von selbst ausgeschlossen, da wir uns nicht im
Reiche des Begriffes, sondern im Reiche der Vorstellung bewegen; auf
dem zweiten nur beruht die Macht der Poesie. Doch das dichterische
Bildniß ist die idealisirte Vorstellung, und nur das idealisirte Wort kann
dies Bild erwecken. Je geistiger der Stoff, das ganze Reich der Poesie
ist: desto sinnlicher muß ihr Vehikel, das Wort sein. Die künstlerische
Jdealität des Wortes ist seine Sinnlichkeit; das dichterische Wort muß
eine concentrirte Sinnlichkeit athmen. Die Sprache hat ihre Malerei,
ihre Musik, und nur durch sie wirkt die Dichtkunst. Das Malerische der
Sprache beruht auf einer Wahl und Zusammenstellung der Worte, durch
welche das Bild in klaren Umrissen, in farbenprächtiger Fülle wie mit
einem Zauberschlage vor der Seele steht. Welche Magie, welchen Duft
schon das einzelne Wort haben kann: das zeigen hundert Beispiele aller
großen Dichter. Das rechte Wort ist immer Offenbarung des Genius;
kein Röhrenwerk pumpt es hervor. Die Musik der Sprache aber, durch
welche die dichterische sich über die gewöhnliche erhebt, besteht nicht blos
im Wohlklang, der Mißtönendes ausschließt; sie besteht im geregelten
Gang der Sprache, deren Maß und Gewicht sich in tactmäßiger Folge
geltend macht; sie besteht im wiederkehrenden Zusammenklang, der
zugleich einschmeichelnd und befriedigend das Ohr gefangen nimmt.
Erst in dieser geläuterten Gestalt wird die Sprache aus einem Medium
des täglichen Verkehrs und des gemeinen Verständnisses die lebensvolle
Trägerin des dichterischen Gedankens. Die Sprache aber gerade ist es,
welche der Dichtkunst das Uebergewicht über die anderen Künste verleiht
in Bezug auf die Fülle und Tiefe des Jnhaltes, den sie auszudrücken
vermag. Dem Dichter „gab ein Gott, zu sagen, was er leide.“ Dies
Sagen erst entbindet die innerste Empfindung, und zwar mit jener
Bestimmtheit, welche das Hin- und Herwogen der Töne vergeblich auszudrücken
ringt; dies Sagen erst entfesselt die Zunge dem plastischen
„Laokoon,“ dem sogar der Ausschrei des Schmerzes verwehrt ist, und entrollt |#f0054 : 32|

eine bewegte, in ewigem Fortgang und Wechsel begriffene Welt,
gegenüber dem unwandelbaren Augenblick, den der Pinsel des Malers
auf die Leiwand gebannt hat. Freilich, die vermittelte Sinnlichkeit der
Dichtkunst ist keine so frische und unmittelbar lebendige, wie die der
anderen Künste, die ihr Bild in den greifbaren Stoff hinausstellen; sie
steht an jener bedenklichen Grenze, wo die Region des Sinnlichen sich
ganz in das geistige Gebiet zu verlieren scheint; aber darin, worin die
Schwäche der Poesie besteht, besteht auch wieder ihre Stärke. Es ist
falsch, daß die Wirkung der Kunst in geradem Verhältniß steht zur stoffartigen
Sinnlichkeit der Erscheinung; sie steht vielmehr im umgekehrten
Verhältniß zu ihr. Schon die Malerei, welche den bunten Schein auf
die Fläche haucht, wirkt kräftiger als die Plastik, welche ihr Kunstwerk
in raumerfüllender Körperlichkeit vor uns hinstellt. Eine gemalte
Venus reizt ganz anders die Phantasie und selbst die Sinne, als eine
gemeißelte, und die schlimmste stoffartige Wirkung des Sinnlichen übt
das Phantasiegebild des Dichters aus. Gerade die starre Mitte des
Körperlichen bricht abkühlend den heißen Erguß der Seele in die Seele,
der Phantasie in die Phantasie. Jedes in die Sinnlichkeit hinausgestellte
Kunstwerk isolirt zuerst den Beschauer vom Schöpfer, ehe es die Leitung
der Phantasie wieder fortsetzt und das Jdeal des einen auch in der Brust
des anderen lebendig macht. Doch wo die Phantasie nur in und für die
Phantasie malt und meißelt: da blitzt der electrische Funken mit ungebrochener
Kraft zündend hinüber. Vom psychologischen Standpunkte aus
könnte man noch erwähnen, daß die Wärme der empfangenden Phantasie
um so mehr entbunden wird, je mehr sie selbst an der Thätigkeit des
Schaffenden Theil nimmt, je mehr sie ihre eigene Productionskraft
anstrengen muß. Das fertige Bild des Malers, des Bildhauers thut
dies nun in weit geringerem Grade, als das Bild des Dichters, welches
erst in der angeregten, mitwirkenden Phantasie des Hörers wird. Es
entwickelt gleichsam die gebundene Kraft der Phantasie im anderen, die
ihm nun entgegenkommt in feuriger Bewegung, und in ihrem inneren
Erzittern das werdende Bild in sich abdrückt. So lebendig kann kein
Maler die Erhabenheit Jehova's darstellen, wie der Dichter, welcher uns
im Säuseln der Lüfte die kommende Gottheit erscheinen läßt. Die erregte
Phantasie sucht sie im Feuer, im Donner, im Sturmwind, in allen gewaltigen |#f0055 : 33|

Bildern der Natur; sie hat schon suchend all' ihre Kraft und Pracht
entwickelt und nimmt nun das sanftere Bild um so lebendiger in sich auf.
Wie furchtbar wirkt die Hinrichtung der Maria Stuart, wenn wir sie
aus Leicester's Seele heraus empfinden; wie verstärkt die doppelte Spiegelung
das Bild! Schon bei einer wirklichen Schilderung des schrecklichen
Actes hätten dem Dichter ganz andere Hilfsquellen für sein innerliches
Bild zu Gebote gestanden, als etwa dem Maler, der in Verlegenheit
gewesen wäre, welchen Moment der Handlung er zu ihrer Darstellung
hätte herausgreifen können! Doch der Dichter erhöht die Wirkung
des Bildes, indem er nicht unmittelbar schildert, sondern die Schilderung
in die Seele eines Mannes verlegt, der in innigen und wechselnden Herzensbeziehungen
zur Fürstin steht, und durch dessen Zweizüngigkeit sie dem
Tode verfällt. Doch auch diese Spiegelung genügt dem Dichter nicht;
er macht Leicester nicht zum unmittelbaren Zuschauer der Hinrichtung; er
läßt uns mit ihm das Schreckliche nur durch das mit der Handlung verbundene
Geräusch errathen. Und so erst erregt er in uns jene athemlose
Spannung, in die das Herannahen des Furchtbaren das Gemüth versetzt,
und läßt uns den ganzen Schmerz blitzartiger Vernichtung, den sein wirkliches
Erscheinen, den die vollbrachte That hervorruft, mit durchfühlen.
Die That des Macbeth, die Ermordung des Königs, ist am schrecklichsten
in ihren vorausgehenden und nachfolgenden Spiegelungen. Der gespenstig
drohende Dolch, die nachtwandelnde Königin, welche das Blut nur
an ihre Hände träumt ─ das versetzt unsere Phantasie erst in jene
Stimmung, welche das äußerliche Geschehen nicht hätte erzeugen können.
Diese große Wirkung des innerlichen Bildes der Dichtkunst beruht
auf dem Wesen der menschlichen Einbildungskraft. So gewinnt die
Poesie durch diesen Aether der inneren Sinnlichkeit, wenn sie auch an
Klarheit und Bestimmtheit der Zeichnung einbüßt, doch wieder an Macht
über das Gemüth. Hierzu kommt, daß gerade diese Jnnerlichkeit sie
befähigt, den ganzen und uneingeschränkten Reichthum der Jdee zu entfalten,
einen geistigen Jnhalt, den in solcher Fülle keine andere Kunst in
sich aufzunehmen vermag. Die Schönheiten der Natur, die Thaten der
Geschichte, die Gedanken des Geistes, die unendliche Erscheinungswelt
der Leidenschaften, alle Stimmungen des Gemüthes fallen in ihren Kreis;
aber sie muß diesen ganzen Jnhalt für die Anschauung innerlich verbildlichen |#f0056 : 34|

und lebendig machen für die Empfindung. Der Duft der
Empfindung muß über allen Bildern zittern, die sie entrollt. Unsere
beiden größten Dichter, Schiller und Goethe, haben sich in diesem Sinne
ausgesprochen. Schiller sagt: „Jeden, der im Stande ist, seinen
Empfindungszustand in ein Object zu legen, so daß dieses Object
mich nöthigt, in jenen Empfindungszustand überzugehen, folglich lebendig
auf mich wirkt, nenne ich einen Dichter,“ und Goethe: „Lebendiges
Gefühl der Zustände und die Fähigkeit, sie auszudrücken, macht den
Dichter.“ Während man bei der Schiller'schen Erklärung blos an die
Lyrik denkt oder selbst an die Musik denken kann, spricht Goethe klarer
aus, wie es mit der Empfindung des Dichters steht. Denn in der That
würde man fragen können, ob und wo z. B. in der beschaulichen Darstellung
des Epos die Empfindung zu ihrem Rechte komme? Die
hier gemeinte Empfindung des Dichters ist aber nicht blos das Gefühl
der eigenen Seelenlage; sie ist das „lebendige Gefühl der Zustände,“ und
dies soll sie auch hervorzaubern. Die Sonne der Poesie soll nicht blos
das Memnonsbild beleuchten; sie soll es innerlich erzittern machen.
Der Dichter muß die Welt in seine Empfindung aufgenommen
haben, ehe er sie aus derselben herausgebiert. Ueber den plastisch festen
Gestalten Homer's schwebt jene unbeschreibbare Klarheit und Heiterkeit,
der jonische Himmel seiner Seele, der sich in allen Bildern spiegelt, die
er schildert, der jedes Gemüth in einen gleichen Aether taucht. Ueber
den so scharfen Charakteren Shakespeare's, die in der Bestimmtheit ihrer
Züge bis zum Schroffen, Eckigen und Verzerrten fortgehen, über dieser
so reich ausgemalten Welt des Handelns zittert jener Duft der Wehmuth,
welche diese Welt der Täuschung, des Scheins wie einen großen
Traum anschaut, und über jeder Scene schwebt das unsichtbare Motto:


Wir sind solcher Stoff,
Wie der von Träumen, und dies kleine Leben
Umfängt ein Schlaf!


So intensiv empfindet freilich nur der Genius! Er kann die Gestalt
mit höchster Anschaulichkeit loslösen, die Charaktere und ihre Zwecke zu
größter Selbstständigkeit befreien; aber was sie sind, sind sie nur durch
die Kraft seiner Empfindung, welche die Seele dieser ganzen erschaffenen
Welt ist.

|#f0057 : 35|


Jn der That steht die Poesie in der Mitte des Universums und wirft,
wie Wilhelm von Humboldt sagt, nach allen Seiten ihre Strahlen in's
Unendliche! Sie ist in diesem höchsten Sinne Weltseele, Centrum der
schöpferischen Empfindung; im kleinsten Bilde, das sie schafft, ist das All
gegenwärtig ─ und gerade hierin unterscheiden sich die großen Dichter
von den kleinen, die nur Stücke aus dem All herausschneiden und selbst
die eigene Seele nur stückweise geben. Sie war, im Bunde mit der
Musik, die erste Kunst und wird die letzte sein!


Es ist keine inhaltlose Phantasie, wenn Anastasius Grün behauptet,
daß erst mit dem letzten Menschen der letzte Dichter von der Erde auswandern
wird. Jn welche Bahnen auch die Menschheit getrieben wird,
welche Jnteressen auch das Jahrhundert beherrschen mögen: das ist alles
nur neuer und reicherer Stoff für den dichterischen Genius, der in
die bunte Welt die eigene große Seele hineinschaut. Der Mensch bleibt
ja ewig ihr Mittelpunkt, und erst mit dem Menschen stirbt die Poesie.
Freilich bedarf es des großen Dichters, den nicht, wie die Scheinpoeten,
die Aeußerlichkeiten einer neuen Kulturepoche blenden, daß sie sich mit
ganzer Seele an ihre vergänglichen Jnteressen und Zwecke hingeben,
sondern der den Faden der ewigen Entwickelung festhält, den die breite
Prosa der Erscheinung nicht irrt, wenn sie auch gleich einer dichten, dumpfen
Wolke niederregnet, sondern der gleichsam aus ihren zerrinnenden
Tropfen mit dem Strahle der ewigen Jdee den Regenbogen der Schönheit
aufbaut!


Diese weitere Auffassung der Poesie, als Seele der Welt und deshalb
auch Seele jeder Kunst, als die Jdee selbst in ihrem ganzen Reichthum,
wie sie ein großes Gemüth anschaut und darstellt, möge jetzt wieder dem
engeren Begriff der Dichtkunst weichen, wie ihn vorher dieser Abschnitt
entwickelt, und dessen weitere Ausführung in allen seinen Bestimmungen
erst unser ganzes Werk geben kann. Hiernach ist die Dichtkunst diejenige
Kunst, welche die Jdee des Schönen mit, in und für die Phantasie darstellt,
indem die schaffende Phantasie aus den Tiefen der Empfindung
heraus ihr die Jdee spiegelndes und tragendes Gebilde mittelst der idealen
Sprache in der idealen Sinnlichkeit der empfangenden Phantasie aufbaut.


──────

|#f0058 : 36|

Dritter Abschnitt.

Die Dichtkunst und die Malerei.


Als Kunst erscheint die Poesie neben den anderen Künsten, und es gilt
zu bestimmen, was sie von jenen aufnimmt, und wie sie sich von ihnen
sondert. Jean Paul erklärt sich zwar gegen den Parallelismus der
Darstellung, aus welchem man Nichts lernen könne*); doch er faßt dies
zu äußerlich. Jede Bestimmung ist nach Spinoza eine Negation; aber
auch umgekehrt jede Negation eine Bestimmung. Das Reich existirt
nur durch seine Grenze, und der Nachweis der Schranke gehört zum
Nachweis des Wesens. Außerdem spielen in die Poesie als die vollkommenste
Kunst die anderen so hinein, daß ihr eigenes Wesen am meisten
durch die Erkenntniß aufgehellt wird, was ihr mit ihnen gemeinsam ist,
und wodurch sie sich von ihnen unterscheidet. Daß hier der analytische
Gang die schlagendsten positiven Resultate ergiebt, hat wohl am klarsten
Lessing in seinem „Laokoon“ bewiesen, dessen Grundsätze für das
Verhältniß der Poesie und Malerei noch für den heutigen Tag maßgebend
erscheinen müssen.


Die Malerei mag hier die anderen bildenden Künste überhaupt
vertreten, da sie gerade in den wesentlichen Vergleichungspunkten mit
ihnen übereinstimmt und für sie gesetzt werden kann. Der Maler giebt
dem geistigen Bild durch Linien und Farben eine sinnliche Wirklichkeit
auf der Fläche, im Raume; der Dichter verwirklicht das seine in der
Vorstellung, und zwar durch die Sprache, also in der Zeit. Der
Maler schafft sein Bild durch das Nebeneinander der Linien und

*)
Vorschule der Aesthetik. S. 18 spricht er von den verschiedenen Wegen
der neuen Aesthetiker, Nichts zu sagen: „der erste ist der des Parallelismus, auf welchem
Reinhold, Schiller und Andere ebenso oft auch Systeme darstellen; man hält
nämlich den Gegenstand, anstatt ihn absolut zu construiren, an irgend einen zweiten
(in unserem Falle Dichtkunst etwa an Philosophie oder an bildende und zeichnende
Künste) und vergleicht willkürliche Merkmale so unnütz hin und her, als es z. B. sein
würde, wenn man von der Tanzkunst durch die Vergleichung mit der Fechtkunst einige
Begriffe beibringen wollte und deswegen bemerkte, die eine rege mehr die Füße, die
andere mehr die Arme, jene bewege sich mehr in krummen, diese in geraden Linien,
jene für, diese gegen einen Menschen.“
|#f0059 : 37|

Farben, der Dichter durch das Nacheinander der Worte. Dieser
Unterschied ist so bedeutend, daß er uns auf eine neue wesentliche Bestimmung
der Poesie führen wird. Zunächst ersehen wir schon daraus, daß
der Kreis der Poesie ein unendlich größerer ist, als der der Malerei! Die
Malerei kann niemals eine Entwickelung geben, sie kann immer nur
den Moment darstellen, und es kommt für sie wesentlich darauf an,
den schlagenden Moment zu wählen, dessen Gegenwart eine so vielsagende
ist, daß er zugleich die Vergangenheit zusammenfaßt und den
Wiederschein der nahen Zukunft trägt. Die Poesie aber ist wesentlich
Entwickelung; sie giebt eine Aufeinanderfolge der Momente, und deshalb
fällt alles innere und äußere Geschehen in ihren Kreis, nicht blos
die Handlung selbst, sondern auch ihre Genesis und ihre Folgen.


Man hat in der neuesten Zeit von einer Poesie des „Nebeneinander“
gesprochen! Karl Gutzkow hat sie in seiner Vorrede zu den „Rittern
vom Geiste“ der Poesie des Nacheinander gegenübergestellt und scheint
so die Dichtkunst in ein ihr fremdes, räumliches Gebiet herabzudrücken.
Doch ist dies blos Schein; denn der Autor spricht nur von nebeneinanderbestehenden,
concentrischen und excentrischen Lebenskreisen, die in fortwährender
Rotation um ihre Mittelpunkte sind; er spricht nur von einem
gleichzeitigen Geschehen, von einem „Nebeneinander“ der Handlungen
und Empfindungen. Und hierdurch wird sogar die Grenzlinie
zwischen Poesie und Malerei noch schärfer bestimmt. Denn die Gleichzeitigkeit
der Handlungen kann nur die Poesie darstellen, nicht die
Malerei, obwohl sie auch ein Nebeneinander im Raume voraussetzt.
Doch der Zeitbegriff ist hierbei überwiegend. Homer kann malen, was
gleichzeitig auf der einen und auf der anderen Seite des Schlachtfeldes
vor sich ging; er kann dies freilich nur „nacheinander“ malen; die Phantasie
kann die Bilder nur nacheinander aufnehmen; aber wie der Dichter
durch sprachliche Bestimmungen die Gleichzeitigkeit ausdrücken kann, so
kann auch die Phantasie in einem blitzartigen Moment das „Nacheinanderangeschaute“
zugleich setzen. Der Maler dagegen kann nur das
Eine oder das Andere malen und wenn er beides malt, so hat seine Kunst
kein Mittel, das Gleichzeitige und Zusammengehörige der beiden Bilder
auszudrücken.


Lessing hat diesen Unterschied im „Laokoon“ scharf und schlagend |#f0060 : 38|

auseinandergesetzt; aber gerade die Schärfe seiner Bestimmungen läßt sie
leicht einseitig erscheinen, wenn sie nicht einer erweiternden Auslegung
theilhaft werden. Körper sind nach ihm der Gegenstand der Malerei;
Handlungen der Gegenstand der Poesie. Doch Körper existiren nicht
allein im Raume, sondern auch in der Zeit. Jede Erscheinung ist
Wirkung einer vorhergehenden, Ursache einer folgenden, und somit das
Centrum einer Handlung. Folglich kann die Malerei auch Handlungen
nachahmen, aber nur andeutungsweise durch Körper. Auf der andern
Seite können Handlungen nicht für sich selbst bestehen, sondern müssen
gewissen Wesen anhängen. Jnsofern nun diese Wesen Körper sind oder
als Körper betrachtet werden, schildert die Poesie auch Körper, aber nur
andeutungsweise durch Handlungen. Die Malerei kann in ihren
coexistirenden Compositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung
nützen und muß daher den prägnantesten wählen. Ebenso kann
die Poesie in ihren fortschreitenden Nachahmungen nur eine einzige
Eigenschaft der Körper nützen und muß daher diejenige wählen, welche
das sinnlichste Bild des Körpers von der Seite erweckt, von welcher sie
ihn braucht.


Lessing spricht vorzugsweise von der epischen und dramatischen
Poesie
und vom historischen Gemälde: darum die Beschränkung
der Poesie auf Handlungen. Jm weitern Sinne müßte man dann
Empfindungen, insofern sie auch in der Zeit aufeinanderfolgen, die
innern Handlungen der Seele nennen. Oder glaubt Lessing die innere
Welt der Seele, die Empfindung ausschließen zu müssen, weil hier der
Vergleichungspunkt zwischen Malerei und Dichtkunst fortfällt? Fast
scheint es so, denn er sagt vorher: „Jch will bei den Gemälden blos sichtbarer
Gegenstände stehen bleiben, die dem Dichter und Maler gemein
sind.“ Freilich malt der Künstler blos „Sichtbares,“ aber die Empfindung
ist damit nicht ausgeschlossen. Ein Landschaftsbild z. B. ist nur
dann gelungen, wenn es eine bestimmte Stimmung der Seele
athmet. Lessing vergißt die Lyrik und die ihr entsprechende Landschaftsmalerei,
weil er eine zu scharf ausgeprägte Verstandesnatur
war, um sich auf diesem Gebiete der Jnnerlichkeit heimisch zu fühlen.
Für die Poetik gestaltet sich die Frage so: inwieweit und wie darf
der Dichter malen? Zunächst steht fest, daß das Malerische nie der |#f0061 : 39|

letzte Zweck des Dichters sein kann, und schon dadurch ist die beschreibende
Poesie
als eine bestimmte Gattung verurtheilt. Lessing ließ
gegen sie vorzugsweise die Batterieen seines Scharfsinnes spielen, da
gerade zu seiner Zeit die Thomson, Haller, Brockes und Kleist
sich einer großen Beliebtheit erfreuten. Das beschreibende Gedicht als
solches ist jetzt nur eine historische Curiosität und kann hier nur an dieser
Stelle besprochen werden. Sein Stoff ist die Natur, aber die todte
Natur in ihren Formen und Gestalten. Haller bringt die Botanik in
Verse und zergliedert uns eine Alpenblume: Wurzel, Stengel, Blatt,
Krone und Kelch, Staubfäden und Pistille, mit der Genauigkeit des
Naturforschers, der sie unter der Lupe angesehn. Was er uns aber nicht
zergliedern kann und doch allein als Dichter geben sollte: das ist der
Duft dieser Blume. Und der Duft überhaupt fehlt der beschreibenden
Poesie: der höhere Duft der Seele. Thomson malt uns die „Jahreszeiten“
in einer Mosaik von Bildern, aber der Eindruck seiner Dichtung
ist so ermüdend, als wären wir durch eine Gemäldegallerie von Landschaftsbildern
gewandert, die wir im Vorübergehn nur oberflächlich
betrachten konnten. Denn auf diesem Gebiet muß der Dichter gegen den
Maler den Kürzeren ziehen. Wohl fehlt auch die menschliche Thätigkeit
nicht; aber diese Thätigkeit tritt nur als Staffage auf. Diese
Schnitter und Winzer sind so äußerlich hineingemalt, wie ihre Aehrenbündel
und Mostfässer. Jn Kleist's „Frühling“ bemerkt man hin und
wieder eine pulsirende Ader der Empfindung ─ aber das Ganze geht
ebenfalls in einem Nebeneinander von Bildern, in einer äußerlichen
Breite auf. Die Aeußerlichkeit als Selbstzweck ist das Wesen der
beschreibenden Dichtgattung, und damit ist sie als eine unberechtigte
Zwittergattung zwischen Poesie und Malerei verurtheilt. Wenn das
Aneinanderreihen todter Bilder im Raume malerisch ist: so kann die
Schilderung nur dichterisch werden durch innere Bewegung. Man
kann zunächst der Natur diese Bewegung leihn, indem man nicht die
gewordene Gestalt festhält, sondern sie als im ewigen Proceß des
Werdens begriffen darstellt. Schon an und für sich ist die Natur in
Bewegung,
das aufgeregte Meer, der Sturm, das Gewitter dichterisch.
Man könnte sagen: „Hier ist Handlung in der Natur.“ Der Maler
kann nur einen bestimmten Moment fixiren, nur diese Gestalt des Wogenschlags, |#f0062 : 40|

der Brandung; der Dichter führt die wechselnden Erscheinungen
in der Zeitfolge an uns vorüber. Jn dieser Bewe gung der Natur symbolisirt
sich von selbst die menschliche Thätigkeit:


Und es wallet und siedet und brauset und zischt,
Wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt;
Bis zum Himmel spritzet der dampfende Gischt
Und Fluth auf Fluth sich ohn' Ende drängt,
Und will sich nimmer erschöpfen und leeren,
Als wollte das Meer noch ein Meer gebären.

(Schiller.)


Der Maler kann uns nur den moosbewachsenen Felsen, das Gebirge
mit seinen Klippen und Schluchten malen; der Dichter zeigt uns die
Thätigkeit der Natur, die es erschuf:


Als die Natur sich in sich selbst gegründet,
Da hat sie rein den Erdball abgeründet,
Der Gipfel sich, der Schluchten sich erfreut,
Und Fels an Fels und Berg an Berg gereiht,
Die Hügel dann bequem hinabgebildet,
Mit sanftem Zug sie in das Thal gemildet.

(Goethe.)


Noch berechtigter aber wird die Beschreibung, wenn sie die Natur
ganz in die Stimmung des Gemüthes auflöst und nur seine Reflexe über
das äußerliche Bild ausgießt. Hier hört der Landschaftsmaler auf, wo
der Dichter anfängt. Bei jenem geht die Stimmung aus dem Bilde,
bei diesem das Bild aus der Stimmung hervor. Jean Paul ist
Meister darin, auch das umfassendste Landschaftsgemälde in die Farben
der Stimmung zu tauchen, die seine Helden beseelt. Bei jener beschreibenden
Poesie wandert der Held durch die Landschaft; bei der echten die
Landschaft durch den Helden. Byron'sChilde Harold“ führt
uns durch halb Europa, malt uns Lissabon, Venedig, Athen; aber er
ist kein in Verse gebrachtes Reisehandbuch. Ueber allen diesen Bildern,
mag der Held auf der Seufzerbrücke in Venedig stehen oder dem Donnersturm
im Schweizer Jura lauschen, zittert der Hauch seiner eigenen,
gebrochenen Seele. Es ist die Elegie eines blasirten, heimatlosen
Gemüthes, das in der äußern Welt nur seinen Spiegel sucht und findet!
Doch die Beschreibung der Natur wird auch dann dichterisch, wenn wir
in ihr gleichsam die Parallelstellen zum Leben des Geistes aufsuchen,
wenn sich der dichterische Gedanke unmittelbar an die Schilderung knüpft.
Ein Mustergedicht hierfür ist Schiller's „Spaziergang,“ der an den |#f0063 : 41|

„Frühling“ Kleist's zu erinnern scheint, sich aber gerade dadurch von
ihm unterscheidet, daß wir nicht hier locker zusammenhängende Bilder
erhalten, sondern die vorüberfliehende Welt der Erscheinung zum Spiegel
wird für die sittliche Welt. Sehr schön und tief hat auch Goethe dies
Verhältniß des Menschen zur Natur, das die äußere Welt zum Gedicht
umzaubert, und damit das Geheimniß der echten dichterischen Beschreibung,
zugleich in einem herrlichen Muster derselben, in jenem bekannten
Faustmonolog geschildert:


Erhab'ner Geist, du gabst mir, gabst mir Alles,
Warum ich bat! Du hast mir nicht umsonst
Dein Angesicht im Feuer zugewendet.
Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich,
Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht
Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur,
Vergönntest mir, in ihre tiefe Brust,
Wie in den Busen eines Freund's zu schauen.
Du führst die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei und lehrst mich meine Brüder
Jm stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.
Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt,
Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste
Und Nachbarstämme quetschend niederstreift,
Und ihren Fall dumpf hohl der Hügel donnert;
Dann führst du mich zur sichern Höhle, zeigst
Mich dann mir selbst, und meiner eig'nen Brust
Geheime tiefe Wunder öffnen sich.
Und steigt vor meinem Blick der reine Mond
Besänftigend herüber; schweben mir
Von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch,
Der Vorwelt silberne Gestalten auf,
Und lindern der Betrachtung strenge Lust.


Das ist echte dichterische Malerei! Die Natur in Beziehung zum
Menschen, aber nicht in jener nothwendigen, aus der die Prosa der
Existenz hervorgeht, sondern in der freien, dichterischen! Hier ist kein
logischer Zwang, daß das bestimmte Naturbild gerade die bestimmte
Gedanken- und Empfindungskette hervorruft; es ist die freie Wahl des
dichterischen Gemüthes!


Wie verhalten sich nun die Freiligrath'schen Gedichte zu den aufgestellten |#f0064 : 42|

Grundsätzen? Sind sie nur eine exotische Pflanze im Blumengarten
der alten, beschreibenden Poesie? Jst Freiligrath nur ein Haller
redivivus, der, statt auf den Alpen, in allen Zonen herumbotanisirt?
Und soll diese reiche, neuentdeckte Welt, die durch ihre Farbenpracht so
anlockend wirkt, die Welt der Tropen und der Pole, deren Schleier kühne
Reisende zerrissen, für die Poesie ein für alle Mal verloren sein? Gewiß
nicht! Es kommt nur auf die Behandlungsweise an, und ein echtes
Dichtertalent wird uns keinen orbis pictus todter Bilder geben, ohne
die Seele, ohne die Bewegung der Poesie. Was zunächst liegt, ist, die
Natur zu schildern in ihrem Kampfe mit den Menschen und so ihren
großartigen Bildern die höchste Bewegung und tiefste Bedeutung zu
geben. Hierher gehört z. B. Freiligrath'sMirage“ und mein
Gedicht auf „Franklin,“ wo ich die Polarwelt in ihrem Kampfe mit
dem kühnen Weltentdecker schildere. Dann aber ist es der Hauch einer
kosmopolitischen Empfindung, der Odem eines mächtigen, völkerverbindenden
Weltverkehrs, welcher die Segel der Freiligrath'schen Gedichte
schwellt. Dies ist z. B. in „Florida of Boston“ nicht in breiten
Reflexionen ausgesprochen, aber doch wie ein Aether der Stimmung
über das Ganze ausgebreitet:


Sie bringt der alten Welt von einer neuen Meldung,
An deren grünem Strand das Schiff vorüberzog.


Jm „Gesicht des Reisenden“ ist die Wüste lebendig gemacht
mit allen ihren Schrecken; sie erzählt ihre Geschichte. Dies ist nicht
dichterische Schilderung, und kein Maler kann es darstellen, weil alles
wie im Wirbel vorüber braust:


Weh, auch die zerstreuten Knochen werden wieder zu Kameelen,
Und der braune Sand, der wirbelnd sich erhebt in dunkeln Massen,
Wandelt sich zu braunen Männern, die der Thiere Zügel fassen ─
Jmmer mehr ─ noch sind die letzten nicht an uns vorbeigezogen,
Und schon kommen dort die ersten schlaffen Zaums zurückgeflogen.


Jn seinen berühmten Thierbildern: „Löwenritt,“ „Unter den
Palmen
“ schildert Freiligrath nicht die Thiere, wie Raff, sondern
er zeigt sie uns in Bewegung, in heißem Kampf, und jeder Kampf hat
seine sittliche Spannung. Hat man Freiligrath den van Aken der
Poesie genannt: so gilt dies insofern mit Recht, als er zuerst gleichsam
seinen dichterischen Kopf der Thierwelt in den Rachen steckte und ihn |#f0065 : 43|

unversehrt wieder herauszog. Er hat Löwen, Schlangen und Wallfische
dichterisch courfähig gemacht. Jm Ganzen ist er von der Anklage, die
Grenzen der Dichtkunst und Malerei verwischt zu haben, freizusprechen.


Was die tausend Gegenstände des menschlichen Bedürfnisses und
Verkehrs betrifft, so darf der Dichter sie gewiß auch schildern, aber er
muß sich dabei von einer niederländischen Kleinmalerei frei halten. Denn
diese Objecte haben nur Werth für den Dichter, insoweit der Mensch seine
Seele, oder die Kultur ihre Bedeutung in sie hineingelegt. Hiergegen
wird von den neuen Romanschriftstellern fast durchgängig gesündigt.
Wenn Jmmermann schildert, wie der Hofschulze einen Wagen anspannt:
so ist dies zwar eine Reihenfolge von Momenten, von denen der Maler
nur eins herausheben könnte ─ aber er verfällt dabei in eine Prosa
der Technik,
die dem Maler nicht erspart bleiben kann, die aber jede
Dichtung verunstaltet. Die Farbe leiht Allem, auch dem Geringfügigsten,
einen schönen sinnlichen Schein. Ueberdies hat der Maler die
Mittel, das Geringfügige geringfügig darzustellen. Das Kleine erscheint
klein im Raume, das Unbedeutende kann in Schatten gestellt werden.
Dagegen wird das Wort, das Vehikel des Dichters, in dessen Klang kein
Maß liegt für das Große und Kleine, gemißbraucht, wenn es das Kleinliche
und Nichtssagende ausführlich malt. Am weitesten gehn hierin
unsere Dorfgeschichtenschreiber, welche den Grundriß jeder Scheuer mit
der Genauigkeit eines Architekten entwerfen und an jedem Düngerhaufen
ihre malerische Kunst versuchen. Doch nicht blos die niederländische,
auch die italienische Schule des neuen Romans verfällt in denselben Fehler.
Laube z. B. in seiner sonst vortrefflichen „Gräfin Chateaubriand
ist der Gropius der französischen Lustschlösser und ergeht sich
dabei in einer Decorationsmalerei, welche die Grenzen des dichterisch
Erlaubten überschreitet. Jm Allgemeinen ist anzuerkennen, daß die
französischen Romanschriftsteller in dieser Beziehung die englischen bei
Weitem übertreffen, die durch das Muster Walter Scott's sich zu dieser
verkehrten, breiten Ausmalung des bedeutungslos Aeußerlichen verleiten
lassen.


Wenn nun auch der Dichter in seinen Schilderungen nicht in das
Gebiet des Malers übergreift: so ist er immer noch zu tadeln, wenn er
den Vorsprung, den seine Kunst vor der des Malers hat, nicht geltend |#f0066 : 44|

macht. Nehmen wir z. B. ein Schlachtgemälde von Horace Vernet
und ein dichterisches von Scherenberg. Mag das erste noch so riesige
Dimensionen haben, wie seine „Smala“: Vernet kann immer nur
einen Moment darstellen, Scherenberg schildert eine ganze Schlacht,
ihre Entwickelung, ihre Krisen. Dieser Vortheil macht sich von selbst
geltend. Aber Vernet kann uns nur den äußerlichen Kampf der Franzosen
und Beduinen malen; er kann uns seine culturhistorische Bedeutung
nicht darstellen; er kann uns keine Perspective der Jdeeen entrollen. Der
Dichter, der sich freiwillig auf das beschränkt, wozu den Maler das Wesen
seiner Kunst zwingt, bleibt offenbar hinter den Anforderungen der seinigen
zurück. Scherenberg schildert uns in „Waterloo“ und „Leuthen“ glänzend
die taktischen Manövers der Schlacht, die Angriffe der Schwadronen,
die Evolutionen der Jnfanterie, die Wirkungen des Geschützes; auch
die Art und Weise seiner Schilderung ist dichterisch, schlagend, in großen
Zügen; aber über dem ganzen Bilde schwebt nur der Pulverdampf des
Malers, nicht der Hauch der geschichtlichen Jdee, welche gerade in der
Sprache des Dichters ihren begeisterten Apostel finden soll.


Wir haben bis jetzt erörtert, inwieweit der Dichter malen darf! Auf
die andere Frage, wie der Dichter malen soll, hat Lessing ein für alle
Mal die entscheidende Antwort gegeben und das Axiom hingestellt, dessen
Nichtbeachtung so vielen Dichtwerken der Gegenwart zum Nachtheile
gereicht. Die an den Raum gebannte Malerei kann nur einen einzigen
Moment der Handlung aus der Zeitfolge ergreifen und muß deshalb den
schlagendsten wählen; die in der Zeit fortschreitende Dichtkunst kann nur
eine Eigenschaft aus der Welt des Raumes ergreifen und muß deshalb
die bezeichnendste wählen. „Homer hat,“ sagt Lessing, „für ein Ding
gemeiniglich nur einen Zug. Ein Schiff ist ihm bald das schwarze Schiff,
bald das schnelle Schiff, höchstens das wohlberuderte, schwarze Schiff.
Weiter läßt er sich in die Malerei des Schiffes nicht ein. Aber wohl das
Schiffen, das Abfahren, das Anlanden des Schiffes macht er zu einem
ausführlichen Gemälde, zu einem Gemälde, aus welchem der Maler fünf,
sechs besondere Gemälde machen müßte, wenn er es ganz auf seine Leinwand
bringen wollte.“ Wenn auch die Schärfe der Lessing'schen Antithese
vielfache Milderungen zuläßt: so bleibt doch ihre Grundwahrheit
bestehen. Sie erklärt sich mit vollem Recht gegen jene verkehrte Gründlichkeit |#f0067 : 45|

der dichterischen Schilderung, welche den ruhenden Gegenstand
durch die erschöpfende Fülle seiner Eigenschaften darstellen will und
dadurch vor die Phantasie nur ein verwirrtes und zerrinnendes Bild
bringt. Der Maler giebt, wie die Natur, die sinnliche Anschauung mit
einem Schlage, indem die Fülle der Eigenschaften im Raume mit einem
Blick erfaßt wird. Der Dichter, der ihm nacheifern will, bringt sich um
die Wirkung seiner Kunst, indem die Menge von Eigenschaften, die in
der Zeit nacheinander aufgezählt werden, kein klares Bild geben kann.
Dies erreicht der Dichter nur, indem er die schlagendste Eigenschaft aufgreift.
Die Malerei beleuchtet ihren Gegenstand mit der Fackel, die
Dichtkunst nur mit dem Blitze. Das Aufzählen der Eigenschaften durch
die Sprache gehört der wissenschaftlichen Zergliederung an, welche die
Theile auseinander nimmt ohne Rücksicht auf das geistige Band; die
dichterische Anschauung aber soll das Ganze schaffen; die Phantasie verlangt
stets das ganze Bild. Auch das Bild des Dichters soll, wie das des
Malers, mit einem Schlage vor unserer Seele stehen. Das ist aber nur
dann möglich, wenn der Dichter die schlagende Bezeichnung trifft, die das
Bild plötzlich in die innere Vorstellung hineinhebt. Dies Element der
Phantasie, für welche der Dichter schafft, verträgt nicht die Bestimmtheit
der Umrisse und der Farbengebung, wie die todte Fläche des Malers;
aber selbst lebendig und beweglich, selbst zeugungskräftig, bedarf es nur
der begeisterten Anregung, um das Bild hervorzurufen. Das einzige
rechte Wort schafft auf diesem Boden besser die Gestalt, als ganze Sätze
voll beschreibender Phrasen. Das Bild der Dichtkunst ist geistiger Art!
Was ihm an Sinnlichkeit fehlt: das muß es durch Geist ersetzen.


Diese Erörterungen sind sehr fruchtbringend für die dichterische Praxis.
Man braucht heutzutage nicht mit Lessing auf Haller's Schilderung
des Enzians oder auf das Gemälde der Helena, das Constantinus
Manasses
entwirft, zurückzugehen, um die verfehlte Anwendung des
malerischen Princips innerhalb der Dichtung an Beispielen klar zu
machen. Unsere historischen Romanschreiber, Walter Scott an der
Spitze, haben uns hierin mit allzureichlichem Stoffe versorgt. Sie entwerfen
stets ein vollständiges Kostümbild ihrer Helden von Kopf bis zu
Fuß, von den Federn des Hutes bis zu den Sporen der Stiefel! Sind
wir aber glücklich bei den Stiefeln angelangt, so haben wir längst vergessen, |#f0068 : 46|

wie der Hut aussieht! Wir haben alle Kleider einzeln, aber nicht
den Eindruck, den der ganze Anzug macht, nicht sein dichterisches Bild,
das niemals durch ein todtes Nebeneinander von Eigenschaften hervorgerufen
wird. Sollen diese Eigenschaften von der Poesie dargestellt werden:
so müssen sie nacheinander, an einen geistigen Faden der Bewegung
gereiht, hervortreten. Homer giebt uns vom Schild des Achilleus
gleichsam die Geschichte; ebenso vom Bogen des Pandarus, und fängt
mit der Jagd des Steinbocks an, aus dessen Hörnern der Bogen gemacht
ist. Dadurch werden seine Eigenschaften für die Phantasie lebendig.
Freiligrath wäre nur ein exotischer Wouwerman und kein Dichter, wenn
er uns im „Löwenritt“ die Giraffe von Kopf zu Fuß so hinmalte, wie
jener seinen berühmten Schimmel. Dieser Dichter ist ein zu großer
Meister seiner Kunst, um solche todte Menageriebilder aus dem jardin
des plantes zu geben. Ein Poet aus der Schule Walter Scott's hätte
mit dem Stabe des Menageriewärters auf das ruhig dastehende Thier
gezeigt und dabei erzählt, daß es ein buntes Fell, einen braungefleckten
Hals, leichte Füße und große Schnelligkeit habe und überhaupt einem
Riesenpferde vergleichbar sei! Freiligrath aber malt diese Eigenschaften
in seinem klassischen Gedichte nicht nebeneinander hin; er läßt sie wie
Funken aus der lebensvollen Bewegung nacheinander hervorsprühen:


Plötzlich regt es sich im Rohre; mit Gebrüll auf ihren Nacken
Springt der Löwe; welch ein Reitpferd! Sah man reichere Schabracken
Jn den Marstallkammern einer königlichen Hofburg liegen,
Als das bunte Fell des Renners, den der Thiere Fürst bestiegen?

Jn die Muskeln des Genickes schlägt er gierig seine Zähne,
Um den Bug des Riesenpferdes weht des Reiters gelbe Mähne.
Mit dem dumpfen Schrei des Schmerzes springt es auf und flieht gepeinigt;
Sieh, wie Schnelle des Kameeles es mit Pardelhaut vereinigt.

Sieh, die mondbestrahlte Fläche schlägt es mit den leichten Füßen!
Starr aus ihrer Höhlung treten seine Augen; rieselnd fließen
An dem braungefleckten Halse nieder schwarzen Blutes Tropfen
Und das Herz des flücht'gen Thieres hört die stille Wüste klopfen.


Doch sollte dem Dichter die Schilderung der körperlichen Schönheit
z. B. der weiblichen, verschlossen sein? Sollte er keine Madonna, keine
Venus, keine Helena in seinen Versen malen dürfen, oder nur mit flüchtig |#f0069 : 47|

streifenden Beiwörtern, wie Homer die „göttlich schöne“ Helena und
Virgil die „pulcherrima Dido?“ Lessing führt die Schilderung der
„bezaubernden Alcina“ im „rasenden Roland“ an, um zu zeigen, wie
dies Ausmalen der einzelnen Züge, diese Fülle der hervorgehobenen
Eigenschaften das Bild zugleich verwischt und erdrückt. Dennoch muß
er zugeben, daß Einiges in diesem Gemälde dichterisch wirkt, und dies
Wirksame sind nicht die Formen und Farben, sondern der Reiz, die
Anmuth, welche, wie wir oben sahen, die Schönheit in Bewegung
ist. Jn kurzer Formel: der Dichter male die Schönheit als Wirkung
und male sie durch ihre Wirkung. Als Wirkung geht die Schönheit
aus der Seele hervor, die in wechselndem Reize um ihre Linien spielt.
So wenn es von der „Bianka“ in meinem Carlo Zeno heißt:


„Und stets die volle Seele giebt der Blick,
Begnügt sich nicht mit halbem Offenbaren!
Unsterblich lebt darin der Kindheit Glück,
Des Herzens Kindheit ewig unerfahren.
Nicht Knospen sind die Lippen vollerschlossen
Und doch von sanften Gluthen übergossen.
Und wenn ihr holdes Lächeln sich verfangen
Jn all' den Grübchen zart auf Kinn und Wangen,
Dann blüht darin ein solcher Lenz der Seele,
Daß selbst der Schnee des mürr'schen Alters thaut,
Daß Jeder lächelt, wer die Holde schaut,
Als ob ein Zauber zwingend ihm befehle.“


Die letzten Zeilen deuten zugleich das zweite an. Homer schildert die
Helena durch die Wirkung ihrer Schönheit, durch den Eindruck, den sie
auf die versammelten trojanischen Greise macht, als sie in ihre Mitte
tritt. Dies Malen durch den psychologischen Reflex ist echt dichterisch
und dem inneren Element der Phantasie angemessen. Daß die
Häßlichkeit dagegen eher mit dem stückweisen Aufbau der einzelnen
Züge in der Poesie geschildert werden kann, daß sie hierin viel weiter
gehen darf, als die Malerei: das erklärt sich gerade daraus, daß eben die
Schlagkraft des häßlichen Bildes durch das Nacheinander der Momente
in der Poesie gemildert wird, während sie durch ihr Nebeneinander in
der Malerei drastisch hervortritt. Man vergleiche hierüber, was Lessing
über den Laokoon gesagt.

|#f0070 : 48|


Um die reiche Gedankenwelt zu veranschaulichen, hat der Dichter
andere Mittel, als der Maler, dessen allegorische Darstellung nicht der
äußeren Attribute entbehren kann, um nur annähernd die Bestimmtheit
eines in eine Gestalt verwandelten Begriffes darzustellen. Der Dichter
begiebt sich daher seines Vorzuges, wenn er, wie Horaz, die Nothwendigkeit
mit eisernen Haken und Nägeln darstellt. Dies ist schlechte und
mit Recht getadelte Malerei; denn der Dichter macht hier unnöthigerweise
die Schranke dieser Kunst zur seinigen. Er muß die Nothwendigkeit
schildern durch ihre lebendigen Wirkungen, durch welche sie sich als die
eiserne Macht in den Geschicken der Einzelnen und der Völker offenbart.


Diese Winke mögen genügen, um zu zeigen, inwieweit und wie das
Malerische in der Poesie auftreten darf. Nur die geistig und sinnlich
bewegte Schilderung findet hier ihre Stätte, während die ungebührliche
Breite des malenden Elementes die Poesie in Prosa auflöst. ──────


Vierter Abschnitt.

Die Dichtkunst und die Musik.


Der Bund dieser beiden Künste und ihre Unzertrennlichkeit ist historisch
älter als ihr selbstständiges Bestehen. Seit der geflügelte Götterbote mit
seinem Fuße die Schildkröte berührt und durch den Ton, den sie von sich
gab, auf die Erfindung der Lyra geführt wurde, hat das alte Hellas die
Dichtgattungen und die Musik gemeinsam entwickelt. Zur lesbischen
Barbitos sangen Alkaeos und Sappho ihre liebeathmenden Strophen,
Flöten begleiteten das heitere Skolion nach der Mahlzeit und des Tyrtäos
kampflustige Distichen, die Nänien und Epitaphien an der Verbrennungsstätte
und am Grabhügel der Todten und die Epinikien des Pindar. Auch
der von keinem Jnstrumente begleitete Gesang, den die Alten nach
Varro „assa vox“ nannten, war ihnen bekannt. Die chorische Lyrik
des Stesichoros wurde ein Theil der Tragödie, und so gesellte sich die
dramatische Poesie dem Chorgesang und Klang der Jnstrumente. Aus
diesem innigen Bunde aber rissen sich Dichtkunst und Musik wieder los,
um in selbstständiger Entwickelung nach gesonderten Zielen zu ringen.
Wenn sie sich wieder gesellten: so geschah es nicht ohne Opfer von der |#f0071 : 49|

einen oder anderen Seite, nicht ohne daß die eine Kunst der anderen
dienstbar geworden wäre, freilich nicht ohne das Bewußtsein, welches
den römischen Bürger begleitete, wenn er in den Saturnalien die Rolle
des Sclaven übernahm: daß diese Dienstbarkeit eine freigewählte und
vorübergehende sei und er, abgesehen von ihr, die Herrschaft der Welt
behaupte. Daß sich Musik und Dichtkunst historisch aus einem und demselben
Keime erschlossen, deutet auf ihre innige Verwandtschaft als
schwesterliche Künste, eine Verwandtschaft in den ersten kanonischen
Graden, welche unbedingt die Ehe ausschließt, zu der ein neuer Kunstreformator
sie zwingen will. Die Musik hat mit der Dichtkunst die Welt
der Jnnerlichkeit gemein, welche nur den Bestimmungen der Zeitfolge unterworfen
ist. Das räumliche Bild, welches von der Poesie nur aus dem
äußeren Raum in die Vorstellung übertragen wird, ist aus dem Kreise
der Musik gänzlich ausgeschlossen. Die bestimmte Vorstellung, den
bestimmten Gedanken auszudrücken, fehlen ihr alle Mittel. Der Poesie
gegenüber ist sie eine Stumme von Portici, während sie den anderen
Künsten gegenüber der Welt zum ersten Male die Zunge löst. Sie ist
die Welt in ihrem innersten Ertönen, in ihrer ahnungsvollen Tiefe, in
welche ja die Seele des Menschen mitversenkt ist, und deren geheimnißvollen
Zauber sie mit größerer Macht ausspricht, als jede andere Kunst.
Jn ihrer Form erinnert sie an die Arithmetik, an die Zahl, die ja ebenfalls
in der Mitte zwischen Geistigem und Sinnlichem steht. Leibnitz
nannte die Musik mit Recht eine verborgene Arithmetik der Seele, die
zählt, ohne es zu wissen. Auf der Zahl beruht nicht nur die ganze
geheimnißvolle Architektonik der Musik: die Jntervalle der Töne und die
Einschnitte des Tactes; der Ton selbst beruht auf der bestimmten Zahl
der Schwingungen. Die Zahl bannt die forteilende Zeit in das künstlerische
Gesetz, und hier ist der Punkt, wo der Rhythmus der Poesie und
der Rhythmus der Musik sich begegnen. Aber wieviel reicher ist dieser
als jener! Welche zahlreiche Figurationen gestattet der einzelne Tact,
während dort die karge Form sich stereotyp wiederholt! Auf diesem
Gebiete kann die Poesie mit der Musik nicht wetteifern, und das beruht
auf dem wesentlichen Unterschied der Bedeutung, den der Ton für die
eine und die andere Kunst hat. Für die Musik ist der Ton das Material
der Kunst ─ nur in ihm kann sie ihren Jnhalt ausführen, nur mit |#f0072 : 50|

ihm ihre Gebäude errichten. Er ist der Baustein für jedes Theben, das
Amphion's Leier zusammensingt! Für die Poesie ist der Ton nur
Vehikel ─ und er ist es nicht als Ton, sondern als Wort, als
Zeichen der Vorstellung, und nur im Reim macht sich der sinnliche
Zusammenklang als solcher geltend. Darum sind die Geheimnisse der
Tonwelt und der ganze unerschöpfliche Reichthum ihrer Bewegungen für
den Dichter verloren! Er kennt ihn nicht, weil er ihn für seine Zwecke
nicht braucht! Um das Wort in seiner zeitlichen Bewegung auszudrücken,
dazu genügt ein einfacheres Maß, und um die Grenze des Verses
anmuthig zu markiren, um das Wort selbst tönen zu lassen: dazu
genügt der einfache Accord des Reimes. Will die Poesie hierin mit der
Musik wetteifern und den Accent auf das sinnlich berauschende Tönen
legen: so verwischt sie die Grenzen ihres Gebietes. Aufeinandergehäufte
Schlagreime oder allzuspielerisch und üppig verschlungene Reimformen,
wie sie uns manche romanische Muster bieten, zeigen uns dann das vergebliche
Streben der Dichtkunst, mit der Musik auf einem Boden zu wetteifern,
wo diese Kunst allein heimisch ist.


Die Welt der Jnnerlichkeit dagegen, welche beide Künste darstellen,
erscheint für jede als eine wesentlich verschiedene. Der Ton ist gleichsam
die Seele des äußern Objects, das in seinen Schwingungen von der
Starrheit der Materie erlöst wird. So ist er auch der äußere Stoff, in
welchem das innere Erzittern der Seele in wechselnder Stimmung und
Empfindung am geeignetsten dargestellt werden kann. Dagegen vermag
er weder die Empfindung in die Vorstellung zu erheben, noch die Vorstellung
in Empfindung zu verwandeln. Hier beginnt das Reich der
Dichtkunst! Sie ruft ihre Empfindungen durch Vorstellungen hervor
und malt sie in Vorstellungen aus! Das innere Bild ist für die Poesie
dasselbe, was für die Musik der Ton ist. Nur ein Verkennen dieser
Wahrheit, nur die irrige Ansicht, daß der Ton in der Dichtkunst dieselbe
Bedeutung habe, wie in der Musik, konnte die Theorie Richard Wagner's
hervorrufen, welche die Dichtkunst als unselbstständig und aus
dem Gefühl ihres Mangels heraus der Tonkunst in die Arme führt. Hier
ist umgekehrt zu behaupten, daß die Dichtkunst ihren ganzen Reichthum
aufopfert, wenn sie sich auf jenes einfache Weben der Empfindung
beschränkt, welches die Musik allein künstlerisch zu gestalten vermag. Ob |#f0073 : 51|

aber die Musik, wenn sie zu einem Mittel des Ausdrucks herabgesetzt
wird *), gewinnt: das ist eine Frage, deren Beantwortung nicht in eine
Poetik gehört.


Wir haben gesehn, wie alt der Bund zwischen beiden Künsten ist;
doch gerade ihre weitere selbstständige Entwickelung löste ihn mit Nothwendigkeit
auf. Der Dialog trat im Drama selbstständig hervor; die
Musik begleitete nur die Reflexionen des Chors und konnte in dieser
Begleitung nur eine untergeordnete Rolle spielen. Das Volkslied freilich
erzeugte sich stets zusammen mit der Melodie! Das naturwüchsige
einfache Empfinden, das sich nur halb für die Vorstellung erschloß,
bewegte sich auf demselben Boden mit der Musik; das Wort deutete nur
die Schwingungen der Seele an, welche erst in den Schwingungen des
Tones ihren vollständigen Ausdruck fanden. Das einfache Lied, nicht
einmal die ganze Lyrik, das Lied, in welchem das Bild nur wie ein
flüchtiger Schein aus dem wogenden Aether der Empfindung aufzuckt,
konnte daher bei der weiteren Entfaltung der beiden Künste allein ihrem
alten Bunde treu bleiben. Jene zarten hingehauchten Weisen Goethe's,
Uhland's, Heine's, Geibel's forderten ähnlich wie die Lieder der Minnesänger
die Musik heraus, der Empfindung einen volleren und wärmeren
Ausdruck zu geben. Doch waren diese Lieder deshalb keine Undinen,
keine Sprachnixen, denen nur die Musik eine Seele geben konnte. Man
lese diese Lieder; sie sind auf ihren eigenen Füßen ruhende Kunstwerke.
Sie haben in Bild und Wort, Rhythmus und Reim ihre eigene Musik
und wirken stimmungsvoll und die Empfindung weckend auf das Gemüth.
Die Musik kann diesen Ausdruck verstärken, aber sie ist für die künstlerische
Wirkung keineswegs unentbehrlich. Die Ode, die Elegie aber, alle
höheren Gattungen der Lyrik, in denen die Empfindung nicht mehr kindlich
an der Eischaale pickt, sondern mit freiem Fluge in das erschlossene Reich
der Phantasie sich erhebt, zeigen die charakteristischen Vorzüge der Poesie
in so glänzendem Lichte, daß die Musik mit ihren Mitteln nicht mehr folgen
kann oder die eigenen Vorzüge opfern müßte. Ebenso verhält es sich
mit der epischen, mit der objectiv=darstellenden Poesie, gegen die auch
Richard Wagner eine leichterklärliche Abneigung hat. Wir haben bereits

*)
Richard Wagner, Oper und Drama Bd. 1. pag. 21.
|#f0074 : 52|

im vorigen Abschnitt erläutert, inwieweit die dichterische Schilderung
berechtigt ist. Die Musik ist ganz Empfindung; in der Dichtkunst ist
die Empfindung nur der Duft, der über den entrollten Bildern der
Vorstellung zittert. Die Dichtkunst hat ebensoviel Verwandtschaft
mit der Malerei, wie mit der Musik. Nur die vollkommenste Unkenntniß
ihres Wesens konnte das Wagner'sche Paradoxon hervorrufen: „Was
nicht werth ist gesungen zu werden, ist auch nicht der Dichtung werth*).“


Wie verhält es sich nun mit der dramatischen Poesie? Hier sehn wir
täglich in der Oper ihre conventionelle Ehe, neben welcher freilich
sowohl Drama, als auch Musik selbstständig fortbestehn. Auf der andern
Seite wird uns das „Kunstwerk der Zukunft**)“ offenbart, in welchem
diese Ehe nicht nur als eine unauflösliche dargestellt, sondern überhaupt
jeder von beiden Künsten die Berechtigung einer selbstständigen Existenz
abgesprochen wird. Wenn wir das Verdienst dieser reformatorischen
That darauf beschränken, für die Vereinigung beider Künste eine neue,
aber keineswegs ausschließliche Form gefunden zu haben, und die Regeln,
welche für die reformirte Dichtkunst gelten sollen, nur auf die reformirten
Operntexte beziehn: so erscheinen viele Behauptungen des
ebenso schwerfälligen wie paradoxen Denkers, den man einen auf den
Kopf gestellten Lessing nennen könnte, weil er mit demselben Eifer,
wie jener auf die Sonderung der Künste und Kunstgattungen, auf
ihre Vereinigung bedacht ist, in einem günstigeren Lichte und können
um so heilsamer wirken, als keine Gefahr von der Verwirklichung jenes
janusköpfigen Jdeals, jenes Kunstwerkes der Zukunft zu befürchten steht,
außer in irgend einem Utopien, das zu seinen nothwendigen Voraussetzungen
gehört.


Richard Wagner wird scheinbar von einem sittlich reformatorischen
Drange getrieben, er ist ein ästhetischer Jean Jacques Rousseau.
Unser ganzer Kulturzustand mit der Fülle seiner Beziehungen ist ihm
lästig und unbehaglich; er geißelt ihn, wo er kann, mit ätzender Schärfe.
Er will den Menschen aus allen seinen Hüllen herausschälen ─ was

*)
Richard Wagner, Oper und Drama. Bd. 3. S. 208.
**)
Richard Wagner, das Kunstwerk der Zukunft (1850); Oper und Drama.
3 Bde. (1852.)
|#f0075 : 53|

bleibt da übrig, als der nackte, auf allen Vieren kriechende Urwäldler des
Einsiedlers von Montmorency? Unser Staat, unsere Gesellschaft, unsere
Religion und Sitte sind ihm nur Fesseln des Menschenthums. Sein
Jdeal ist der naive Gefühlsmensch ─ das rechte Jdeal eines Musikers.
Und in der That verkappt sich unter dem sittlichen Reformator nur
der „absolute Musikus,“ dem der ganze Reichthum unserer Kultur zuwider
ist, weil er sie nicht in Musik setzen kann. Denn er besitzt ästhetische
Einsicht genug, um über den Standpunkt der Componisten hinaus zu
sein, welche glauben jeden Thorzettel in Musik setzen zu können. Er will
die Schranke seiner Kunst zur Schranke aller Künste machen.
Darum setzt er die Malerei zur Decorationsmalerei herab, und seine
Liberalität gegen die Poesie, welche dieselbe mit vollstem Rechte zurückweisen
darf, ist nur eine scheinbare. Er küßt sie wie Judas, indem er
sie gefangen nehmen läßt. Doch wird man uns entgegnen, er räumt ihr
ja ein höheres Recht ein, als alle früheren Componisten; er will sie ja
von ihrer Dienstbarkeit gegen die Musik im Operntexte befreien; er macht
ja umgekehrt die Musik nur zur Auslegerin der Poesie. Man vergißt
aber dabei, daß die andern Componisten die Poesie nur für ihre Zwecke
dienstbar machten und ihr außerhalb der Oper ein Reich unbestrittener
Herrschaft ließen, daß aber Wagner außerhalb des Kunstwerkes der
Zukunft keine Poesie mehr gelten läßt! Und dies Kunstwerk der
Zukunft ist, trotz der scheinbar demüthigen Stellung der Musik, so wesentlich
Oper, das Drama verzehrende Oper, daß die Poesie nur die Rolle
einer apanagirten Prinzessin spielt, nachdem man ihr all' ihre Königreiche
geraubt. Man hat die Oper überhaupt einen constitutionellen Staat
genannt, obgleich in ihr nur ein Scheinconstitutionalismus Geltung hat,
indem die Musik alle Herrschaft und die Poesie nur eine berathende
Stimme hat. Dies Verhältniß ist im Kunstwerke der Zukunft keineswegs
aufgehoben, und man braucht blos an mit voller Orchesterbegleitung
gesungene Strophen zu denken, um die bescheidene Rolle anzuerkennen,
die hier dem dichterischen Worte zufällt. Ob aber die Musik
ihrerseits bei dieser declamatorischen Richtung gewinnt, welche die Melodie
nicht gelten läßt, sondern nur einzelne melodiöse Sätze, die Musik an
Sylben, Worte, Metren bindet, es nur zu musikalischer Erwärmung
bringt: das ist eine Frage, deren Beantwortung den Musikern von Fach |#f0076 : 54|

zufällt. Jedenfalls sieht Wagner nur mit dem Auge des Musikers.
Darum wüthet er gegen das Literaturdrama, d. h. gegen die dramatische
Dichtung, welche die Charaktere auf den Boden reich gegliederter Lebensverhältnisse
stellt. „Der Mensch, der im Drama der Zukunft sich darstellen
wird, hat mit dem prosaisch intriguanten, staatsmodegesetzlichen Wirrwarr,
den uns're modernen Dichter in einem Schauspiele auf das
Umständlichste zu wirren und zu entwirren haben, durchaus Nichts mehr
zu thun; sein naturgesetzliches Handeln und Reden ist: Ja, ja! und
Nein, nein! wogegen alles Weitere vom Uebel d. h. modern, überflüssig
ist*).“ Also die entsetzliche Armuth der Naturlaute soll das geistig
reiche Pathos der Tragödie ersetzen! Und warum ─ weil die Musik mit
diesem gedankenvollen Pathos Nichts anzufangen weiß! Man vergleiche
den dichterischen Text eines „Hamlet“ und „Macbeth,“ „Wallenstein“
und „Carlos“ mit dem Text eines „Tannhäuser,“ und man wird einsehn,
welche Bereicherung der Poesie das Kunstwerk der Zukunft in Aussicht
stellt. Ganz folgerichtig erklärt sich Wagner auch für das Wunder in
der Poesie und schlägt überhaupt jene romantische Richtung ein,
welche musikalischen Motiven günstig ist, aber die objective Gestaltung
der Dichtkunst im höchsten Grade beeinträchtigt. Wenn wir indeß das
Kunstwerk der Zukunft seiner nach Alleinherrschaft strebenden Ansprüche
entkleiden: so läßt es sich wohl, wie auch die Wagner'schen Versuche
beweisen, als ein musikalisches Drama denken, das allerdings entfernt an
die antike Tragödie erinnert, schwer aufzufindende, einfache Gefühlsstoffe
wählt und in der Ausführung Poesie und Musik in einem gewissen mittleren
Gleichgewichte, in einer mittleren Temperatur hält, in welcher aber
beide Künste Gefahr laufen, das Niveau der Mittelmäßigkeit nicht zu
überschreiten. Daß das mindestens bei der Poesie der Fall ist, beweisen
vorläufig die Wagner'schen Operntexte, die als Operntexte ganz gut, als
poetische Kunstwerke aber ohne alle Bedeutung sind.


Die Wagner'schen Paradoxen erweisen sich in der That ersprießlich ─
für die dichterische Gestaltung des Operntextes, wenn wir auch als Princip
festhalten, daß der Dichter in der Oper, ihrem ganzen Wesen nach,
nur für die Zwecke des Musikers arbeitet. Er kann dies mit gutem

*)
Kunstwerk der Zukunft p. 204.
|#f0077 : 55|

Gewissen thun, da ihm ja sonst das freie, unverkümmerte Reich der Dichtkunst
offen steht. Jn der Kunst der Beschränkung wird sich hier der
Meister zeigen. Der Operndichter kann nur ganz einfache Stoffe
wählen, Stoffe, deren Motivirung in durchsichtigster Klarheit vorliegt,
die sich nur in der Gefühlssphäre bewegen. Verwickelte politische Jntriguen
sind ebenso ausgeschlossen, wie verwickelte psychologische Motive.
Ein „Hamlet“ läßt sich ebensowenig in einen Operntext verwandeln, wie
„ein Glas Wasser.“ Und doch ist bei Hamlet eine große Tiefe der Jnnerlichkeit;
aber sie steht nicht auf dem Boden des einfachen Gefühles, sondern
sie durchläuft alle Vermittelungen geistvoller Reflexion. Das ist
höchst dichterisch, trotz Richard Wagner, aber durchaus nicht musikalisch.
Dagegen wird die Einfachheit des Motivs nicht ausgeschlossen, wenn
es sich an die Massen vertheilt. Darum sind: die „Stumme von
Portici
“ und „Tell“ gute Operntexte. Der Operndichter kann in der
Charakteristik nicht in's Einzelne gehen, wie der Dramatiker, der die
speciellsten Züge wählt und bis zu den schroffsten Linien fortgeht; hier
kann die Musik nicht folgen. Er muß die Gestalten in allgemeinen
Umrissen halten. Darum ist die phantastische Wunderwelt ein geeigneter
Hintergrund für die Oper, für welche die Gestalt als solche gleichgültig
ist, und welche ebensogut ein Quartett von fleurs animées schreiben kann,
wie von Prinzen und Prinzessinnen. Die gestaltlose Welt, die Naturerscheinung,
das empörte Meer, der Sturm, das Unwetter sind passende
Zwischenspiele der menschlichen Handlung in der Oper. Diese Handlung
selbst kann wohl mit Märschen, Kämpfen, Tänzen ausgeschmückt sein;
aber sie muß in ihrem einfachen Gange sich an Conflicte des Gefühles
anschließen. Die Musik hat alle Mittel, das einsame Gefühl sowohl in
seiner Jnnerlichkeit, wie sein Steigen, sein Wachsthum, sein Heraustreten
und Hervorbrechen darzustellen. Hierin muß ihr der Operndichter
entgegenkommen. Ebenso soll er den Einzelnen der Masse gegenüberstellen,
Kämpfe und große Erschütterungen der Massen vorführen. Er
muß allen einzelnen Musikformen vom Lied und Duett bis zum Sextett,
vom Chor bis zum allstimmigen Finale Gelegenheit geben, sich geltend
zu machen. Dabei darf er freilich das poetische Gesetz richtiger Motivirung
nicht vernachlässigen. Seine Kunst wird gerade darin bestehen, all'
jene Formen, sowie der Dramatiker seine Scenen, aus dem natürlichen |#f0078 : 56|

Gange der Handlung einfach zu entwickeln, so daß man nirgends die
Absicht merkt, wie der Dichter zwei oder vier oder sechs Helden nur
äußerlich zum musikalischen Appell zusammenbläst. Diese folgerichtige
Entwickelung aus dem Gefühle erstreckt sich auch auf die Scene, welche
ein Recht hat, in der Oper mitzuspielen und ihren ganzen Reichthum zu
entfalten, doch innerhalb der Grenzen poetischer Wahrheit. Deshalb
tadelt Wagner mit Recht den Sonnenaufgang in Meyerbeer's
„Propheten,“ der nicht dramatisch motivirt ist, obwohl dies so leicht
möglich war. Das Schlittschuhlaufen in dieser Oper fällt unter denselben
Gesichtspunkt. Die meisten Operntexte leiden am Mangel einfach klarer
und folgerichtiger Motivirung. Daher sind sie zum Theil unsinnig, zum
Theil unverständlich. Was nun den dichterischen Text selbst betrifft: so
muß er zunächst rein und wohllautend sein, mit größter Einfachheit die
Empfindung aussprechen, da hier der Musiker, nicht der Dichter die
reichere Farbengebung übernimmt. Tiefe Gedanken, prächtige oder breite
Schilderungen, hinundhergehende Reflexionen sind ebenso ausgeschlossen,
wie allzu üppige rhythmische Formen. Klarer, angemessener, harmonischer
Ausdruck und Reinheit des Reimes und Rhythmus sind dagegen
durchweg erforderlich. Nur indem die Poesie auf die Fülle und den
Glanz ihres Wesens verzichtet, kann sie mit der Musik ein Bündniß eingehen.
Diese Verzichtleistung erkennt auch das Kunstwerk der Zukunft
an; aber indem es sie zur absoluten macht und die ganze Dichtkunst auf
das Niveau eines guten Operntextes herabdrückt, erweist es sich nur als
ein reactionärer Rückgang zu den Anfängen der Kunst und entspricht
jenem unhistorischen Standpunkt ikarischer Sittlichkeit, der aus der reichen
Entwickelung der Geschichte heraus in irgend ein geträumtes Eldorado
flüchtet. Wagner ist in der „Aesthetik“ ebenso abstrakt, wie jene Naturrechtslehrer
Hobbes und Hugo Grotius, welche eine vor- oder nachgeschichtliche
Zeit zur Begründung ihrer Lehren wählten. Seine Kunstlehre
ist so einseitig, wie jene Rechtsphilosophie, und sein „absolutes“
Kunstwerk wäre zugleich eine Vermischung der Gattungen und ihr
ununterbrochenes Opferfest.

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Fünfter Abschnitt.

Die Poesie und die Prosa.


Jndem die Poesie mittelst der Sprache ihr Werk in der nicht mehr
unmittelbaren Sinnlichkeit der Vorstellung aufbaut, steht sie in bedenklicher
Weise an den Grenzen der Prosa, welche ebenfalls durch die Sprache
Begriffe, Vorstellungen und Anschauungen zu erwecken sucht. Doch das
Wesen der dichterischen Weltanschauung und des dichterischen Kunstwerkes
bestimmen hier alsbald einen tiefbegründeten Unterschied.


Die Poesie ist älter als die Prosa! Das Gefühl lebte und webte in
vollständiger Einheit mit der Welt, und das ist der Boden der Dichtkunst,
welche unentwickelt blieb, wie die unerschlossene Welt, aber doch im dumpfen
Weben bereits ihr eigenstes Wesen offenbarte. Erst die Analyse des
Verstandes zerbrach diese Einheit. Sie zeigte den Zusammenhang der
Erscheinungen, stellte auf die eine Seite das Object, auf die andere den
Begriff, und löste das Object in seine Eigenschaften, den Begriff in seine
Unterschiede auf. Jm Leben selbst aber schuf sie eine Fülle praktischer
Zwecke, ließ den Willen schwanken zwischen Pflicht und Genuß und
in neuen oder stets erneuerten Anläufen nach seinen Zielen ringen. Die
prosaische Weltanschauung beruht auf dieser Sonderung des Begriffes
und der Erscheinung, des Strebens und des Zweckes, oder sie geht nicht
einmal dazu fort, nimmt die Dinge, wie sie sind, respectirt ihre ganze
Zufälligkeit und versenkt sich mit Behagen in die von allen Jdeeen verlassene
Wirklichkeit. Das ist der Standpunkt des gewöhnlichen Lebens,
jene Analyse der Standpunkt der erkennenden Wissenschaft. Für die
Poesie nun scheint zunächst der Jnhalt derselbe; auch sie hat es mit
Erscheinungen und Gedanken zu thun; aber ihr Wesen ist die lebendige
Einheit von beiden; sie entkleidet die Erscheinung ihrer Zufälligkeit, indem
sie dieselbe als Spiegel der Jdee auffaßt; sie feiert die ewige Menschwerdung
des Gedankens, indem sie denselben in die Fülle der Erscheinung
untertaucht. Die Atomistik des Verstandes liegt ihr ebenso fern, wie
die praktische Rastlosigkeit des Willens. Sie läuft nicht an einer Reihe
endlicher Zwecke dahin. Sie schaut die einzelne Erscheinung sub specie
aeternitatis, im ewigen Lichte der Schönheit als Selbstzweck, und
wenn sie den ursächlichen Zusammenhang der Erscheinungen mit aufnimmt, |#f0080 : 58|

so läßt sie ihn nicht in eine endlose Kette auslaufen, sondern sie
führt ihn, wie die Strömungen des Blutes im Organismus, auf einen
lebensvollen Mittelpunkt zurück. Sie ist und bleibt im Herzen der Welt!


Dichtwerke, welche den Standpunkt des gewöhnlichen Lebens zu dem
ihrigen machen, fallen daher aus der Poesie heraus. Sobald mir die
Welt, wie sie gerade ist, der Mensch, wie er geht und steht, das sinnliche
Ding, an das ich meine Nase stoße, das ganze Neben- und Durcheinander
der Erscheinung ohne alle Reflexe der Jdee ein würdiger Gegenstand
der Poesie erscheint, befind' ich mich mitten in der Prosa. Hierher gehört
zunächst die beschreibende Poesie, dann aber, ihrem Wesen nach, die ganze
Dorfgeschichtenliteratur, ein großer Theil der historischen Romane und
der sogenannten praktischen Bühnenstücke. Auf diesem ganzen Gebiete
fängt überall die Prosa an, wo der Humor aufhört, der allein in diese
Welt der Aeußerlichkeit den Blitz des Jdeals zaubert. Jean Paul
z. B. mag das Detail eines Schulmeisterlebens bis in seine mikroskopischen
Züge erschöpfen; er bleibt immer ideal, weil er mit dem Auge des
Dichters schaut, weil er die Jdee, wenn auch in verkehrter Spiegelung,
in die Erscheinungswelt hineinflieht. Den beliebten Dorfgeschichtenschreibern
ist es aber feierlicher Ernst mit jedem Tische in der Dorfschenke, mit
jedem Pferdegeschirr, das im Stalle hängt. Jeremias Gotthelf schildert
ohne allen Humor den Kampf zweier Mägde, von denen die eine die
andere in die offene Düngergrube gestoßen; er stellt Betrachtungen über
die beste Methode der Stallreinigung an und verfolgt in seinem Hauptwerke
den praktischen Zweck, nachzuweisen, wie man aus einem guten
Knechte ein guter Bauer wird. Sein „Uli“ ist eine in Scene gesetzte
Gesindeordnung. Andere schildern die Volkssitten im Schwarzwald oder
in Böhmen oder in Schlesien und gerathen in das Gebiet der Reisebeschreibung.
Oder man erzählt uns eine ziemlich verwickelte Criminalgeschichte
nach Art und Weise des neuen Pitaval, in welcher weder der
Steckbrief des Helden, noch die genaue Beschreibung des corpus delicti
und die Angabe aller Jndicien fehlt. Unser juristischer Verstand findet
dabei vielleicht eine nicht uninteressante Beschäftigung; aber seine Thätigkeit
hat mit der Poesie Nichts gemein. Der historische Romanschriftsteller
liebt es, seinem Werk eine weitläufige geschichtliche Einleitung vorauszuschicken,
in welcher er uns sowohl über sein Quellenstudium unterrichtet, |#f0081 : 59|

als auch im Nachweis triumphirt, daß er von der Geschichte fast gar nicht
abgewichen. Der Bühnendichter aus Kotzebue's und Jffland's Schule
nimmt irgend eine Verlegenheit des alltäglichen Lebens, eine Spielschuld
oder einen Diebstahl aus Hunger, und macht daraus ein Drama. Das
ist alles eine in der modernen Literatur reichwuchernde Prosa, welche in
ihrer Unfähigkeit, die weitausgebreitete Kultur der Gegenwart mit ihren
tausendfachen Beziehungen dichterisch zu beseelen, beliebig irgend eine
Zufälligkeit aus ihr herausgreift und uns diesen unverarbeiteten Rohstoff
als ein Kunstproduct auftischt. Die Analyse des Verstandes aber, die
sich unter einer dichterischen Maske verbirgt, bringt nur die didaktische
Poesie
hervor, die wir wegen der zahlreichen Producte, die sie erzeugt,
noch besonders betrachten müssen. Hierher gehören auch eine Menge
neuer französischer Romane, in denen das Seelenleben und die
Gesellschaft nur verstandesmäßig analysirt sind, ohne irgend eine
poetische Synthese.


Ueber diese verstandesmäßige Analyse, sowie über die Zufälligkeit der
sinnlichen Welt erhebt sich indeß die Philosophie und scheint so mit
der Poesie zusammenzufallen. Jn der That gilt Beiden nur die Einheit
der Jdee und der Erscheinung, aber diese Einheit verwirklicht die Philosophie
in der Jdee, die Poesie in der Erscheinung. Es ist gewiß die
höchste Aufgabe der Poesie, das höhere auf das Weltganze und seine
ewigen Zwecke gerichtete Gedankenreich in sinnlicher Schönheit darzustellen,
und von der dunklen Symbolik der orientalischen Poesie bis zu
Dante's divina commedia und Goethe's „Faust“ haben großartige, über
die Grenzen der einzelnen Gattungen hinübergreifende Kunstwerke nach
der Lösung dieses Problems gerungen. Wo indeß dies Streben mißlang:
da war der Rest ein Niederschlag, den wir als philosophische Prosa
bezeichnen mögen, und der im unverarbeiteten Scholasticismus des
Dante'schen Gedichtes, in den trockenen Allegorieen des zweiten Theiles
von „Faust“ und in zahlreichen Gedichten unserer neuen philosophischen
Lyriker, in Mosen's „Ahasver“ und Jordan's „Demiurgos“ unverkennbar
hervortritt*). Gerade dies prosaische residuum macht den Unterschied

*)
Vgl. meine „Nationalliteratur der Deutschen in der ersten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts.“ Bd. 2. p. 293.
|#f0082 : 60|

zwischen Philosophie und Poesie am klarsten. Wo dem Dichter der
kühne Wurf gelingt: da scheint das Welträthsel gelöst, Wahrheit und
Schönheit vermählt, der höchste Gedanke, den der Denker in dialektischer
Entwickelung erzeugt, in unmittelbarer Schönheit auch für die Anschauung
geboren. Wo er mißlingt: da müht sich der Dichter ab, ihn auf Art und
Weise des Philosophen hervorzubringen; da hört man die dialektischen
Fäden in der Gedankenfabrik herüber- und hinüberschnurren; da sitzt die
Metaphysik als zehnte Muse am Webstuhl, aber wir erhalten nimmer das
fertige schöne Bild. Das vergebliche Ringen läßt auch den Ausdruck
seinen dichterischen Reiz verlieren und die Farb- und Gestaltlosigkeit des
philosophischen Denkens annehmen. Solche Wendungen finden sich
häufig in Sallet's sonst gedankenvollen Gedichten, so z. B. in „Unsterblichkeit“:



Doch was in mir den Wechsel überdauert,
Spürt mancher Jüngling noch in tiefster Brust,
Wenn ich aus Gott in ihn zurückgeschauert,
Unsterblich in der Menschheit mir bewußt!


Dagegen beruht Schiller's Dichtergröße vorzugsweise darauf, daß er
in seinen „Gedichten“ die höchsten Probleme des Gedankens in schönster
Anschaulichkeit mit aller Lebenswärme der Empfindung zu gestalten wußte.


Philosophie und Dichtkunst sind sich darin verwandt, daß sie beide
darauf ausgehen, ein Ganzes zu schaffen, das als ein Mikrokosmos
die Welt in sich trägt. Doch der Philosoph schafft dies Ganze nur, indem
er sein Gedankengebäude vollendet; das Einzelne ist lebendig, aber nur
für das Ganze, nur im Fluß der Jdee; für den Dichter ist das Einzelne
selbst das Ganze, selbst die erscheinende Jdee!


Doch nicht blos die Weltanschauung des Dichters unterscheidet das
dichterische Kunstwerk vom prosaischen; auch sein innerer Organismus
ist ein wesentlich verschiedener. Das Dichtwerk hat organisches
Leben;
es ist sich selbst Zweck; alle Gattungen der Prosa haben ihren
Zweck außer sich. Der gleiche Hauch der Liebe beseelt das Ganze und
auch seinen kleinsten Theil; in einem Dichtwerk kann nichts Zufälliges,
nichts Gleichgültiges existiren. Vergleichen wir die höchsten Gattungen
der Prosa, nächst der Philosophie, mit der Dichtkunst, um diesen Unterschied
klar zu machen!

|#f0083 : 61|


Die Geschichtschreibung hat den Zweck, uns über das Geschehene
zu unterrichten, uns dasselbe in seinem Zusammenhang vor Augen zu
führen. Mag sie dabei mit der Naivetät der Chronik zu Werke gehn
oder die pragmatische Darstellung vorziehn, welche die Thatsachen auf
ihre Ursachen zurückführt: sie bleibt an das zufällige Factum gebunden.
Sie erzählt das Ueberlieferte und sucht durch die Kritik der Quellen Alles
aus dem Wege zu räumen, was die Reinheit der Ueberlieferung trüben
könnte. Thatsächliche Wahrheit ist ihr Hauptzweck. Wohl kann sie
dabei auch Nebenzwecke verfolgen; sie kann patriotische Gesinnung zu
erwecken trachten; sie kann der Gegenwart den Spiegel der Vergangenheit
vorhalten wollen; aber alle diese Zwecke, selbst der Hauch
einer freien und frischen Gesinnung, erheben sie nicht in das Reich der
Poesie. Schon die Art und Weise, wie der Geschichtschreiber und der
Dichter sich zum gegebenen Material verhalten, markirt die Grenzen
zwischen Prosa und Poesie. Auch der Geschichtschreiber muß die Masse
des Stoffes, welche ihm das Studium der Quellen an die Hand gegeben,
künstlerisch sichten. Zunächst scheidet er das Unverbürgte aus; dann
sucht er das Widersprechende entweder unter einem höheren Gesichtspunkte
zu vereinigen oder er hebt nur die eine am meisten verbürgte und
begründete Nachricht hervor; dann sucht er das Bedeutende vom Unbedeutenden
zu sondern. Bedeutend aber ist ihm das, was ein Licht auf
den Zusammenhang der Thatsachen wirft, was die Gründe von Krieg
und Frieden, den innern Organismus der Staaten, den Charakter der
Staatsmänner und Feldherrn oder die Entwickelung der Kultur zu erhellen
vermag. Wieweit er in dieser Sichtung geht, das hängt vom
Charakter seines Werkes ab, indem eine Specialgeschichte eine viel
größere Fülle oft bedeutungsloser Mittheilungen aufnehmen muß, als
eine allgemeine Geschichte der Welt oder der Nation. Das Jnteresse der
Wahrheit als solche erstreckt sich bis auf die mikroskopischen Züge des
Weltgeistes. An und für sich ist der Geschichtschreiber hierin sowenig
beschränkt wie der Naturforscher, der stets neue Species von Jnsecten und
Käfern an seine Nadel spießt oder neue Arten berühmter Modeblumen
zieht ─ jede neue Kenntniß bereichert die Wissenschaft. Die Grenzen,
die sich daher der Historiker selbst steckt, sind beliebig und vom Zufalle
abhängig; denn es ist ein Zufall, ob er die Geschichte einer Burg und |#f0084 : 62|

Stadt oder die eines Zeitalters schreibt. Dagegen ist das Kunstwerk des
Historikers für den Dichter selbst wieder Material; er beginnt damit eine
neue Sichtung, aber nicht im Jnteresse thatsächlicher Aufklärung, im
Dienste der Wahrheit, sondern im Jnteresse künstlerischer Gestaltung, im
Dienste der Schönheit. Wie weit er dabei die Wahrheit berücksichtigen
muß, ist eine Frage, die uns noch später beschäftigen wird. Keineswegs
kann er die Erzstufen des Historikers benutzen; er muß ihr Silber los
schmelzen für seine Kunst. Die Breite der Kulturprosa, die ewigen
Wiederholungen des Geschehens, die nüchternen ursächlichen Zusammenhänge
sind ihm ein Gräuel ─ er sammelt alles Zerfahrne in einem
großen Brennpunkte des Willens und der Empfindung! Wie wesentlich
ist für den Historiker der Neuzeit die Darlegung diplomatischer Aktenstücke,
der Nachweis des Ganges der Cabinetspolitik! Wie unbrauchbar
aber für den Dichter ist das seelenlose Schreiberwesen, selbst wo es die
Geschicke der Völker entscheidet! Er muß die Politik aus dem todten
Spiele des Verstandes und völkerrechtlicher Beweisführung in die Seele
eines Helden hinüberretten, der seinen entscheidenden Willen in sie hineinlegt!
Wie wichtig ist für den Geschichtschreiber die friedliche Entwickelung
des modernen Verfassungslebens! Welcher Dichter der Welt aber könnte
z. B. die Geschichte des süddeutschen Constitutionalismus poetisch behandeln!
Oder wer die finanziellen Ursachen der französischen Revolution,
die Thiers und Louis Blanc so ausführlich darlegen, als dramatisches
Motiv benutzen, oder die Assignaten im Gesange eines Epos dichterisch
verklären? Da war freilich Homer glücklich, dessen Münze nicht
in papierenen Zeichen, sondern in lebenden Wesen bestand, und der den
Werth der Rüstungen des Glaukos und Diomedes nur durch die Zahl
der Rinder bestimmte, für welche sie feil waren. Der Dichter greift aus
der Geschichte ein Ganzes heraus, das einen nothwendigen Anfang und
Ende hat; der Historiker verfährt auch hierin willkürlich, er kann die
Geschichte Roms bis zu Augustus oder bis zu Constantin schreiben ─
das ist für den Werth seines Werkes gleichgültig. Wo aber der Geschichtschreiber
verstummt oder die in der Seele der Helden ruhende Begründung
ihrer Thaten nur andeutet: da tritt der Dichter in sein volles
Recht, indem er den vollen und ganzen Charakter erfaßt und die That
aus ihm mit Nothwendigkeit hervorgehn läßt. Das Phlegma der |#f0085 : 63|

Geschichte verwandelt er in Spiritus, das einmal Geschehene in ein
ewiges Geschehn!


Der Historiker scheint in das Gebiet des Dichters überzugreifen,
wenn er wie z. B. Livius eine bestimmte Situation durch selbsterfundene
Reden ausmalt. Sobald der Geschichtschreiber erfindet, wird er seiner
Aufgabe in der That untreu. Er mag seine Helden nur das sagen
lassen, was sie unter den gegebenen Umständen und ihrem Charakter
nach hätten sagen können: immerhin überschreitet eine Ergänzung in
dieser freien Art die Grenzen seiner Darstellung. Anders verhält es sich
mit dem Vortrage überlieferter Mythen, mögen sie noch so dichterisch sein.
Wo hingegen in der Sprache wie z. B. bei Schiller der dichterische
Schmuck vorwaltet, da wird der Ausdruck, der dem Geschichtschreiber
nur für seine Zwecke dienstbar sein soll, zu einer Bedeutung erhoben, die
er nur in der Dichtkunst besitzt!


Umgekehrt greift der Dichter in das Gebiet des Historikers über,
sobald er breite Einleitungen und Entwickelungen giebt, welche den
ursächlichen Zusammenhang der Begebenheiten mit dem ganzen Beigeschmack
stoffartiger Zufälligkeit auseinandersetzen, sobald er an Klio's
erborgten Faden nur einige schwächliche Fictionen reiht, sobald er durch
Bemerkungen jeder Art zeigt, daß ihm die historische Wahrheit mehr
gilt als die dichterische. Hiergegen sündigen Walter Scott, selbst
Bulwer z. B. im „letzten der Barone“ und ihre zahlreichen Nachahmer.
Der historische Roman verführt überhaupt zu solchen einleitenden
und vermittelnden Kapiteln, in denen der Dichter mit vollem
Bewußtsein den Griffel Klio's ergreift und den unverarbeiteten Rohstoff
der Geschichte handlangermäßig aufschichtet. Der Dramatiker ist diesen
Mißgriffen weniger ausgesetzt, weil er die Handlung aus den Characteren
heraus und mittelst ihrer eigenen Rede gestaltet, er müßte denn, wie
ein neuester Tragödiendichter, zu dem verzweifelten Mittel greifen, in
den Reden seiner Helden die historisch gesprochenen Worte in ihrer
authentischen Würde durch Sternchen auszuzeichnen, um sie von den
weniger glaubwürdigen Redensarten des Dichters zu unterscheiden.
Doch ist nicht zu leugnen, daß auch der historische Tragödiencyklus
Shakespeare's, der einigen neuern Revolutionsdramen und Hohenstaufenstücken
zum Muster diente, zu sehr an stoffartiger Erdschwere leidet, zu |#f0086 : 64|

sehr in äußerlicher Zeitfolge auseinandergezogen um keine dichterische
Sonne kreist.


Noch näher als die Geschichtschreibung scheint die Beredtsamkeit
an den Grenzen der Poesie zu stehn, wird aber durch die eine große
Kluft von ihr geschieden, daß das rhetorische Kunstwerk praktische
Zwecke verfolgt, während das dichterische Selbstzweck ist. Der Redner
wendet sich stets an den Willen, der Dichter an die Anschauung.
Der Redner will entweder, wie Demosthenes und Cicero, wenn sie ihre
Philippiken schleudern, die Gemüther aufregen mit einer bestimmten Wendung
zur That, oder, wie die berühmten Kanzelredner, sie einladen zur
Einkehr in sich selbst, zur Buße und Besserung, zu neuer Regelung des
moralischen Lebens! Wie aber unterscheidet sich eine oraison funèbre
von einem Leichenkarmen? Haben nicht beide den Zweck, den Ruhm
des Verstorbenen zu preisen? Der Redner darf diesen Zweck unverhüllt
in den Vordergrund stellen; der Dichter schreibt nur ein schlechtes Gelegenheitsgedicht,
wenn er hierin seinem Beispiele folgt! Was für den
Redner Zweck, kann für den Dichter nur Anlaß sein, ein selbstständiges
Kunstwerk zu gestalten. Ein Lobredner der Sieger bei den isthmischen
Spielen würde die Regeln seiner Kunst schlecht beobachtet haben, wenn
er wie Pindar in seinen Epinikien vom Lobe der Helden in kühnen Gedankenverbindungen
abgeschweift wäre. Umgekehrt wäre Pindar nicht
Griechenland's größter Odendichter gewesen, wenn er dies Lob zum
Zweck seiner Siegeshymnen gemacht, statt darin nur einen Ausgangspnnkt
für den Schwung seiner Begeisterung und seiner kunstvoll verschlungenen
Gedankenreihen zu suchen.


Durch den reichen sprachlichen Schmuck grenzt die Prosa des Redners
dicht an den poetischen Styl, und in der That ist von früheren Schriftstellern
z. B. von Hugo Blair Rhetorik und Poetik stets im Zusammenhang
behandelt worden. Doch auch was den Schmuck der Rede betrifft,
ist der Unterschied unverkennbar. Es giebt Redefiguren, die sich mehr
an den Willen wenden, und solche, welche mehr die Anschauung vor
Augen haben. Erstere dienen nur dazu, der Rede größeren Nachdruck zu
geben, mit größerer Energie auf den bestimmten Zweck hinzuarbeiten,
während letztere das schöne Bild, das sein eigener Zweck ist, mit größerer
Lebhaftigkeit vor die Seele zaubern. Deshalb sind alle grammatischen |#f0087 : 65|

und syntaktischen Figuren, z. B. diejenigen, welche auf der Stellung und
Wiederholung der Wörter beruhen, vorzugsweise rhetorisch, während die
Tropen, der eigentlich bildliche Ausdruck, mehr der Dichtkunst
angehören. Doch ist hier keine durchgreifende Grenze zu ziehen, die
allein durch das Tendenzmäßige der Rede, das Tendenzlose der Dichtung
bezeichnet wird.


Wie verhält es sich nun mit der Tendenzpoesie und mit den rhetorischen
Verirrungen der Dichtkunst? Diese Frage erscheint um so wichtiger,
als ein Theil der Kritik „Tendenz“ und „rhetorisch“ zu beliebten
Stichwörtern gewählt hat, mit denen vollkommen begriffslos gewirthschaftet
wird. Einseitige Geschmacksrichtungen bemächtigen sich solcher
Ausdrücke, um sie in ihrem Jnteresse auszubeuten. Der Begriff wird so
ausgeweitet, daß sein tadelnder Jnhalt auch auf berechtigte Dichtgattungen
paßt. Die romantische Schule insbesondere in ihrer Opposition
gegen die Schiller'sche Gedankenpoesie, Ludwig Tieck an der Spitze, der
unseren größten Dramatiker einen spanischen Seneca nennt, machten die
Rhetorik Schiller's zu einem Stichwort, welches bis in die neueste Zeit
gegen alle kräftigen Richtungen moderner Poesie von den Nachbetern der
Romantik benutzt wurde. Vorzüglich verurtheilte man damit die politische
Lyrik,
doch nur insoweit mit Recht, als es den Dichtern nicht
gelungen war, ein selbstgenugsames, vom Hauch der Stimmung durchzittertes
Bild für die Phantasie hinzustellen. Dieser Tadel trifft aber
keineswegs ihre berühmtesten Vertreter, welche mit gleichem Rechte wie
Pindar, Tyrtäos, Horaz, Körner den Staat in die Kreise ihrer
Empfindung zogen. Ein Kriegslied des Tyrtäos und Körner, die Marseillaise
eines Rouget de Lisle sind allerdings auf Märschen und vor
Kämpfen gesungen worden; aber der Dichter legte keinen äußerlichen
Zweck, sondern nur den Hauch seiner kriegerischen Stimmung in dieselben.
Eine Jdee, welche die Dichtung trägt, ist von einer Tendenz, die ihr nur
angeheftet ist, wesentlich verschieden! Hat der Dichter soviel Energie,
auch die politischen Bewegungen der Zeit ganz in seine Stimmung aufzunehmen,
ihnen Gestalt, Fleisch und Blut zu geben: so ist seine politische
Lyrik vollkommen berechtigt. Der Tadel der „Rhetorik“ trifft daher
nicht die Richtung als solche, sondern die dichterische Ohnmacht, die sich
in ihr versucht.

|#f0088 : 66|


Wenn man aber die geschichtlichen Trauerspiele Schiller's wegen ihrer
rhetorischen Stellen tadelt: so vergißt man dabei, daß im historischen
Drama das Rhetorische unabweislich Platz greifen muß, aber nur als
ein Moment im dramatischen Kreislaufe und im Dienste der Poesie!
Wir sehen, daß das Rhetorische sich vorzugsweise an den Willen wendet,
der sich auf bestimmte Zwecke richtet! Die Wurzel für alle höheren
Potenzen des Drama's ist aber eben der menschliche Wille ─ und
der dramatische Conflict entsteht aus dem Conflict seiner Zwecke. Es
werden daher hier Scenen vorkommen, wo auch durch die Energie des
Wortes auf den Willen eingewirkt wird! Ein Verschwörer, wie Fiesko,
der seine revolutionaire Begeisterung den Genossen einzuhauchen sucht, ein
Volksmann, wie Stauffacher, der die Gemüther durch die Macht der
Rede zum Freiheitsbunde entzündet, ein Staatsmann, wie Burleigh,
der seine Königin zum entscheidenden Schritte gegen die gefangene Feindin
zu bestimmen sucht, ein Feldherr, wie Wallenstein, der seine Kuirassiere
zum Abfalle vom Kaiser zu bewegen trachtet ─ wie sollen sie denn
anders als durch die Rede, durch eine allerdings dichterisch potenzirte
Rhetorik ihre Zwecke erreichen? Nicht blos Schiller, auch Shakespeare
ist reich an solchen Beispielen ─ wir erinnern nur an die Rede des
Marc Anton bei Cäsar's Leiche, an die zahlreichen Reden der Feldherren
an ihre Truppen, an die Reden der Mutter und Gattin des Coriolan
u. s. f. Wenn auch die dichterische Begeisterung hier einen höheren
Schwung nimmt, als die blos rednerische: so bewegen wir uns hier
durchaus nicht im reinen Element der Stimmung, sondern haben
bestimmte Zwecke vor uns, die durch bestimmte rednerische Mittel
erreicht werden sollen. Doch diese Zwecke sind nie der letzte Zweck des
Drama's selbst; das Rhetorische ist nur eine berechtigte Ausweichung
der dichterischen Diction und hebt sich wieder in die organische und selbstständige
Harmonie des Kunstwerkes auf. Auch erhält das Rhetorische
im Drama, da es einer bestimmten Person in den Mund gelegt wird,
zugleich die Bedeutung des Charakteristischen. Die Rede soll den
Charakter des Redners malen! Und in der That, wie hätte Shakespeare
den Charakter des Marc Anton schlagender darstellen können, als
durch seine meisterhafte Rede an Cäsar's Leiche! Alle diese feineren
Unterschiede sind indeß jener Kritik gleichgültig, welche mit dem Sturmbocke |#f0089 : 67|

des „Rhetorischen“ in alle neueren Geschichtsdramen Bresche läuft
und sich mit dieser Phrase ein Ansehen bei dem Publikum zu geben weiß!
Wir wollten hier nur auf die innere Nöthigung des Dramatikers, zu
rhetorischen Mitteln zu greifen, hinweisen und damit der gedankenlosen
Polemik eine wohlfeile Waffe aus der Hand winden.


Wenn wir so die Hauptgattungen der Prosa von der Poesie geschieden,
so bliebe noch übrig, zu untersuchen, inwieweit der prosaische, unrhythmische
und reimlose Styl selbst zum Träger des dichterischen Ausdruckes
und der dichterischen Darstellung werden kann. Doch wollen wir
diese Untersuchung erst aufnehmen, wenn wir die Bedeutung des Rhythmus
und Reims selbst genügend dargelegt.

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Zweites Hauptstück.

Der Geist der Dichtkunst. ──────

Erster Abschnitt.

Die dichterische Stoffwelt.


Die Jdee des Schönen ist Erscheinung. Jhre vollkommene
Erscheinung ist das vom Geiste hervorgebrachte Kunstwerk; aber auch in
der Natur, zu welcher wir hier die Geschichte mitrechnen müssen, erscheint
diese Jdee, wenn auch in einer vom Zufall getrübten und gestörten Weise.
Die Kunst läutert das Naturschöne durch ihre geistige Reproduction
und wählt aus seinem weiten Reiche den Stoff, der ihr am meisten entgegenkommt.



Von allen Künsten hat die Dichtkunst, die sich im freien Reiche der
Phantasie bewegt, die reichste Stoffwelt vor sich; ja sie vereinigt nicht
nur die Stoffwelten aller anderen Künste, sondern diese selbst in der ihrigen.
Das Werk des Architekten, des Bildhauers, des Malers kann die
Muse des Dichters selbst zu Ergüssen begeistern, welche jene Schöpfungen
durch das bewegte Wort ergänzen; ja der Dichter kann das wortlose
Werk des Musikers in bestimmte Anschauungen und Empfindungen übersetzen.
Zunächst bietet sich dem Dichter die physikalische und landschaftliche
Natur dar, die er aber, wie wir bereits oben gesehen, nicht selbstständig
behandeln kann, ohne in die unpoetische Beschreibung zu verfallen.
Wir besitzen zwar derartige schildernde Gedichte nicht blos in Bezug auf
die Jahreszeiten, sondern sogar auf die Gesundbrunnen mit medicinischdoctrinairem
Beigeschmack; doch können wir sie nur für Verirrungen
erklären. Dagegen bietet gerade die landschaftliche Natur die reichsten |#f0091 : 69|

Anregungen für das Gemüth, für die Stimmung des Lyrikers. Ein
Mairegen, ein Abendsonnenstrahl, ein Gang im Walde können befruchtend
auf sie einwirken. Die Kunst des Dichters besteht hier darin, Bild
und Empfindung in eins zu wirken. Darin sind Goethe, Lenau und
Geibel Meister. Das Naturobject als solches tritt nicht in den Vordergrund;
aber der Hauch, die Beleuchtung, die malerische Stimmung.
So ist z. B. das Schilf gewiß ein dürftiger Gegenstand für einen beschreibenden
Poeten, der uns seine hohen, dicken Halme, seine Rispe, seine silberhaarigen
Aehrchen botanisch vormalen wollte. Lenau aber in seinen
„Schilfliedern“ versetzt uns „an das öde Schilfgestade,“ wo das Rohr
im Winde bebt, läßt bald den Abendstern durch die Binsen und Weiden
scheinen, bald die Stürme den Teich aufwühlen, die Blitze ihn durchleuchten,
bald den Mond seine „bleichen Rosen“ in den grünen Kranz des
Schilfes flechten. So beseelt er die Natur und macht sie zum Spiegel
des Gemüthes. Das Schilfgestade ist hier die melancholische Stätte,
wie der melancholische Grund des Gemüthes; und wie über jene die
wechselnden Bilder und Beleuchtungen hinfliehen, so nimmt auch die
Melancholie des Dichters bald einen sanfteren, wehmuthsvolleren, bald
einen bewegteren, wilderen Charakter an. Die echte Poesie der „Jahreszeiten“
findet nur hier ihre Stätte, mag man nun den Frühling mit
Wilhelm Müller als Bräutigam auftreten lassen oder mit Lenau um
seinen Tod klagen oder den trennungsschaurigen Odem des Herbstes
und seine Schwermuth mit Lenau und Geibel besingen. Die „Jahreszeiten“
werden hier nicht zu selbstständigen Gemälden benutzt, nicht einmal
zu Arabesken, welche um den Rahmen eines inneren Seelenbildes
schweifen, sondern sie sind mit diesem innig verschmolzen. Doch auch
abgesehen von der unmittelbaren Einheit, in welcher die Stimmung der
Natur und die der Seele verschmelzen, giebt die landschaftliche, überhaupt
die unorganische Natur einen Reichthum von Bildern her, in denen sich
das Leben des Geistes spiegelt.


Der Geist wird ebensowenig durch solche Bilder aus der Natur herabgesetzt,
wie Bilder des geistigen Lebens zu tadeln sind, wenn sie auf
die Natur angewendet werden. Grün mag immer den Lenz einen Rebellen
nennen; er ist, trotz Julian Schmidt, damit in seinem guten Rechte.
So bleibt die Natur eine reiche Fundgrube für die dichterische Bildersprache, |#f0092 : 70|

besonders das Spiel der Kräfte, der Blitz, der Sturm, die Uebergänge
von Licht und Farben, in denen sich sowohl der Kampf des Menschenlebens,
als der Stimmungswechsel der Seele symbolisirt.


Die organische Natur kann schon selbstständiger in die Poesie eintreten;
sie hat schon ihre eigene, nicht erborgte Seele. Das Pflanzenreich
mit seinem stillen, sanften, allmählich wachsenden Leben hat, auch abgesehen
von der Symbolik der Blumensprache, eine eigenthümliche Verwandtschaft
mit dem Dichtergemüthe, dessen Schöpfung sich ebenso sanft
von der Seele löst, ebenso allmählich, aus Erd' und Himmel Nahrung
saugend, in die Höhe wächst! Die Pflanze hat zum Theil ihre stereotype
Poesie! Eine bestimmte dichterische Bedeutung ist untrennbar mit ihr
verbunden. Man kann z. B. nicht an die Eiche denken, ohne sich an
Manneskraft und deutsche Gesinnung erinnern zu lassen. Aehnlich geht es
mit der Rose, dem Veilchen, dem Vergißmeinnicht! Von Goethe's „Röslein
auf der Haiden,“ von Bürger's „Blümchen Wunderhold,“ von der
blauen Blume des Novalis, der Zauberblume der Romantik bis zu den
fleurs animées der neuen Miniaturlyrik haben Blumen aller Art in den
dichterischen Rabatten gewuchert. Die Poesie hat indeß dabei mehrere
Klippen zu vermeiden. Die erste, an welcher Haller gescheitert, ist die
botanische Beschreibung von Blatt und Stengel, Kelch und Krone; denn
wo das Herbarium anfängt, hört die Poesie auf. Die andere entgegengesetzte
ist das unklare Personificiren, das aus Grandville's malerischen
Arabesken in die deutsche Literatur übergegangen ist. Man legt in die
Pflanze zuviel Seele und Charakter und verwischt gerade dadurch ihre
bestimmte Physiognomie! Es ist eine Blumenfastnacht, welche durch
unsere Duodezgedichte schwirrt! Und dabei fallen die Blumen fortwährend
aus der Rolle, welche die Natur ihnen anvertraut! Diese Koketterie
einer willkürlichen Blumenbeseelung ist ein charakteristischer Zug unserer
modischen Toilettenliteratur. Jeder Poet hat seinen eigenen Selam!
Jn der Regel finden alle diese Personificationen der Blumen ohne inneren
Zusammenhang Statt; der Dichter geht durch einen Garten oder einen
Wald und sieht nun im Mondenschein oder sonstiger Beleuchtung die
verschiedensten Gestalten aus den Blumenkelchen steigen oder die Bäume
die sonderbarsten Gesichter schneiden. Diese allegorische Botanik ist
Selbstzweck! Wie ganz anders z. B. in Freiligrath's Mustergedicht „der |#f0093 : 71|

Blumen Rache,“ das leider! viel dazu beigetragen, den Blumenspuk der
Modelyrik zu entbinden! Dort ist alles Handlung; die Gestalten sind
ihre Träger und ebenso reizend wie angemessen geschildert. Auch in dem
Gedichte „die Lerche“ von Annette Droste-Hülshoff, in welchem
allegorisch das Nahen der Sonne als einer Fürstin und der ehrfurchtsvolle
Gruß der huldigenden Natur geschildert wird, läßt man sich die
kühne Blumensymbolik gefallen, da sie gleichsam im Geiste der Situation
gehalten ist:


Maaßliebchen hält das klare Auge offen,
Die Wasserlilie sieht ein wenig bleich,
Erschrocken, daß im Bade sie betroffen;
Wie steht der Zitterhalm verschämt und zage!
Die kleine Winde pudert sich geschwind
Und reicht dem West ihr Seidentüchlein lind.
Daß zu der Hoheit Händen er es trage!


Noch berechtigter ist diese Beseelung der Blumen, wo sie nur ein Wiederschein
des menschlichen Gemüthes in einer bestimmten Situation
ist, wo der Dichter nur mittelbar durch seinen Helden oder seine Heldin
diese Seele in die Blumenwelt hineinschaut. Wenn in meiner „Göttin
Marie, vom Geliebten entführt, auf ihrer Flucht durch den Klostergarten
eilt, so mag die folgende Stelle wohl nicht als müßige Malerei erscheinen,
sondern als lebendiger Ausdruck der Situation und der angstvoll
erregten Empfindung der Heldin:


Die Blumen neigen sich in bösem Grollen,
Wie Geister des verlassenen Altars!
Der Mohn mit schwerem Haupt im Mönchsgewand
Scheint schläfrig noch ein Anathem zu lallen.
Der Rittersporn erhebt zum Fluch die Hand,
Ein Lehnsherr, zürnend flüchtigen Vasallen.
Die Nachtviole schließt die Kelche zu,
Der Blick der Frevler soll sie nicht entweihn.
Die Lilie, aufgeschreckt aus bleicher Ruh,
Bebt schattenhafter noch im Mondenschein u. s. f.


Ein meisterhaftes Stimmungsbild aus dem Gebiete der Pflanzenwelt
hat uns Heine in seinem Liede vom „Fichtenbaum und der Palme“
gegeben. Auch zu Trägern eines Gedankenbildes eignet sich die Blume,
wie Uhland im „Mohn“ die träumerische Weltanschauung des Dichters, |#f0094 : 72|

Geibel in der „Sonnenblume“ die einsamplatonische Liebe und ich
selbst in „Passionsblume und Parnassia*)“ den Gegensatz zweier Weltanschauungen
darstelle.


Die Thierwelt in ihrer eigenen freien Bewegung und ihrer
Beziehung zum Menschen bietet der dichterischen Muse reicheren Stoff,
wenn auch hier, lebensvollen Wesen gegenüber, die Personification aufhört,
und das sinnig Träumerische des Pflanzenlebens in diesem schärfer
ausgeprägten organischen Proceß keine Stelle findet. Doch von Homer's
Rossen und Don Quixote's Rosinante bis zur Giraffe Freiligrath's hat
die Thierwelt in der Poesie eine große Rolle gespielt. Das Hauptinteresse,
das der menschliche Geist an der Thierwelt nimmt, ist darauf
begründet, daß er in ihr einen Spiegel seiner Eigenschaften findet:
darum erfreut uns das weiter ausgeführte Thierepos, ein Froschmäusekrieg,
ein Reineke Fuchs, weil wir in den Thiergesichtern die Menschenphysiognomieen
wieder erblicken, weil fast in jedem Thiere irgend eine
menschliche Eigenschaft bis zur Carrikatur ausgebildet ist. Auch Don
Quixote's Rosinante und Sancho's Grauer erregen nur deshalb unsere
Theilnahme, weil wir in ihnen nicht blos die Begleiter, sondern die
passenden Pendants ihrer Herrn erblicken. Freilich, wo die Thiermalerei
im Sinne der niederländischen Schule Selbstzweck wird, da hört die
Poesie auf, ebenso wo das Thier in einem Menschendrama zum Helden
wird, wie der Hund des Aubry, der einen großen Dichter von der Leitung
der Bühne verscheuchte. Freiligrath vermeidet diese Klippe nur dadurch,
daß er uns das Thierreich in seinen Kämpfen zeigt, in welche wir unvermerkt
ein menschliches Pathos hineinschaun. Dennoch geben wir einer
Ballade, wie „die Jagd des Mogul“ von Strachwitz, noch den Vorzug
vor den Freiligrath'schen Schlachtbildern der Thierwelt, weil dort
nicht nur der Kampf des Tigers mit dem Menschen geschildert ist, sondern
auch durch eine schlagende charakteristische Pointe ein menschlich
bedeutender Abschluß gewonnen wird. Dasselbe gilt von Schiller's
bekannter Ballade „der Handschuh.“ Für die Dichtgattung selbst
bestimmende Bedeutung hat die Thierwelt in der äsopischen Fabel
erhalten. Der Grund, warum hier der Dichter statt der Menschen

*)
Neue Gedichte S. 128.
|#f0095 : 73|

Thiere sprechen und handeln läßt, um irgend eine moralische Lehre
dadurch anschaulich zu machen, ist wohl hauptsächlich die größere Charakterbestimmtheit
der Thiere, die gleichsam in einer einzigen Eigenschaft
aufgeht. Der Fuchs vertritt die List, der Wolf den Räubersinn, das
Lamm die Sanftmuth. Es ist gleichsam eine Hieroglyphensprache,
welche dem gemeinen Bewußtsein verständlich ist. Der Mensch dagegen
eignet sich nicht zu solchen bildlichen Abbreviaturen des Begriffes, weil in
jedem Einzelnen eine Fülle von Eigenschaften lebendig ist. Hierzu
kommt, daß wir an Geschichten aus der Menschenwelt alsbald einen
Antheil des Gemüthes nehmen, während die Thierwelt zur ungetrübten
Versinnlichung einer Lehre darum geeigneter ist, weil wir ihren Geschicken
nur eine mäßige Theilnahme schenken, welche die Erkenntniß des moralischen
Gedankens durch keine Gefühlsaufregung zu verdunkeln vermag.


Der Mittelpunkt der Poesie ist der Mensch. Die landschaftliche
Natur ist sein Spiegel, Pflanzen- und Thierwelt die Symbolik seines
Wesens. Erst im Reiche des Geistes kann die Dichtkunst den höchsten
Aufschwung nehmen! Die menschliche Gestalt hat ihre Symbolik; sie
kündet schon mit beredteren Zügen den Geist! Wie der Dichter die
Schönheit schildern soll, haben wir schon oben gesehn! Die ideale
plastische Schönheit, das Götterbild, liegt seiner Kunst am fernsten,
dagegen ist das Jnteressante, Reizende, Pikante, Ausdrucksvolle der
äußern Erscheinung für sie ein günstiger Vorwurf. Jn der Schilderung
der Physiognomie darf der Poet nie die Grenzen jenes bekannten Schillerschen
Spruches überschreiten:


Es ist der Geist, der sich den Körper baut!


Ein Aneinanderreihen unwesentlicher, gleichgültiger Züge würde jeden
bestimmten Eindruck verwischen. Die Physiognomie ist dem Dichter nur
Mittel der Charakterdarstellung! Der Charakter, die unendliche persönliche
Eigenheit, aus einer Mischung von Naturanlage, Temperament
und Grundsätzen hervorgegangen, ist der Quellpunkt aller großen Dichtgattungen
der Neuzeit. Der Dichter würde indeß seine Kunst schlecht
verstehn, wenn er gleich von vornherein ein wohlgetroffenes und sorgfältig
ausgeführtes Portrait seiner Helden seinem Werke vorausschicken
wollte. Der Charakter darf von ihm nie als ein fertiges Ganzes
geschildert werden; er muß Zug auf Zug in freier Entwickelung aus der |#f0096 : 74|

Handlung selbst hervorgehn. Die äußere und innere Portraitmalerei der
neuen Romanschriftsteller ist wenig künstlerisch. Wir wollen die runde
Summe des Charakters nicht von Hause aus baar ausgezahlt erhalten;
unsere Phantasie soll sie mitthätig durch ein Additionsexempel der einzelnen
Posten aufbaun. Es liegt in jedem einzelnen Charakter etwas
Unsagbares, eine unergründliche Tiefe, die aus den unberechenbaren
Mischungsverhältnissen hervorgeht. Hier wird dem echten Dichter nie
der rechte Schlüssel fehlen, auch dies Geheimnißvolle zu deuten und
zu enthüllen.


Die Scheidung der Geschlechter, der Gegensatz von Mann und
Weib, jene große Kluft der Natur, über welche sie die schönsten Brücken
geschlagen, bietet dem Dichter den reichsten Stoff. Zunächst ist es der
Contrast der männlichen und weiblichen Schönheit selbst, der für die
dichterische Darstellung ergiebig wird. Dann aber treten als reichster
Quell der Poesie die gegenseitigen Herzensbeziehungen der Geschlechter,
die Liebe von der Neigung bis zur Leidenschaft hervor. Liebe ist vor
Allen das Grundthema der Lyrik, deren bloßes Aufgehn in derselben
indeß immer das Zeichen einer schwächlichen Zeit ist. Jn der That würden
die ewigen Variationen über die Liebe unerträglich werden, wenn
nicht durch den verschiedenen Geist der Zeit, die wechselnde Sitte der
Völker und die scharf vortretende Originalität des dichterischen Genius
einige Abwechslung in dies unerschöpfliche Thema käme. Liebeslyrik
ohne scharf ausgeprägte dichterische Physiognomie bleibt immer unleidlich
und die hauptsächlichste lyrische Makulatur. Welchen Reichthum aber
der Genius in diese Empfindung legen kann: das haben von Sappho
und Alkaeos, von Ovid, Tibull und Properz bis zu Petrarca und Hafis,
Goethe und Heine die begabten Dichter aller Zeiten bewiesen. Jhrem
Grundcharakter nach bleibt die Liebe immer lyrisch, und so bringt sie
auch in das Drama, selbst in den Roman einen lyrischen Zug. Jn diesen
beiden Dichtgattungen wird die Liebe vorzüglich im Kampf geschildert,
im Kampfe mit der Pflicht, mit einer andern ethischen Liebe oder
mit den realen Lebensverhältnissen ─ man denke z. B. an Romeo und
Julie, Max und Thekla, Werther. Jndeß eignet sich für den Roman
noch mehr die Liebe als feste sittliche Jnstitution, in der Gestalt der Ehe,
wo ihre Kämpfe einen tiefer in's Leben eingreifenden Jnhalt gewinnen. |#f0097 : 75|

Hier erinnern wir nur an die Wahlverwandtschaften, an die Romane
einer George Sand und die scharfe Physiologie der Ehe, die sich in den
Werken eines Balzac und anderer neufranzösischer Autoren findet. Die
Liebe als Eifersucht kann ebensogut eine tragische Wendung nehmen
(Othello, Herodes und Mariamne, Herzog von Mailand von Massinger),
wie komisch behandelt werden, z. B. in dem vortrefflichen Lustspiele von
Colman: the jealous wife. Nicht blos der Ausgang, die Katastrophe
werden hierfür entscheidend sein, sondern auch die ganze Auffassung
der Eifersucht, entweder als einer tiefen, die Seele beherrschenden
Leidenschaft, oder als einer kleinlichen, die Gewohnheiten des Lebens
tyrannisirenden Marotte. Aus der Ehe entsteht ein sittlicher Kreis von
Pflichten, die auf natürlicher Grundlage ruhn: Gattenliebe, Vater=,
Mutter- und Geschwisterliebe, die auch für die Lyrik einen innigen Hauch
der Empfindung bieten (Geibel's Gedichte auf den Tod seiner Gattin,
Victor Hugo's Ode an seinen Vater, Heine's Sonett an seine Mutter),
aber durch den Conflict, in den sie gegenseitig gerathen können, noch
mehr der Tragödie einen willkommenen Stoff bieten. Jn der That
beruht die Mehrzahl der antiken Tragödieen auf diesem Conflict. Den
Undank der Kinder hat Shakespeare im „König Lear“ zum Mittelpunkte
eines großartigen Trauerspieles gemacht. Jn der neuen Romanliteratur
wuchert die Poesie der natürlichen Kinder, freilich nur als eine Poesie der
Ueberraschungen, welche aus Namensverwechselungen, verlorenen Taufscheinen
u. s. w. hervorgeht. Goethe hat in seiner unvollendeten „natürlichen
Tochter“ die ideale Seite dieses Verhältnisses hervorzuheben
gesucht. Neben der Liebe ist die Freundschaft zu allen Zeiten von
den Dichtern besungen worden. Jn ihr ist der sympathetische Zug der
Natur gemildert, die Einheit des Denkens und Strebens aber verstärkt.
Deshalb eignet sie sich für die Lyrik nur als Anlehnung für die Darstellung
des gemeinsam Erstrebten (Klopstock's Oden, die Oden des
Horaz u. s. f.). Eigentlich lyrische Freundschaften, die von der begeisterten
Wärme der Empfindung gesättigt sind, hat Jean Paul in seinen
humoristischen Romanen geschildert. Die aufopfernde Handlungsweise
der Freundschaft finden wir in Schiller's Ballade „die Bürgschaft“ dargestellt.
Jm Drama brauchen wir blos an Orest und Pylades, Posa
und Carlos, Clavigo und Carlos, Romeo und Mercutio, Wallenstein |#f0098 : 76|

und Max zu erinnern, um die verschiedene Auffassungsweise, welche hier
dies Verhältniß zuläßt, anschaulich zu machen.


Treten wir aus dem Kreise der Familie und der persönlichen Beziehungen
in das öffentliche Leben hinaus: so tritt uns die Gesellschaft mit
ihrer Sitte und Kultur, der Staat mit seinen wechselnden Formen und
Kämpfen, mit dem Schwerte des Rechts im Frieden, dem Schwerte der
Gewalt im Kriege entgegen. Doch alle diese objectiven Einrichtungen
sind geworden und noch in dauernder Entwickelung begriffen. Jn
ihnen ist der Menschengeist lebendig; aber das Leben des Menschengeistes
ist die Weltgeschichte, und somit können wir unter ihr die reiche
Stoffwelt begreifen, die sich uns hier eröffnet. Selbst der Dichter und
Romanschriftsteller, der freierfundene Stoffe aus der Gegenwart schöpft,
muß sein Werk auf unserem Kulturzustande, dem Leben der Gesellschaft,
unseren politischen Verhältnissen aufbauen; er versetzt uns in die
Geschichte, wenn er sich auch an die letzte Gestalt ihrer Entwickelung
anlehnt. Selbst wenn der Dramatiker, wie Meyern in seinem „Ein
Kaiser,
“ scheinbar abstract=politische Stoffe wählt, so scheint doch immer
ein concretes Staatsleben mit dem Reichthum all' seiner Beziehungen
hindurch.


Wie verhält sich nun die Poesie zur Stoffwelt der Geschichte? Jnwieweit
ist sie verpflichtet, ihren Ueberlieferungen treu zu bleiben? Wir
wissen recht wohl, daß Egmont ein Familienvater mit vielen Kindern
war ─ und doch stört uns in Goethe's Trauerspiel sein Verhältniß zu
Klärchen durchaus nicht; wir wissen, daß der Schiller'sche Jnfant Don
Carlos weit entfernt davon ist, ein treues Portrait seines halsstarrigen
und unmäßigen historischen Urbildes zu sein ─ und doch hat dies Trauerspiel
zu allen Zeiten die Gemüther erwärmt und hingerissen. Wir sehn
daher, daß die Wirkung eines Dichtwerkes nicht von seiner historischen
Treue abhängig ist. Auf der andern Seite hätte Goethe „Egmont“
nicht in offener Rebellion, nicht im Kampfe sterben lassen, Schiller den
Jnfanten Don Carlos nicht zum Könige von Spanien machen dürfen,
ohne daß sich das Gefühl der Leser und Hörer dagegen aufgelehnt. Wir
sehn daher, daß die geschichtliche Wahrheit ebenso berücksichtigt werden
muß. Es giebt geschichtliche Daten, die durchaus feststehn und von
keinem Poeten abgeändert werden können. Cäsar muß über den Rubicon |#f0099 : 77|

gehn, Napoleon auf Sanct Helena sterben. Keinesfalls darf das historisch
entscheidende
Factum verletzt werden! Nur der feine Tact des
Dichters findet hier das Richtige heraus. Es ist z. B. historisch entscheidend,
daß Egmont auf Alba's Befehl hingerichtet wurde; denn an
diese Hinrichtung knüpft sich der Abfall der vereinigten Niederlande. Es
ist dagegen gleichgültig, ob die Jungfrau von Orleans von den Engelländern
verbrannt wird oder im Kampfe stirbt, denn das wesentliche
Jnteresse dieser heroischen Gestalt knüpft sich an ihr Leben, nicht an die
Art und Weise ihres Todes.


Was den Charakter der geschichtlichen Helden betrifft, so steht der
Dichter hier zunächst auf gleichem Boden mit dem Historiker. Beide
werden den Charakter aus seinen „Handlungen“ zu entziffern suchen, nur
daß der Historiker zu diesem Zwecke auch das kleinste überlieferte Detail
benutzen wird, während der Dichter wiederum nur die „historisch entscheidenden
Handlungen“ in's Auge faßt! Die Auffassung des Dichters
kann hier die des Historikers ergänzen, da jener tiefer in die Seele, in
ihre innersten Motive greift. Hier hört oft die Ueberlieferung auf; es
beginnt jenes geheimnißvolle dämonische Element, welches die Domaine
des Dichters ist. Wallenstein's Abfall z. B. ist eine historische Thatsache,
deren Acten noch nicht geschlossen sind. Der Dichter, den Hauptzügen
der Geschichte getreu, interpretirt sie in seiner freien Weise und hebt daraus
eine ideale Gestalt und einen idealen Conflict hervor. Vielleicht hat
er dabei das innerlich Dämonische des großen Heerführers besser getroffen,
als der Geschichtschreiber. Doch hat er diese Gestalt nur zum dramatischen
Helden erwählt, weil er an ihre großen geschichtlichen
Handlungen
seine dichterische Jdee knüpfen konnte! Darum verfährt
er hier mit ganz anderer Treue, als im „Don Carlos“ ─ ein Held, von
dem die Geschichte eben keine „historisch entscheidenden Handlungen“
erzählt, und dessen Charakter daher für den Dichter ein viel reicherer
Stoff zu beliebiger Modellirung in ästhetischem Jnteresse wird. Halten
wir dies Hauptprincip fest, so ergiebt sich von selbst, daß die Helden der
Specialgeschichte der dichterisch umschaffenden Phantasie einen bei weitem
freieren Spielraum gönnen, als die Helden der Weltgeschichte. Der
historische Roman wird sich, bei dem beschränkteren Rechte der Erfindung,
das ihm überhaupt zusteht, kaum an die letzteren wagen dürfen, während |#f0100 : 78|

die Tragödie, welche mehr die leuchtenden Gipfel der Geschichte berührt
und von ihren Helden alles Kammerdienermäßige fernhält, auch diese in
den Kreis ihres dichterischen Schwunges ziehen kann. Jm Ganzen steht
als Princip fest, daß der Dichter die geschichtlichen Thatsachen in keinem
anderen, als im ästhetischen Jnteresse abändern darf und sie daher unversehrt
bestehen lassen kann, wo sie die Harmonie seines Kunstwerkes nicht
stören. Hat man dagegen in der neueren Zeit die Behauptung aufstellen
hören: „der Dichter habe blos dem Weltgeiste nachzudichten, blos sein
großes Gedicht, die Weltgeschichte, abzuschreiben,“ so ist dies nur das
alte Princip „der Naturnachahmung,“ in eine neue Form gegossen.


Jnwieweit die verschiedenen Epochen der Geschichte überhaupt der
Dichtkunst Stoff gegeben und ihren Charakter bestimmt haben: das zu
untersuchen ist von hohem ästhetischen Jnteresse, würde aber die Grenzen
unserer Poetik überschreiten. Für die Gegenwart handelt es sich darum,
welches Zeitalter dem modernen Dichter am günstigsten ist, eine Frage,
deren Entscheidung selbstverständlich scheint, obgleich gerade über diesen
Punkt die verkehrtesten Ansichten verbreitet sind. Unsere Dramatiker
haben in neuester Zeit mit Vorliebe antike Stoffe gewählt, während die
Lyriker, an die Gegenwart gewiesen, nur in erzählenden Gedichten, wie
z. B. Geibel im „Tod des Tiberius,“ auf die alte Welt zurückkamen
und kein Romanschriftsteller heutzutage in die Fußstapfen Wieland's
treten und die Theilnahme der Lesewelt für einen Agathon und Aristipp
in Anspruch nehmen möchte. Die biblisch=orientalische Mythe, Esther,
Susanne, Judith, Herodes
u. s. f. hat durch ihren farbenprächtigen
Hintergrund, durch ihren romanhaft spannenden Jnhalt und die
kühnen Züge der Leidenschaft viel Verlockendes auch für den modernen
Dramatiker, umsomehr, als die altbiblische Weltanschauung die Entfaltung
eines freien menschlichen Pathos nicht hemmt und der unsrigen
wenigstens nicht feindlich gegenübersteht. Auch sind die Bedingungen
der Handlung in jener patriarchalischen Epoche einfach und für die großen
Züge der Tragödie günstig. Dennoch haben sich die verschiedenen Tragödieen
Saul,“ „das Weib des Urias,“ „Herodes und
Mariamne,
“ „Daniel und Susanne,“ „die Makkabäer“ und
selbst „Judith“ keines durchgreifenden Erfolges zu erfreuen gehabt,
obgleich ihre Verfasser, Gutzkow, Beck, Meißner, Hebbel, Werther, |#f0101 : 79|

Ludwig namhafte und talentvolle Dichter sind. So muß man doch
wohl den biblischen Stoffen, trotz ihrer scheinbaren Vorzüge, die Schuld
des Mißlingens zuschieben, indem jene patriarchalischen Gestalten für die
moderne Bildung etwas Fremdartiges haben und sich nicht in Fleisch
und Blut der Gegenwart verwandeln lassen.


Aehnlich verhält es sich mit den mythischen Stoffen aus der griechischen
und römischen Vorwelt, welche überdies von einer religiösen Weltanschauung
gedichtet sind, die der unsrigen widerspricht. Goethe hat
zwar in seiner schönen dramatischen Studie „Jphigenie“ gezeigt, wie
man diese antiken Stoffe modernisiren und verinnerlichen kann, aber es
bleibt doch ein unüberwundener Rest des Stoffes, der uns herausfühlen
läßt, daß dies Gedicht nicht das ursprüngliche Product einer freischaffenden
Begeisterung ist! Denn es liegt ein Widerspruch der Situation, die
dem alten Mythos entlehnt ist, und der Empfindung, die der Dichter des
achtzehnten Jahrhunderts hineingelegt, schon darin, daß wir uns diese
edle, klare, herrliche Frauengestalt mit dem feinen und tiefen Gefühl
gleichzeitig als die barbarische Schlächterin denken müssen, welche mit
dem Opfermesser die gestrandeten Fremdlinge hinwürgt. Unter den graziösesten
Schleiern einer zarten und edlen Poesie regt sich hier das Molochartige
einer alten, blutigen Kulturstufe, welche den Begriffen der Gegenwart
fremd ist. Was aber einem Goethe nicht gelang, darin werden
gewiß unsere jüngsten Poeten mit ihren „Klytemnestren“ und „Medeeen“
nicht glücklicher sein. Anderes verhält es sich mit Stoffen aus der politischen
Geschichte Griechenland's und Rom's, in denen sich dramatische
Charaktere zeigen und dramatisches Leben gährt. Ein „Coriolan,“ ein
„Julius Cäsar,“ ein „Tiberius Gracchus,“ ein „Alexander“ eignen sich,
wenn sie in Shakespeare'scher Weise mit allem Reichthum freier menschlicher
Züge behandelt werden, wohl zu Helden der Tragödie. Doch stört
auch hier immer ein fremdartiger Hintergrund der Kultur, der Sitte,
der Denk- und Empfindungsweise, z. B. in den unvermeidlichen Beziehungen
der Geschlechter, und nur die großen, geschichtlichen Motive und Charaktere
fesseln das Jnteresse. Auch liegt die Versuchung nahe, hier eine
gelehrte Bildung in Form und Jnhalt zur Schau zu stellen und philologische
Noten in Scene zu setzen, wovon z. B. die „Alexandrea“ von
Märker ein hervorragendes Beispiel giebt. Für die „Ballade“ hat |#f0102 : 80|

Schiller seine Stoffe mit Vorliebe aus dem Alterthum gewählt, doch
mehr aus dem Bereich der rein menschlichen Anekdote (Ring des Polykrates,
Bürgschaft), als aus dem der höheren Mythe (Kassandra). Der
Kampf des Christenthums mit dem Heidenthum hat die zahlreichen Märtyrerlegenden
und Trauerspiele wie „Polyeucte“ hervorgerufen. Sein
glänzendster geschichtlicher Held ist „Kaiser Julian,“ der in Eichendoff's
lyrisch=epischer Dichtung wohl mit phantasievollen Lichtern beleuchtet,
aber nicht in seiner ganzen Bedeutung erfaßt worden ist.


Das Mittelalter ist keine reiche Fundgrube günstiger Stoffe für den
modernen Dichter! Wir sind seiner Denk- und Empfindungsweise vollkommen
entfremdet, trotz aller Bestrebungen, dieselbe gewaltsam der
Gegenwart aufzudrängen. Seine reiche Jnnerlichkeit scheint zwar einem
frischen, dichterischen Quell auszuströmen; aber sie war zu sehr kritiklose
Empfindung, um nicht auf der anderen Seite ebenso äußerlich zu werden.
Die Kreuzzüge z. B. hatten bei aller fanatischen Begeisterung doch die
sehr äußerliche Tendenz, das Grab Christi zu erobern, als wenn der
begrabene Christus welthistorischer wäre, als der für die Erde auferstandene,
als wenn die Bedeutung seiner Religion sich an die zufällige
Stätte seines Werkes knüpfte! Tasso's „befreites Jerusalem“ läßt uns
daher heutzutage trotz seiner dichterischen Schönheiten kalt. Ebenso hatte
das Ritterthum zwar sehr erhabene Grundsätze, aber eine äußerliche faustrechtliche
Praxis. Nachdem es Ariost phantastisch, Cervantes ironisch
aufgelöst, nachdem wir einen Orlando und Don Quixote besitzen: kann
uns die ernstgemeinte Auferweckung der alten Eisenmänner, die Beseelung
der alten Schienen und Brustharnische, wie es Babo auf der Bühne,
Fouqué und Redwitz in der Lyrik und Epik, Spieß, Cramer u. A.
im Roman versucht, keine Theilnahme mehr abgewinnen, und selbst der
wackere Götz interessirt uns nur durch das aufgehende Licht der neuen
Zeit, das sich auf seinem Harnisch bricht! Auch die „mondbeglänzte
Zaubernacht der Romantik“ mit ihren Feeen, Zauberern, Nixen, Rittern,
Gnomen, Kobolden, Engeln, wie sie Ludwig Tieck im „Octavian“
und der „Genovefa“ heraufbeschworen oder Brentano in der „Gründung
von Prag,“ hat trotz aller träumerischen und glänzenden Beleuchtung
dem hellen Tage der Gegenwart nicht zu imponiren vermocht. Der
großartige Kampf zwischen Kaiser und Papst, Staat und Kirche bietet |#f0103 : 81|

zwar einen welthistorischen Conflict, eine glänzende Staffage; aber im
kaiserlosen Deutschland von heute sind keine warmen Sympathieen mehr
für jene gewaltigen geschichtlichen Erinnerungen vorhanden, welche sich
an das Kaiserthum der Hohenstaufen knüpfen! Der im Kyffhäuser
schlummernde Barbarossa ist von ihnen allen ganz allein volksthümlich
geblieben; aber die Dramatiker, die ihn zu einem Rundgang über die
deutschen Bühnen aufweckten, Grabbe und Raupach, haben sich überzeugt,
daß er außerhalb des Kyffhäuser's keine durchschlagende, volksthümliche
Bedeutung besitzt. Die besten für die moderne Poesie geeigneten Stoffe
bietet noch das Städteleben des Mittelalters in seiner Entwickelung, weil
es die meisten Perspectiven in die Zukunft gewährt. Handelsrepubliken
wie Venedig und Genua, besonders die erstere mit ihrer geheimnißvollen
Verfassung, ihrem kühnen, abenteuerlichen Sinne, ihrem Völkerverkehr
mit dem Orient, tragen eine über den engen Geist des Mittelalters hinausreichende
Poesie in sich.


Erst mit der Reformation beginnt eine geschichtliche Stoffwelt, welche
in den Bedingungen der Kultur, in den Bewegungen der Jdeeen unmittelbar
auf die Sympathieen der Gegenwart rechnen kann. Hier gewinnt
die Poesie erst den rechten Boden unter ihren Füßen; es sind die heutigen
Zustände in ihren Anfängen, in ihrem Werden und Wachsen ─ die staatlichen
Einrichtungen, die Heeresorganisation, die ganze Welt des Protestantismus,
welcher die freie, geistige Bewegung förderte, die Zurechnungsfähigkeit
und damit die Entwickelung der einzelnen Charaktere
tiefer begründet und jene höheren Conflicte der Principien schafft, welche
die Poesie mit reichem Gedankeninhalt befruchten. Helden wie Gustav
Adolph, Wallenstein, Karl XII., Peter der Große, Friedrich der Große,
Napoleon, Zieten, wie die Reformation, die Revolution, ja selbst die
Rokoko-Zeit mit ihren äußerlichen Schnörkeln, aber dem inneren Sublimat
ihrer auflösenden Freigeisterei kommen dem modernen Dichter entgegen.
Selbst nahegelegne Stoffe aus den Kriegen mit Napoleon, den Befreiungskriegen,
setzen der Poesie kein inneres Hinderniß entgegen. Sonst hätte
Aeschylos nicht seine „Perser,“ Shakespeare nicht seinen Heinrich VIII.
dichten können! Jm Gegentheil, der Stoff ist der dankbarste, der vom
historischen Pathos der Gegenwart durchdrungen ist! Die Zeitnähe
erhöht das Jnteresse und kann nur die dichterische Erfindung, aber auch |#f0104 : 82|

nicht im Wesentlichen, beschränken! Denn nur das Miterlebte giebt ein
so bestimmtes Bild, daß der Dichter Nichts fortzunehmen, Nichts hinzuzusetzen
vermag, mag dies Bild nun in seiner schaffenden Phantasie oder
in der aufnehmenden feststehn! Alles dagegen, was durch Berichte der
Zeitgenossen uns zu Ohren kommt, wird bereits frei von unserer Phantasie
gestaltet ─ und es ist ihr ganz gleichgültig, ob sie nach den Beschreibungen
die Schlacht von Pharsalus oder die Schlacht von Waterloo,
die Belagerung von Sagunt oder von Sebastopol auszumalen hat.
Daß naheliegende historische Stoffe bei einer dramatischen Behandlung
auf äußere Hindernisse stoßen, geht weder die Poesie noch die Poetik an.
Das sociale Leben der Gegenwart ist die letzte Frucht der historischen
Entwickelung und bietet eine Fülle geistiger Stoffe, besonders für den
Roman und das Lustspiel. Hier schöpfen die neuern französischen
Romanschriftsteller, hier Dickens und Thackeray, hier Gutzkow, Freytag,
Hackländer. Hier findet die psychologische Analyse, der moderne Humor,
die Begeisterung für Reformen, der Scharfsinn, der stets neuauftauchende
Probleme der Kultur dichterisch zu lösen versucht, eine ergiebige Ernte.
Auf der anderen Seite gehört eine große dichterische Kraft dazu, die Sprödigkeit
einer breiten, oft mechanischen Kulturprosa mit den verwickelten
Verhältnissen der Gesellschaft zu überwinden, und es liegt die Versuchung
nahe, rohe und unverarbeitete Verstandeselemente mit in die dichterische
Schöpfung aufzunehmen. Hier bleibt Jean Paul ein großes Muster;
denn in letzter Jnstanz triumphirt nur der Humor einer großen Seele,
die Alles mit ihrem eigenen Hauch durchdringt, über die verstandesmäßige
Prosa moderner Zustände.


Wie verhält es sich nun mit der Welt des Wunderbaren, einer Stoffwelt,
die so recht nur der Phantasie angehört? Jst nicht hier ihre unbeschränkte
Heimath zu suchen, indem sie, von allem ursächlichen Zusammenhang
unabhängig, ganz frei mit dem selbsterzeugten Stoffe schaltet?
Scheint dagegen in unserer Zeit, wo die Naturwissenschaften jeden Winkel
der Welt mit ihrer Fackel durchleuchten, noch ein anderes Wunder möglich,
als das ewige der Natur und des Geistes? Jn der That, die
Göttermaschinerie des Epos würde sich in unserer Zeit in keiner Weise
anwenden lassen, obgleich sich noch Schiller mit dem Gedanken trug,
eine moderne Form für dieselbe zu erfinden. Etwas anderes sind |#f0105 : 83|

Homer's naive Olympier und die Riesengestalten der Edda, etwas Anderes
die allegorischen Wunder der Henriade und Tasso's langweilige Teufel.
Diese Art von Wunder entspringt nicht einer freischaffenden Phantasie,
sondern einem nüchternen Verstande, der sich abmüht, einer abgelebten
Regel zu gehorchen und eine veraltete Tradition zu beseelen.
Tasso läßt den Teufel mit Hörnern erscheinen, gegen welche alle Berge
und Felsen nur kleine Hügel sind; er läßt den Schutzengel Raimund's
aus der himmlischen Rüstkammer einen diamant'nen Schild von solcher
Breite holen, daß er vom Kaukasus bis an den Atlas alle Länder und
Meere bedeckt. Milton läßt seinen Satan die ersten Karthaunen erfinden,
dagegen seine Engel, und zwar vor Erschaffung der Welt, ganze Gebirge
entwurzeln und den Teufeln an den Kopf werfen. Diese ernstgemeinte
Erhabenheit des Wunderbaren schlägt unmittelbar in's Lächerliche um.
Anders das freie Spiel der Phantasie bei Ovid und Ariost, in Shakespeare's
„Sturm“ und „Sommernachtstraum,“ in der Märchenwelt des
Phantasus! Hier ist Alles in den Aether der „mondbeglänzten Zaubernacht“
getaucht; hier gilt die Logik des Traums und seiner freischwebenden
Arabesken! Diese Herrschaft des Märchenhaften ist berechtigt innerhalb
ihrer Grenzen! Nur darf sie nie in das Abgeschmackte übergehn, am
wenigsten aber sich für den Kern und das Wesen aller Poesie ausgeben!
Das war der Jrrwahn der Romantik, an dem ihre Talente gescheitert
sind! Der Duft der blauen Blume des Novalis hatte sie berauscht, und
in ihrer Traumestrunkenheit sahn sie nicht die Schönheit der Welt am
hellen Tage der Geschichte! Dennoch sind ihre Märchenwunder dichterischer,
als die biblischen Schatten, die Klopstock mit der erhabenen Monotonie
seines messianischen Schwunges heraufbeschwört. Eine andere
Domaine des Wunderbaren, außer dem Märchen, bleibt die formlose
Gedankendichtung, von Dante's „divina commedia“ bis zu Goethe's
„Faust,“ weil hier der Dichter nach Gestalten greift, die seine Jdee versinnlichen,
und die Mächte der Natur und des Geistes mit Fleisch und
Blut bekleidet. Durch geistvolle innere Lebendigkeit wird hier die Klippe
der todten Allegorie vermieden. Auf der andern Seite bildet das volksthümliche
Geisterwesen einen nothwendigen Gegensatz gegen die Vertiefung
in metaphysische Probleme. Die Hexenküche, die Walpurgisnacht
zerstreuen uns durch ihre frische, handgreifliche Lebendigkeit, lassen das |#f0106 : 84|

geistige Streben des Titanen Faust mit seiner Jnnerlichkeit nicht bis zur
Ermüdung vorwalten und stehn doch in gedanklichem Zusammenhange
mit ihm. Ebenso ist der Erdgeist eine echt dichterische Personification,
wie die Naturgeister in Byron's „Manfred,“ während die philologischen
Gespenster und die nüchternen allegorischen Gestalten im zweiten Theil des
„Faust“ unlebendige Versuche einer ermatteten Phantasie sind, gelehrte
Noten oder abstracte Begriffe dichterisch anschaulich zu machen. Solche
dämonische Gestalten, wie Mephistopheles und Ahasver, Träger einer
Jdee, haben wahrhaft dichterisches Leben und werden einer Gedankendichtung,
die sich mit den höchsten Fragen des Menschengeistes beschäftigt,
nimmer entbehrlich werden.


Das echte Wunder kann der Dichter der Neuzeit nur in die Seele
verlegen, in deren Stimmungen noch die Gespensterwelt ein vergängliches
Leben führt. An das Gespenst glauben wir nicht; wohl aber an
die Stimmung, welche Gespenster sieht, an die Erregung der Seele, die
Schauer der Nerven. Wer das Gespenst malen will, der verscheucht es.
Altschottische Balladen, Goethe's Erlkönig sind Mustergedichte solcher
Stimmungen, in denen schattenhaft das Grauenvolle der Seele nahe
tritt, Shakespeare hat im „Macbeth,“ „Hamlet,“ „Julius Cäsar“ die
innere Erregung seiner Helden theatralisch versinnlicht und läßt den
Zuschauer zugleich mit seinen Helden die Geistergebilde sehen, die ihre
Seelen bestürmen! Er geht indeß darin äußerlich zu Werke und läßt
den Geist von Hamlet's Vater nicht blos dem Dänenprinzen selbst, sondern
auch den Schildwachen und Hamlet's Freunden erscheinen, so daß
er aufhört, ein psychologisches Gespenst zu sein, und ein handgreifliches
wird. Der richtige Jnstinct wird die Dichter der Neuzeit abhalten,
hierin dem Vorbilde des Britten zu folgen; denn mit dem Geisterglauben
verschwindet alle Nöthigung zu dieser Art dramatischer Seelenmalerei.
Echt modern ist dagegen die humoristische Auflösung der
Gespensterfurcht, wie sie uns Byron im „Don Juan“ vorführt, der
anstatt des gefürchteten Geistes zuletzt den Leben athmenden Leib der
Lady Fitzfulk umarmt. Die Taschenspielerei des neuen Magierthums,
der alten und neuen Cagliostro's, welche zur Zeit unserer Klassiker so
en vogue war, daß Goethe nicht blos im „Großkophta,“ sondern auch
im „Wilhelm Meister,“ Schiller im „Geisterseher,“ Jean Paul in mehreren |#f0107 : 85|

Romanen dieser raffinirten Romantik Rechnung trug, wird noch
gegenwärtig häufig zu romanhaften Ueberraschungen angewendet. Doch
schon unsere großen Dichter sahen sich genöthigt, dem effectvollen Wunder
die nüchterne Aufklärung folgen zu lassen, die in ihrer äußerlichen
Weise an die rationalistischen Auslegungen der Bibelwunder erinnerte.
Auch hier gilt unser Satz: das Wunder hat für den modernen Dichter
nur eine psychologische Bedeutung! Wozu noch eine poetische Geisterklopferei,
da die Welt der Seele und des Geistes der Wunder genug hat,
zu denen dem Dichter vor allen andern Sterblichen der Schlüssel verliehen
ist? ──────


Zweiter Abschnitt.

Die productive Phantasie.


Die unerschöpfliche Stoffwelt, deren Reichthum wir im vorigen
Abschnitt angedeutet, ist das große Reservoir, aus welchem der menschlichen
Einbildungskraft Bilder und Erinnerungen zuströmen. Jn
der Einbildungskraft spiegelt sich indeß das Naturschöne mit seiner ganzen
trüben Zufälligkeit, in stoffartiger Weise ─ sie ist die menschliche
Seele als Erinnerung der Welt. Deshalb würde das Naturschöne vergeblich
der Wiedergeburt zum Jdeal harren, wenn die Einbildungskraft
das einzige ästhetische Organ des Menschen wäre. Doch hier tritt eine
höhere Kraft der Seele ein, die Phantasie als die Kraft der reinen
Anschauung,
welche in höherer Potenz zur Kraft der künstlerischen
Gestaltung
wird. Wohl schöpft sie mit der Einbildungskraft aus dem
Quelle der äußern Welt, aber sie schöpft auch aus dem Reiche der Jdeeen,
die sie in diese Welt hineinschaut. Die Einbildungskraft träumt; die
Phantasie dichtet. Auch die Einbildungskraft schiebt die Farben und
Formen der Welt zu kaleidoskopischen Bildern zusammen und auseinander;
aber ihr Spiel ist ein zufälliges und ihr Gebilde ungeläutert, ein
Zusammensetzspiel mit gegebenen Steinen, mit ausgeschnittenen Theilen.
Erst die Phantasie bringt zu diesen Erinnerungen der äußern Welt die
platonischen Erinnerungen aus der Welt der Jdeeen hinzu, durch welche
sie fähig wird, jene zu läutern und zu gestalten. Die Phantasie schaut |#f0108 : 86|

nicht blos die Dinge, sie schaut das Schöne! Und sie schafft es, indem
sie es schaut. Der dichterische Schöpfungsproceß ist ein Act der Phantasie!
Was an ihm geheimnißvoll erscheint, das beruht auf dem eigenthümlichen
Wesen des Schönen, wie es sich in der Welt der Seele spiegelt.
Das Schöne tritt fertig als Object, mit der Unmittelbarkeit des sinnlichen
Dinges vor uns hin; es berührt uns mit dem ganzen frischen Reize der
Natur und ist doch ungetrübte Jdee zugleich! Dieser frische Reiz der
Natur, dieser Zauber des Unmittelbaren und Ursprünglichen begleitet
auch die schaffende Phantasie und zeigt sich hier sowohl als natürliche
Begabung, als eine dem Einzelnen gewährte Gunst, wie auch als
begeisterte Eingebung, der eine unsichtbare Macht in die Feder zu dictiren
scheint!


Um das dichterische Schaffen zu begreifen, kehren wir noch einmal
zur träumenden Einbildungskraft zurück. Der Traum ist ein Gedicht
der Ganglien, an welchem das Gehirn nur wenig mitarbeitet. Was ihn
als Gedicht erscheinen läßt, das ist nicht die willkürliche Verknüpfung der
Bilder; sondern das vollkommene Aufgehn des Träumenden in seiner
geträumten Welt. Die Personen, die der Traum hinzaubert, haben
Fleisch und Blut, Form und Farbe und fallen nicht aus der Rolle. Nur
selten unterbricht der Träumende, wie ein reflectirender Dichter, die
objective Welt, die er schafft, und in welche er sich mit allen seinen Sinnen,
seinem Empfinden und Denken, seinem vollsten Glauben versenkt. Es
träumt z. B. Jemand von der Angst vor einem Examen und während
desselben, das er schon längst gemacht hat. Mitten in diese zagend
empfundene Angst schleicht sich leise aufdämmernd der Gedanke: aber
wie ist es möglich, daß du dies Examen noch einmal machen mußt, du
hast es ja schon gemacht ─ ein Gedanke, mit welchem das bewußte
Gehirn die Dichtversuche der Ganglien corrigirt und ihnen den Vorwurf
der Verletzung der historischen Treue macht; aber die dichtenden Ganglien
lassen sich durch diese subjective Reflexion nicht unterbrechen, das Gehirn
mit seinen schüchternen Einwürfen verharrt in seiner dienenden Stellung;
jene fahren fort, über den Delinquenten den ganzen Angstschweiß einer
mit folternder Genauigkeit ausgeführten Prüfung zu verhängen. So
groß ist die Objectivität des Traums, daß er in dieser Hinsicht dem Dichter
zum Muster dienen könnte. Dagegen ist der Traum nachlässig bis |#f0109 : 87|

zum Abgeschmackten in der Motivirung; er springt hin und her, verschiebt
die Decorationen auf's Wunderbarste und löst die Welt in dissolving
views auf. Oft treibt er's so bunt, daß das kritische Gehirn es
nicht aushalten kann und darüber erwacht. Von sittlichen oder ästhetischen
Rücksichten ist bei den dichtenden Ganglien nicht die Rede; daß
Gräßliche, Scheußliche, Bestialische drängt sich oft in den Vordergrund.
Die Ganglien sind hypergenial. Es ist höchst charakteristisch, daß die
romantische Schule den Traum zum Kanon der Dichtkunst machte.
Jn der That sind viele ihrer Productionen mehr mit den Ganglien, als
mit dem Gehirn gedichtet. Von dieser roheren Bildergesellung der Einbildungskraft
mögen wir lernen, wie die productive Phantasie schafft!
Zunächst gehört zur freien Production das Bewußtsein, das dem Traume
fehlt ─ sie weiß, daß das Bild, das sie schafft, ein Bild und ihre Schöpfung
ist! Dann verknüpft der Traum die Bilder willkürlich, nachdem
er sie zufällig aufgegriffen ─ die dichtende Phantasie verbannt den Zufall,
der die Schönheit trübt. Sie ordnet das reiche Spiel der Vorstellungen,
dem der Traum sich blindlings hingiebt, zu harmonischer Verschlingung.
Seiner Unbesonnenheit setzt sie Besonnenheit entgegen, und wenn ihre
Jnspiration auch dieselbe Naturwurzel haben mag, wie die Eingebungen
der Träume, so ist doch die dichterische Begeisterung eine edle Tochter
der Jdee, während die Anregungen des Traumes nur aus einem System
der Nerven hervorgehen, das auch einmal, so gut es gehen will, während
das Gehirn schlummert, den Herrn spielt! Besonnenheit und Begeisterung
sind nun in der That die beiden Factoren der dichtenden Phantasie,
deren Product das Dichtwerk ist.


Die Begeisterung ist jener Enthusiasmus für das Schöne, der,
verstärkt durch die Gluth momentaner Hingebung, schöpferische Kraft
gewinnt. Doch sie kommt, wie eine Schickung, wie eine Gunst über den
Schaffenden (pati deum); ihn treibt eine Gewalt mit willkommener
Nöthigung, der er selbst mit süßer Rührung gehorcht! Diese Gewalt ist
aber nicht, was sie scheint, nichts Fremdes, Despotisches; es ist die Fülle
der eigenen Kraft, die zur Gestaltung drängt, das Räthsel des eigenen
Wesens, das sich lösen möchte! Es ist die Schönheit selbst, die an die
Pforten der Künstlerseele klopft und um das Leben bittet, das nur sie ihr
gewähren kann, und gerade ihr Durchgang durch das feurig erregte |#f0110 : 88|

Gemüth ist von jenen erhabenen Schauern begleitet, welche die dichterische
Begeisterung charakterisiren. Wo sie den Dichter verläßt, da hört er auf,
ein Dichter zu sein! Wer nicht das Gefühl gehabt, als ob ihm in die
Feder dictirt werde; wer die Worte sucht und nicht findet, nicht im
Glück über den Fund, wie getragen von unsichtbaren Schwingen, zu einem
neuen weiter eilt; wer sich am Rhythmus und am Reim, wie an unwillkommenen
Hemmungen, abarbeitet, statt daß ihm der geregelte Gang
zum Flügel wird und der Reim zum Schlüssel, der ihm ungeahnte
Gedanken zauberisch erschließt: der darf nicht mitsprechen, wo von dichterischer
Begeisterung die Rede ist, dem läßt sich nicht klar machen, was
doch nur mit der persönlichen Begabung, mit einer Begünstigung der
Natur zusammenhängt! Doch die Begeisterung ist nicht nur blos der
zündende Blitz des Augenblickes; sie muß sich zur latenten Wärme condensiren,
welche eine lange Arbeit des Schaffens mit treuer Hingabe
beseelt. Die begeisterten Anläufe genügen nicht; wie die Begeisterung
überhaupt allein nimmer unsterbliche Werke schafft. Das sehen wir an
den Sturm- und Drangepochen großer Dichter, die bei diesen, wie bei
Schiller und Goethe, vorüberrauschende Ouverturen waren, bei anderen,
wie bei Lenz, Klinger, Grabbe, so lange dauerten, wie ihr Dichten und
Leben! Hier ist ungeregelter, maaßloser Schwung; die Begeisterung hat
keinen rechten Jnhalt; sie gleicht oft dem Sturme, der dürre Blätter in
die Lüfte wirbelt. Jhr ganzes Schaffen ist vulcanische Eruption ─
Spalten, Risse; Befruchtendes, aber als glühende Lava; Blitze, aber aus
Aschenwolken! Es fehlt die Besonnenheit! Schon der klardenkende Horaz
hat diese wüste Genialität gegeißelt: „Weil Demokrit das Genie höher
stellt, als die mühsame Kunst, und die besonnenen Dichter vom Helikon
ausschließt, so läßt ein großer Theil von Dichtern Nägel und Haare wachsen,
sucht Einöden und meidet die Bäder. Ja gewiß wird derjenige
Dichterruhm ernten, der seinen Kopf, den drei Nießwurzinseln nicht heilen
konnten, niemals der Scheere unterwirft;“ und Goethe sagt:


Vergebens werden ungebund'ne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben!


Die Begeisterung, die Manie, welche nach Plato's „Phädrus“ der
Dichter mit dem Weissager, dem Geisterbeschwörer und dem Verliebten
gemein hat, wird, bei ungebundener Alleinherrschaft, wohl Dämonisches |#f0111 : 89|

und Leidenschaftliches, aber nicht das Schöne hervorrufen! Wohl aber
muß die Dichtung des Nüchternen stets vor der Dichtung des Begeisterten
verschwinden, und Plato hat die hohe Bedeutung der „gesunden Manie,“
des begeisterten Heraustretens aus dem gewohnten Gleise, nach Gebühr
gewürdigt. Jn seinem „Jon“ läßt er den Sokrates sagen: „Alle wahren
Epiker, wie alle wahren Lyriker, bringen nicht durch Kunst, nur durch
Begeisterung alle die schönen Gedichte hervor. Und wie die korybantischen
Tänzer nicht in bewußtem Zustande tanzen, so dichten auch die Lyriker
ihre schönen Lieder nicht bewußt, sondern sind toll, wenn sie in Ton
und Tact hineingerathen. Und wie die Bacchantinnen in ihrem Rausch
aus Bächen Milch und Honig schöpfen, aber nicht, wenn sie bewußt sind:
so thut auch der Geist der Lyriker das, was sie selbst sagen: denn sie versichern
uns ja, daß sie von Honigbächen aus Gärten und Auen der Musen
ihre Lieder, umherfliegend gleich den Bienen, pflücken und uns darbringen.
Und sie haben Recht: denn der Dichter ist ein leichtgeflügeltes,
geweihtes Wesen und nicht eher zum Dichten fähig, als bis er begeistert,
unbewußt und von Sinnen ist.“


Wenn der göttliche Plato den Hauptnachdruck auf die Begeisterung
legt: so stellt schon der schärfere Aristoteles ihr die Besonnenheit als gleichberechtigt
zur Seite, indem er die Gabe der Dichtkunst ebenso dem Feinfühligen,
Geistreichen*), wie dem Begeisterten zuspricht. Die Wahrheit
ist, daß die Besonnenheit nur im Bunde mit der Begeisterung das
Vollendete schafft. Sie ist die das Schaffen begleitende Kritik, welche
aber bei dem Genie nicht äußerlich nebenhergeht, sondern in seiner dichterischen
Anschauung von Hause aus mitgesetzt ist. Wenigstens wird der
begeisterte Wurf des Großen und Ganzen aus den Händen des Genies
mit jener inneren Wahrheit und Folgerichtigkeit gelingen, welche die nachfolgende
Kritik nur anerkennen kann. Daß aber diese Besonnenheit in
der Durcharbeitung des Einzelnen, der Verbesserung des Gefüges, der
Feile der Form eine große Rolle spielt, ist gewiß nicht in Zweifel zu ziehen.
Nur muß man auch hier nicht an eine isolirte Verstandesthätigkeit denken.
Die Kritik kann z. B. ein dichterisches Wort beseitigen, das ihr matt,
nicht geeignet, nicht schlagend genug erscheint; sie kann das richtige suchen,

*)
Poet. 17 εὐφυής.
|#f0112 : 90|

aber finden wird sie es nur durch einen neuen Act der Jnspiration. So
ist es von Byron bekannt, daß er viele Adjectiva verwarf und ausstrich,
ehe er das rechte stimmungsvolle fand, das in den Charakter des Gedichtes
paßte und seinen Zauber erhöhte. Hier erlöste die prüfende Besonnenheit
den Genius von vorüberfliehenden Verdunkelungen und gab ihm
seinen ursprünglichen Glanz wieder. Dichter, in denen die Feinfühligkeit
und Geistreichigkeit vorwiegt, wie Pope, Boileau, Lessing, Jmmermann,
Gutzkow, welche nach Lessing's scharfer Beobachtung Alles in sich durch
ein Röhrenwerk in die Höhe pumpen, fehlt zwar die Begeisterung nicht,
denn sonst würden sie überhaupt nicht Dichter zu nennen sein; aber die
Besonnenheit geht ihr voraus. Bei ihnen schafft den Wurf des Ganzen
die Kritik; die begeisterte Wärme durchdringt nur das Einzelne.
Mit feinem Spürsinn, nicht aus innerer Nöthigung, wird der Stoff
ergriffen, gegliedert, gestaltet; leichte Auffassung, scharfer Blick, beziehungsreicher
Witz ersetzen hier die Schwungkraft des Enthusiasten; aber das
Kunstwerk wird mehr zusammengesetzt, als erschaffen, es fehlt ihm die
organische Einheit; es wird ein Mechanismus, an dem sich viel schieben,
rücken, zusetzen läßt, dem man aber mit dem Räderwerk die Seele aus
dem Leibe nimmt. Die Fehlgriffe Lessing's bei der Wahl seiner Stoffe,
der einen „Nathan“ in die Zeit der Kreuzzüge und eine römische Virginia
an einen deutschen Fürstenhof versetzt, zeigen zur Genüge, wie der Scharfsinn
in seinen Combinationen irren kann, wo die Begeisterung nimmer
fehlgreifen würde! Man vergleiche nur Jmmermann's „Münchhausen“
mit einem Roman von Jean Paul ─ und man wird augenblicklich den
Unterschied zwischen dem Humor der Besonnenheit und dem der Begeisterung
erkennen! Dort eine Erfindung von mühseliger Absichtlichkeit, von
geistreichen Bezügen ─ hier Alles frisch, frei, voll aus der Seele strömend!
Der moderne εὐφυής des Aristoteles, und zwar κατ' ἐξοχὴν, ist Karl
Gutzkow ─ er bringt es zu einer Bedeutung, welche den Enthusiasten
den Rang streitig macht! Er hat Geist, Wärme, Leben ─ aber doch
fehlt ihm die μανία Plato's, der ursprüngliche Dithyrambus der Seele,
der alle Schöpfungen durchklingt! Darum ist er oft unglücklich in seinen
Combinationen, in seinen Griffen; denn bei der Besonnenheit kann man
nur von Griffen sprechen, nicht vom Wurf, der nur der Begeisterung
zukommt. Das Feuer der Besonnenheit wird nur durch lange Reibung |#f0113 : 91|

hervorgerufen, das der Begeisterung blitzt mit einem Schlag empor.
Die Phantasie, die Geburtsstätte der Dichtung, ist zuerst jene Stätte der
Empfängniß, wo sich die Jdee des Schönen und das vom Dichter ergriffene
Object begegnen. Nach Goethe's Ansicht, daß jedes Gedicht ein
Gelegenheitsgedicht sei, scheint das Ergreifen des Stoffes dem Zufall
anheimgegeben. Dies ist dahin zu beschränken, daß die Veranlassung,
welche dem Dichter den Stoff zuführt, eine zufällige sein kann; aber daß
er gerade diesen Stoff ergreift, ist kein Zufall mehr, sondern die innere
Nöthigung seines Genius. Eine Novelle, eine Chronik, ein Erlebniß
mag dem Dichter den Stoff zuführen, ja selbst die äußerlichste Bestellung
hat ihr gutes Recht, wenn der bestellte Stoff nur der Art ist, daß er die
Begeisterung des Genius zu wecken vermag! Und zwar gilt hier die
persönliche Bestimmtheit des Dichters, sein charakteristisches Gepräge.
Shakespeare, der Meister großer Seelengemälde, fühlte sich durch jene
Novellen angezogen, in denen, wie in „Romeo und Julie,“ „Othello,“
„Hamlet,“ die Chronik menschlicher Leidenschaft enthalten war. Aus
dem Knäuel der Novelle entwickelte er jene dramatischen Fäden, die bis
in die tiefsten Labyrinthe der Menschenseele hineinreichen. Es ist kaum
anzunehmen, daß diese Stoffe sympathisch, Leben zündend auf Schiller
gewirkt hätten, dessen energische, nach der historischen That hin gespannte
Natur durch die großen Helden und Staatsmänner der Geschichte enthusiastisch
angeregt wurde! Die Wahl des Stoffes ist daher schon immer
eine That der Begeisterung, eine innere Nothwendigkeit! Wohl kann
derselbe Stoff auch entgegengesetzte Dichternaturen entzünden, wenn er
nur eine Saite derselben in Schwingung setzt. Auch Goethe hätte einen
„Tell“ schreiben können und trug sich mit diesem Stoffe, sowie er einen
„Egmont“ und „Götz“ geschrieben. Doch ihn hätte nur das Charakterbild
interessirt, er hätte dem leichtblütigen Niederländer, dem treuherzigen
deutschen Ritter das Schweizer Naturkind gesellt, und in der Ausführung
wäre gewiß viel Genrebildliches, viel „Jery und Bätely“ mituntergelaufen.



Hat die Dichterphantasie nun ihren Stoff erfaßt: so beginnt sie mit
seiner Läuterung und Erhebung. Das Zufällige scheidet sie aus und
giebt ihm Schwingen der Seele. Sie sucht der Gestalt die schöne Mitte
des Menschlichen zu retten, hält sie allgemein genug, daß Jeder mit ihr |#f0114 : 92|

denken und empfinden kann, und doch auch wieder individuell genug, daß
ihr Denken und Empfinden das scharfe Gepräge eines bestimmten
Charakters trägt. Vor der dichtenden Phantasie schwebt stets ein ganzer
Zug von Gestalten und Bildern ─ je reicher sie ist, desto größer die Fülle
der Vorstellungen, die über ihre Schwelle tritt! Jn dieser Beziehung ist
alles Dichten ein rasches und glückliches Wählen, nicht der Kritik, sondern
der Begeisterung! Von allen diesen Bildern kann nur eins das
berufene sein, die Jdee zu tragen ─ der Genius winkt ─ und wie Eisen
an den Magnet schießt es zu schönem Bund an den Gedanken, während
die andere dunkle Schaar wieder zum Orkus, in die Nacht der Seele
hinabsinkt.


Die dichterische Phantasie, als Begabung des Einzelnen, hat nun
ihre bestimmten Grade, nach denen man die Dichtergrößen zu messen
pflegt. Die künstlerische Begabung überhaupt ist der Jnstinct des Schönen!
Dieser Jnstinct ist als passiver weit verbreitet, die allgemeine
Empfänglichkeit, ohne welche dem Künstler das Publikum fehlen würde.
Der Sinn für das Schöne kann einen hohen Grad erreichen, ohne aus
der Passivität herauszugehn. Jn der That giebt es dichterische Naturen,
in denen ein großer Genius schlummert, ohne je zu erwachen!
Wir glauben zwar nicht, daß Raphael ein großer Maler gewesen, auch
wenn er ohne Hände geboren worden ─ aber er hätte auch so in
seiner Phantasie die sixtinische Madonna angeschaut! Es kann Menschen
geben mit der Phantasie, mit dem Weltblick eines Shakespeare ─
aber ihnen ist nicht die Zunge gelöst, sie tragen diese dichterische camera
obscura der Welt schweigend herum! Es sind die großen, stummen
Poeten, die in keine Poetik gehören! Vielleicht versuchen sie zu dichten
─ aber ihr Sprechen ist nur ein Stottern, und sie bringen die Gedanken,
die hell vor ihrer Seele stehen, nur in zerhackten Wörtern zu Tage. Sie
stehen noch jenseits der Grenzen der Dichtkunst; denn diese beginnt erst
da, wo es ein Gott dem Menschen gab, zu sagen, was er leide. Mit
diesem „Sagen“ wird der Jnstinct des Schönen activ ─ wir treten in
den hellen Tag der dichterischen Begabung.


Man unterscheidet die dichterische Begabung als Talent und Genie.
Talent ist Formgewandtheit, Sicherheit und Geläufigkeit des Denkens,
Empfindens und Gestaltens, aber mit unbewußter Anlehnung an irgend |#f0115 : 93|

ein Gegebenes ─ Genie ist die erhabene Sicherheit einer großen Natur,
welche, um mit Kant zu sprechen, der Kunst die Regel giebt und aus dem
frischen Born ihrer Originalität schöpft. Das Talent ist glänzend und
blendend im Einzelnen, das Genie durchgreifend und bewältigend im
Ganzen. Das Talent ist in vielen Satteln gerecht, das Genie vielleicht
nur in Einem, aber in diesem Einen einzig. Es ist, wie Schelling sagt,
„still, einfach, groß und nothwendig wie die Natur.“ Das Genie legt
in Alles die ursprüngliche Kraft, Weihe und Fülle einer nur ihm eigenthümlichen
Weltanschauung; es ist immer im Mittelpunkt der Welt und
des geistigen Lebens. Das Talent verfolgt bald diese, bald jene Richtung;
was ihm eigen scheint, ist oft anempfunden und angeweht, oder
wo es ihm wirklich angehört, da fehlt ihm die Tiefe; es bewegt sich
immer auf der Oberfläche der Welt! Das Genie hat das Organ für
das Bedeutsame des Lebens; ihm ist die Anschauung der Jdeeen angeboren;
es sieht das Ewige im Vergänglichen. Das Talent hat einzelne
Lichtblicke, die es dem Genie nähern; aber im Ganzen ist es in alle vergänglichen
Jnteressen des menschlichen Willens zu sehr verwickelt, zu
flüchtig, um den Spiegel des Alls immer rein zu halten. Ueber der Form
verliert es oft den Gehalt! Die Form des Talentes kann dem Anscheine
nach glücklicher und glänzender sein, als die des Genies ─ aber die
Form des Genies trägt jenes Siegel höherer Nothwendigkeit, das sich
nicht beliebig von seiner Schöpfung lösen läßt. Wie meisterhaft ist die
Form bei Platen, Geibel und andern Talenten ─ wie sehr aber fehlt
ihr jenes eigenthümliche Arom, das einen Schiller, Shakespeare
oder Jean Paul kennzeichnet, jener unsagbare „geistige Duft,“ der uns
gefangen nimmt mit eigenthümlicher Trunkenheit, uns das Gefühl giebt,
wir leben in einer Welt, die nur einmal existirt, in der Welt, die der
Genius schuf! Jn der That haben diese Dichter einen stets auf das
Große und Ganze der Welt und des Lebens gerichteten Sinn, und während
die Werke des Talentes die mannichfachsten geistreichen Betrachtungen
über menschliche Verhältnisse, über die Beziehungen des Lebens enthalten,
die nach allen Seiten hin auf's Treffendste bezeichnet werden,
finden wir in den Werken des Genies einen aus dem ewigen Grund des
Lebens hervorsprudelnden Gedankenquell! Ebenso tief wie große Religionsstifter
und Denker fassen jene Dichter das Leben auf, und wo die |#f0116 : 94|

Weisheit verstummt, darf die Schönheit noch reden und das Weltgeheimniß
lösen! Vom Genie ist indeß die Genialität zu unterscheiden,
die nur der unausgegohrene Drang des Genius ist! Jn allen Uebergangsepochen
der Literatur wuchern die Genialitäten; was sie schaffen,
sind Anläufe origineller Kraft, denen aber die große Durchbildung des
Genius fehlt. Sie haben nicht die Sauberkeit, Gefälligkeit, nicht die
schwunghafte Form des Talentes, ihnen fehlt sowohl der Fluß des
Talentes, wie der Guß des Genies; es sind kometarische Naturen,
umirrender Lichtdunst ohne sichere Bahn, vulkanisch zerklüftete Geister!
Wohl hat auch das echte Genie etwas Vulkanisches; doch gleicht es darin
der Sonne, deren Vulkane wir nicht sehen, wohl aber das Licht, das sie
über so viele Welten ausströmen! Wir erinnern an Otway, an Lenz, an
Grabbe, auch Heine und Byron stehn an der Schwelle des Genies, ohne
sie ganz zu überschreiten! Hier fehlt nicht der Hauch, der Klang aus der
Tiefe, der überraschende Blitz, der das Leben erhellt, aber es fehlt die
große, stille Tiefe des Genius, in der die Welt sich spiegelt! Die Natur,
die einen Shakespeare schaffen will, hält plötzlich inne im Schaffen und
schafft nur einen Grabbe. Seine Dichtungen sind von demselben kosmischen
Ursprung; aber es sind Meteorsteine und keine Welten! Hierher
gehört auch die kokette Jronie der Romantiker, welche auf den Freibrief
des Genies trotzen, ohne ihn zu besitzen! Heine dagegen hat das Auge
des Genius; aber er schielt damit durch schlechte Gewöhnung, und nur
selten sieht es uns an mit dem reinen und tiefen Blick. Die stille Naturkraft
des Genius wird bei diesen Genialitäten trotzig, lärmend und herausfordernd;
sie kehren das Herbe, Schroffe, Gigantische hervor, verachten
die Form, die ihnen für ihren bedeutenden Jnhalt ein Hinderniß
scheint, und bringen so nur schöne Fragmente hervor! Diese Gradbestimmungen
der productiven Phantasie lassen noch viele Gliederungen
und Uebergänge zu, bis zu jenen Diminutivtalenten herab, welche an der
Grenze des Dilettantismus stehn und irgend eine chinesische Erzählung
mit geschickter Porzellanmalerei auf die Theetische der ästhetischen Cirkel
stellen.


Die Dichternaturen, im Kreise ihrer Begeisterung lebend, können, wie
es Goethe im „Tasso“ geschildert, reizbar, launisch wechselnd in ihren
Stimmungen sein! Wie das Gemälde der Phantasie innerlich ergreifender |#f0117 : 95|

ist, als die Wirklichkeit: so ist auch das Leben der Phantasie von
höherer Spannung, von größerer Aufregung begleitet! Dem Dichter ist
es das wahre Leben ─ ein höheres Gewebe der Maja, als die wirkliche
Welt! Die großen Genien werden indeß immer im Leben harmlos, still,
unbefangen sein, leicht zu täuschen, weil sie die kleinen Zwecke der List zu
durchschauen verschmähen, weil ihnen die Jnteressen des äußern Lebens
werthloser sind! Jhre Sittlichkeit besteht in der großen Güte, mit der
ein Gemüth, das überall das Ewige schaut, die Welt umfängt! So
waren Shakespeare, Jean Paul, Goethe! Klarer Sinn, frische Empfänglichkeit
für alles Große, Gute, Schöne, reger, doch vielleicht einseitiger
Wissenstrieb werden sie auszeichnen! Was die Wendung zur wirklichen
That betrifft, so ist die Energie der Phantasie nicht immer eine Energie
des Willens, ja die Ueberreizung der ersteren kann die letztere lähmen.
Horaz hat, trotz aller energischen Oden, in denen er den Unerschrockenen
preist, dem selbst der Zusammensturz der Welt nicht die Fassung raubt,
in der Schlacht bei Philippi seinen Schild fortgeworfen, und Herwegh,
der die Kreuze aus der Erde reißt und in Schwerter verwandelt, hat sich
im badischen Revolutionskriege, nach Abzug aller verleumderischen
Zuthaten, mindestens nicht als Held gezeigt. Diesen kann man einen
Tyrtaeos, Camoëns, Körner und Andere gegenüberstellen. Dante war
ein energischer Staatsmann, Lamartine ein sentimentaler ─ welch' ein
Unterschied ist aber auch zwischen der divina commedia und den harmonies
religieuses!


Ueber die Bildung und Erziehung des Dichters hat Vida in seiner
„Poetik“ eine Menge Lehren gegeben, die nur von der äußerlichen Pädagogik
jener Zeit Zeugniß ablegen. Jn neuester Zeit hat sich dagegen oft
die Ansicht hören lassen, ein Poet müsse alle Bücher beiseite werfen und
nur im Buche der Schöpfung, in Wald und Flur u. s. f. lesen, eine
Ansicht, der wir so viele inhaltleere Reimereien verdanken, und die einen
Theil der Modelyriker zu Pygmäen macht, gegenüber den erhabenen
Gestalten unserer großen Klassiker! Gerade die geistige Befruchtung
durch die vielseitigste wissenschaftliche Bildung hat die volle Entfaltung
jener reichen Genien hervorgerufen! Man denke nur an Schiller's
philosophische und historische Studien, an Goethe's Naturstudien und
universale Bildung, an Jean Paul's Polyhistorie, an Lessing's und |#f0118 : 96|

Herder's vielseitige Kenntnisse ─ man vergleiche damit die damaligen
und heutigen Matthisson's, Salis' und Hölty's, und man wird
zugeben müssen, daß unsere großen Geister sich von den kleinen gerade
durch die Tiefe und den Reichthum der Bildung unterscheiden! Alle jene
Dichtergenien haben auch wissenschaftliche Werke hinterlassen; sie haben
theoretisch und kritisch gewirkt, und es ist ganz consequent, wenn man
ihre echten Nachtreter in den allseitig gebildeten Autoren, den Hebbel's
und Gutzkow's, sucht und nicht in den Vertretern einer ephemeren Lyrik!
Der Dichter soll auf der Höhe seiner Zeit stehen; deshalb muß ihm ihr
ganzes geistiges Streben erschlossen sein! Das Leben ist seine äußere, die
Kunst und Wissenschaft seine innere Bildungsschule, und nur die Jgnoranz
preist das ignorante Talent! Eine andere verkehrte Auffassung
der dichterischen Begabung ist diejenige, welche in ihr einen Kainsstempel
sieht und den Dichter „einsam mit flammender Stirne“ durch die Mitwelt
wandern läßt. Hiergegen muß man behaupten, daß die Einsamkeit des
Genius keine unselige ist, und daß die Gabe der Dichtkunst als eine Gunst
des Geschickes angesehen werden muß. Denn gerade der Weltblick des
Genius hat jene Ruhe und Harmonie, welche zugleich die höchste Weisheit
und das höchste Glück der Erde ist. Man wird diese Ansichten wenig
modern finden, weil die „Zerrissenheit,“ das Unglück der Talente zu
den Stichwörtern der modernen Schule gehört. Die Jronie der Romantiker
hat sich in diese Koketterie mit dem Weltschmerz geflüchtet ─ und
seit der englische Childe Harold seine von den Orgien Newsteadabbey's
erschöpfte Seele in die Toga einer großartigen Weltmüdigkeit hüllte, seit
der bleiche deutsche Poet der rue d'Amsterdam mit seiner Krankheit
prahlte, lange vorher, ehe ihn die Hand des Schicksals auf ein schmerzliches
Krankenlager warf, haben die jungdeutschen Autoren und selbst
Dichter wie Freiligrath und Beck das Dogma vom „Fluche des Dichtertalents“
an die Spitze ihres Credo's gestellt. Die Jdeale dieser Richtung
waren die Halbgenies, ein Günther, Lenz, Grabbe! Jn allen Gesellschaften
bemühten sich die Poeten, jene verstörte Positur „des einsamen
Schmerzes“ und der erhabenen Weltmüdigkeit anzunehmen, welche für
ein sicheres Kennzeichen ihrer hohen Begabung galt! Diese Zeit ist
glücklicherweise vorüber! Die echte moderne Poesie wird sich in alle
Dissonanzen des Lebens vertiefen, ohne ihre ewige Harmonie zu verlieren! |#f0119 : 97|

Und wenn auch der Optimismus eines Leopold Schefer und das
vielgepriesene Glück dieses dichterischen Polykrates nach der andern Seite
hin als extrem gelten muß: so steht sie doch der echten dichterischen Weltanschauung
näher, als jene Verzweiflung der Ohnmacht und Blasirtheit.
Doch wird man uns entgegnen, daß der Genius und der Wahnsinn sich
keineswegs fern sind; man wird uns auf Hölderlin und Lenau verweisen,
auf andere geniale Menschen, einen Rousseau und Alfieri, die in
einzelnen Lebensmomenten dicht an der Grenze des Wahnsinns standen.
Jn der That zeigen sich Dichternaturen oft unverständig in den Beziehungen
des wirklichen Lebens; die Ungeduld über seine störenden Berührungen
kann sich bis zur Leidenschaftlichkeit steigern; das an die Anschauung
der Jdeeen gewöhnte Auge verlernt leicht den Blick auf den Zusammenhang
der endlichen Dinge. Schon Plato hat dies sehr schön ausgedrückt,
indem er die irdische Welt mit einer Höhle von Schattenbildern vergleicht,
in welcher sich ein Auge nicht zurechtfindet, das außerhalb der Höhle das
Sonnenlicht und die wirklich seienden Dinge, die ewigen Jdeeen geschaut.
Er sagt, daß kein echter Dichter ohne einen gewissen Wahnsinn sei, und
auch Aristoteles stimmt ihm hierin bei*). Die Dichter selbst bekennen,
daß ihr Aug' „in schönem Wahnsinn rollt.“ Jn der That ergeht sich der
Dichter, wie der Wahnsinnige, in einer Kette von Phantasiebildern, die
ein selbstständiges, der äußern Wirklichkeit entlegenes Leben haben. Auch
der Dichter wird von seinen Phantasiebildern hingerissen, wie der Wahnsinnige
─ aber bei jenem ist das Bewußtsein der freien Schöpfung lebendig,
der wache über dem Spiele der Vorstellungen stehende Geist; dieser
ist ganz in ihrem Taumel verloren und unterscheidet sich nicht mehr als
Schöpfer von seinem Werke! Wo daher dies Band des Bewußtseins
zerreißt: da kann leicht das Genie in Wahnsinn übergehen und seine
glänzende Bildersprache im Reiche zusammenhangloser Einbildungen fortsetzen!
Man wird die gestörte Harmonie reich begabter Geister bedauern,
aber nie vergessen dürfen, daß die dichterische Manie von der des

*)
Nach Seneca de tranq. animi 15, 16: nullum magnum ingenium sine mixtura
dementiae fuit. Vergl. auch hierüber die geistvollen Betrachtungen Schopenhauer's:
Die Welt als Wille und Vorstellung. S. 274 u. flgde.
|#f0120 : 98|

Tollhauses nur durch jene hohe, Alles durchdringende Besonnenheit gesondert
ist, ohne welche sich freilich Shakespeare nicht von seinem Lear und
seiner Ophelia unterscheiden würde! ──────


Dritter Abschnitt.

Jdealismus und Realismus.


Jndem die productive Phantasie einen Stoff aus der dichterischen
Stoffwelt herausgreift und gestaltet, schafft sie das Kunstwerk, die
Dichtung. Ehe wir indeß seine Form und Gliederung näher betrachten,
müssen wir noch die allgemeinen Principien dichterischer Behandlungsweise
in's Auge fassen. Hier bieten sich uns zunächst die beiden
großen Gegensätze des Styls dar, die aus der Weltanschauung des Dichters
hervorgehen, und deren Kampf in der neuesten Literatur heftiger als
je entbrannt ist ─ wir meinen den Jdealismus und Realismus.


Der Realismus geht von der Nachahmung der Natur und der
Wirklichkeit aus, der Jdealismus von der Welt der Jdeeen, vom Reiche
des Geistes. Der einseitige Realismus schafft ein Kunstwerk, in welchem
die geistlose Natur herrscht; der einseitige Jdealismus eins, in welchem
der naturlose Geist herrscht. Nur der Bund von Beiden kann das
Schöne, die erscheinende Jdee, in ein wahres Kunstwerk bannen, in welchem,
je nach der Richtung der Zeit und der Begabung der Talente, wohl
der eine oder der andere zu einem Uebergewicht kommen kann, ohne indeß
die Harmonie aufzuheben. So herrscht z. B. bei Goethe der Realismus,
bei Schiller der Jdealismus vor, aber nicht bis zu einseitiger Störung;
denn Goethe hat einen „Faust“ geschrieben und Schiller „Wallenstein's
Lager.“ Jn der neuesten Zeit ist indeß der Realismus die Parole der
Kritik und die Losung des Tages geworden; er ist in einen ästhetischen
Materialismus ausgeartet; man hat den Jdealismus als Geisterseherei
geächtet und sucht sich überhaupt vom „Geist“ nach Art des Proktophantasmisten
im „Faust“ zu curiren, von dem Mephistopheles sagt:


Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen,
Das ist die Art, wie er sich soulagirt,
Und wenn Blutegel sich an seinem Steiß ergetzen,
Jst er von Geistern und vom Geist curirt. ─
|#f0121 : 99|


Die Nachahmung des Wirklichen als eine bloße Wiederholung desselben
kann das Kunstschöne nicht erzeugen. Zwar dürfen wir nicht vergessen,
daß auch bei dieser bloßen Wiederholung ein Durchgang durch die
Phantasie des Künstlers stattfindet, der das Wirkliche von einigen
Schlacken säubert und einen, wenn auch schwachen Schimmer des Jdealen
darüber ausgießt. Doch ist dieser poetische Hauch nicht bedeutsamer,
als was uns aus einem Tagebuch, einer Biographie, Memoiren anweht
─ nur Silber- und Goldpapier, das sich an die rauhe Schaale der Wirklichkeit
anschmiegt, ohne sie aufzulösen! Sehen wir nun, welche Rolle
der Realismus in der Poesie spielt und unter welchen Auspicien er den
Sieg über seinen Gegner zu erringen sucht!


Die industrielle Entwickelung der Neuzeit, der praktische Zug unserer
Kultur scheint jene stille Jdeeenwelt zerstört zu haben, in welcher die Denker
und Dichter von Weimar gelebt! Man drängt die Poesie auf den
Markt der öffentlichen Jnteressen, und nachdem sie eine Zeit lang den
politischen und religiösen Tendenzen gedient, soll sie jetzt der Prosa des
Lebens, den Jnteressen der verschiedenen Stände, dem Ackerbau, dem
Fabrikwesen, dem Handel und den Gewerben dienstbar werden. Auch
diese Seite unserer Kultur hat ihre Jdealität ─ wir erinnern nur daran,
wie Grün, Beck und Geibel dem Dampf und den Eisenbahnen ihr
poetisches Element abgelauscht! Aber der Realismus will, daß wir uns
für die Dinge, wie sie gerade sind, interessiren, daß die Poesie die Wirklichkeit
abschreibe und das profane Berufsleben mit ihrem Zauber heilige!
Man hat z. B. den Satz proklamirt: der Roman soll das deutsche Volk
bei seiner Arbeit suchen! Jn Folge dieses Satzes haben wir nun Romane
erhalten, in denen sich die Poesie der Materialwaarenhandlungen, der
Schieferdeckerei und verschiedener anderer Gewerbe geltend macht! Jener
mit so vielen Prätensionen auftretende Satz ist indeß nicht viel mehr als
eine Nichts sagende Phrase! Die Arbeit isolirt den Menschen und um so
mehr, je mehr sie sich in ein technisches Detail vertiefen muß. Ein Fabrikarbeiter,
der jahraus jahrein dieselbe mechanische Handbewegung macht,
wird die Poesie seines Lebens gewiß nicht in seiner Arbeit suchen, und
wenn auch ein Schneider, nach der Autorität Heinrich Heine's, in seinen
Rock „Jdeeen“ legen kann, so wird doch die Poesie einer Schneiderwerkstatt
bald erschöpft sein, so rasch, daß sie für den mehrbändigen Roman |#f0122 : 100|

von Karl v. Holtei nicht ausreichte! Dieser Realismus, der das deutsche
Volk bei seiner Arbeit sucht, kann nur gleichzeitig die Arbeit und die Poesie
verderben! Ein humoristisches Dichterauge kann zwar in den alltäglichen
Verkehr Gemüth und Geist hineinschauen ─ aber etwas Anderes ist's,
die kleine Misère des Lebens zu vergeistigen, etwas Anderes, sie zu verherrlichen!
Bei Jean Paul ist immer der Mensch das Erste, mag er
uns das kleinste Dorfschulmeisterlein schildern, nicht sein Stand und seine
Arbeit ─ in den realistischen Romanen ist es umgekehrt! Wie reizend
ist das Stillleben, wenn es Jean Paul darstellt! Welches echt idyllische
Behagen umschwebt seine Pfarr- und Schulhäuser, und wie spannt sich
über dem kleinsten Fleck Erde, den er schildert, der ganze Himmel mit
allen Sternen aus, welche der Menschheit leuchten! Und dabei ist er
reicher an realistischen Zügen, als unsere modernen Dorfgeschichtenschreiber;
aber sie stehen nie um ihrer selbst willen da, es sind unendlich feine,
farbenreiche Zeichnungen auf den Schwingen der Psyche! Alles geht auf
in der Stimmung des Dichters, die groß, frei, weltumfassend in das
Kleinste ihre eigene Bedeutung legt. Wie anders ist der Realismus der
Prügeleien, Grenzstreitigkeiten, Civil- und Criminalprocesse, welcher unsere
Dorfnovellen belebt! Wie ganz und voll ist hier die Hingabe an die
Prosa der Lebensbedürfnisse, die ausführliche Schilderung der äußerlichen
Geräthschaften, der profansten Handthierungen, die an und für sich unser
Jnteresse in Anspruch nehmen sollen. Ein Maler, wie Tenier und Ostade,
kann das künstlerische Jnteresse an sein Genrebild fesseln ─ es tritt als
Ganzes vor uns hin; jedes Einzelne ist berechtigt, da wir es zusammen
schauen, und gerade die ästhetische Hingabe an das Unbedeutende erfüllt
uns mit Rührung! Bei dem Dichter gestaltet sich dies, wie wir schon
oben sahen, ganz anders, und er verfällt, durch Detaillirung des Unbedeutenden,
in baare Prosa.


Gleich unberechtigt ist der blanke Realismus im Drama! Familiengemälde,
in denen irgend ein prosaisches Laster, wie die Spielwuth, oder
ein prosaisches Verbrechen, wie Kassendefecte, verstandesmäßig nach
Ursache und Wirkung abgehandelt oder die Folgen schlechter Erziehung
in Scene gesetzt werden, in denen die Charakteristik daguerreotypartig
uns nicht die kleinste Warze erspart und die spießbürgerliche Gemüthlichkeit
des häuslichen Zusammenlebens durch Gespräche über die Tintenflecke |#f0123 : 101|

an den Händen der Kinder ausgedrückt wird ─ solche realistische
Lebensbilder entbehren zu sehr der Wiedergeburt aus dem Geiste, um
einen anderen als ernüchternden Eindruck zu machen. Ebenso verkehrt
ist das Verlangen, das der Realismus an die Tragödie stellt: sie solle die
Weltgeschichte kopiren! Das Vorbild, das Shakespeare in seinem historischen
Dramencyklus gab, ist durchaus nicht nachahmenswerth; es fehlt
diesen Dramen die centrale Einheit des Kunstwerkes, und die meisten derselben
stehen an der Peripherie, nicht im Centrum des Shakespeare'schen
Genius. Der Weltgeist verfolgt in der Geschichte andere Zwecke, als die
Schönheit ─ für diese hat er im Geist des Künstlers ein Asyl begründet,
der die Geschichte, wo er sie erfaßt, mit seinem Feuer läutern muß.


Der Realismus als durchgreifendes Stylprincip kann in der Dichtkunst
nur zu Verirrungen führen. Dagegen ist er vollkommen berechtigt,
wo er sich in den Dienst der Jdee begiebt und die von ihr durchleuchtete
Welt in ihrer ganzen Wahrheit darstellt. Jn dieser Weise waren Homer
und Shakespeare, Goethe und Jean Paul Realisten! Sie hatten den
Sinn für alle Formen und Farben der Wirklichkeit, aber der durchscheinende
Untergrund der Jdee hob und verklärte ihre bunte und vielbewegte
Welt! Eine eigenthümliche Abart des Realismus ist der phantastische,
wie er sich z. B. in den Werken der romantischen Schule offenbarte.
Obgleich hier die gewöhnlichen Bedingungen des verstandesmäßigen
Zusammenhanges der Erscheinungen aufgegeben waren: so bewegte sich
doch im Aether dieser Traumwelt ein recht derber Realismus, dessen
Vignette der Weber „Zettel“ mit seinem angezauberten Eselskopf ist.


Gegenüber der eifrigen Propaganda, welche in Lehre und Beispiel
den Realismus in den Vordergrund unserer Literatur zu drängen sucht,
ist es an der Zeit, die Rechte des Jdealismus und einer Poesie des Geistes
zu wahren, gegen deren Verirrungen wir nicht blind sind, die aber
doch das künstlerische Princip tiefer faßt, als jene Richtung, die nur einer
geistverlassenen Wirklichkeit huldigt. Man mag gegen Schiller und seine
Schule polemisiren, soviel man will, man mag die philosophischen Ausschreitungen
in der Lyrik, den mehr gedankenvollen, als sinnlich kräftigen
Ausdruck seiner dramatischen Helden tadeln ─ dennoch ist nicht zu leugnen,
daß der Jdealismus nicht nur dem deutschen Volke näher steht,
inniger mit seinem ganzen Geistes- und Gemüthsleben verwachsen ist, |#f0124 : 102|

als der Realismus, sondern sich auch mehr in der Sonnennähe der Kunst
befindet! Das Princip des Realismus ist für die künstlerische Ausführung
das Dürftigste von der Welt! So z. V. im Drama, wo es den
Ausdruck des Affectes und der Leidenschaft gilt! Der Realist hilft sich
hier mit irgend einem naturgemäßen Seufzer, einem „ach! o! ihr Götter!“
einer stummen Ohnmacht, wofür sich in den Werken unserer Sturm= und
Drangautoren, z. B. in den Dramen von Klinger, die zahlreichsten
Proben finden. Dies ist allerdings Nachahmung der Natur; aber schon
Hegel verlangt, daß der Dramatiker sein Pathos expliciren solle, und die
Beschränkung auf die Naturlaute der Empfindung ist ein Zeichen geistiger
Armuth, welche sich nicht in die Tiefen der Seele zu versenken und hinter
ihren Schleiern und Verhüllungen ihr eigenstes Wesen zu ergründen und
auszusprechen vermag. Gerade wo die Natur verstummt, soll der Poet
ihr eine Sprache leihen!


Freilich giebt es auch einen windigen, spinnenbeinigen Jdealismus,
der nur ein dichterisches „Schattenspiel an der Wand“ zu Tage bringt!
Die große Maculatur der Liebeslyrik, die im Duft der Empfindungen
zerflattert, ohne ihnen schöne Gestalt zu geben, gehört hierher. Ein großer
Theil der Klopstock'schen Lyrik und Epik mag auch diesem falschen
Jdealismus zugerechnet werden; denn die Empfindungen Klopstock's
bewegen sich zerfließend in einem so verdünnten Aether und in den Ausdrücken
einer so abstracten Ueberschwenglichkeit, daß sie dadurch ungenießbar
werden. Die Empfindung muß aus ihrer reinen Jnnerlichkeit heraustreten,
wenn sie uns ergreifen will ─ die dichterische Empfindung
bedarf des Bildes als ihrer Handhabe und wird uns nur durch das
Bild ergreifen. Sonst bleibt sie ein musikalisches Weben ─ und es ist
charakteristisch genug, daß Klopstock die kühnsten sprachlichen Fugen
anwenden muß, um die unbestimmte Musik seiner Seele auszudrücken!
Daher seine in undeutschen Pyrrhichien schwindsüchtig galloppirenden
Rhythmen oder die Sisyphusarbeit, mit der er ebenso undeutsche Molossen
aufeinanderwälzt! Daher der Oratorienstyl seiner „Messiade,“ welche
sich zuletzt in gehalt- und gestaltlose Engelssymphonieen verflüchtigt! Ein
ebenso verkehrter Jdealismus blüht an den Pforten der Romantik als
die „blaue Blume“ des Novalis, gährt gestaltlos in Hölderlin's „Hyperion,“
schafft immer wieder Dichter und Künstler, um sich aus der realen |#f0125 : 103|

Welt in die Stimmungen des Dichtergemüthes flüchten zu können! Hierher
gehört auch eine metaphysische Poetik, welche ihre Jdeeen und Begriffe
nicht in Gestalten umsetzen kann; hierher die klassische Nachdichterei, welche
Formen, die einer anderen Welt angehören, der Gegenwart aufzuzwingen
sucht.


Nur die echte Durchdringung von Natur und Geist, Jdealismus und
Realismus im Bunde schaffen das wahrhaft schöne Dichtwerk! Da
aber alle Dichtung aus dem Geiste hervorgeht, eine freie Schöpfung des
Geistes ist: so hat das Princip des Jdealismus höhere Berechtigung als
das des Realismus, welcher diesen freischaffenden Geist an die Galeerenbank
der Wirklichkeit schmiedet und zur sclavischen Nachahmung der
Natur verdammt. ──────


Vierter Abschnitt.

Der Dichter und der Zeitgeist.


Der dichterische Genius gehört einer bestimmten Epoche der Weltgeschichte
an, und seine wahre Bedeutung besteht darin, dem Geist dieser
Epoche einen vollkommenen und ewigen Ausdruck zu geben. Das ist
die Größe von Homer und Sophokles, Dante und Calderon, Shakespeare
und Schiller! Der Genius kann seiner Zeit vorleuchten, aber sie nur
giebt ihm die Fackel in die Hand. Er vereinigt in sich alle Lebens=
und Gedankenfülle seines Jahrhunderts und giebt ihr sein eigenes
Gepräge.


Die Dichter des Alterthums und des Mittelalters waren von dieser
Wahrheit unmittelbar durchdrungen! Naive Kinder ihrer Zeit schwankten
sie nicht in der Wahl und Behandlung ihrer Stoffe, sondern der Puls
ihrer schöpferischen Thätigkeit richtete sich nach dem Herzschlag ihres Zeitalters.
Erst der neueren Zeit war es vorbehalten, jenen Dilettantismus
zu erzeugen, der sich in alle erdenklichen Weltanschauungen hineinphantasirt
und alle Formen nachahmt, selbst wenn ihre Seele längst entflohen.
Das moderne Jdeal aber hat ebenso seine Berechtigung, wie
das antike und mittelalterliche, auf welche wir einen flüchtigen Blick
werfen wollen.

|#f0126 : 104|


Die Vorstufe des antiken Jdeals ist das orientalische, das symbolische.
Jm Symbol deckt das Bild nicht die Jdee; es leuchtet nur
flüchtig in ihre dunkle Tiefe. Daher werden tausend Fackeln angesteckt,
aber dies wogende Glanzmeer erhellt nimmer den Abgrund der einen,
dunklen Substanz. Ueberladung des Ausdrucks, Pracht und Fülle der
Bilder, die aber immer nur auf den Gedanken hinzeigen und ihn nicht
tragen, ein unklarer Mythus, der sich von der symbolischen Hülle nicht
losgerungen hat, ein Hin- und Herspielen der Beziehungen und der
Bedeutungen charakterisiren die symbolische Stufe. Die Dichtung selbst
wurzelt ganz in der Religion. Die Dichter aber sind Träger des Volksgeistes
─ ihre Werke bedeutsamere Denkmäler, als die riesigen Bauwerke,
deren Trümmer noch bestehn. Das Mahabharata, das Ramayana,
die Dramen des Kalidasa sprechen die indische Weltanschauung tiefer
und lebendiger aus, als etwa der Tempel von Elephantine! Und wie
unterscheidet sich wieder von diesen die dualistische Heldensage von Jran
und Turan in dem gewaltigen Parsenepos des Firdusi! Seit Goethe's
„westöstlichem Divan“ ist es Mode geworden, den seelenerregenden
Gesang Bulbul's auch in den deutschen Dichterwäldern ertönen zu lassen,
und besonders Rückert hat in Ghaselen und Makamen die priesterliche
Weisheit eines orientalischen Sarastro an den Tag gelegt! Man lehrte,
wie die Brahmanen; man liebte, wie der persische Hafis; man erzählte,
wie der arabische Hariri, und hinterdrein kam Mirza-Schaffi, der Weise
von Tiflis! Auch äußerlich schwelgte die orientalische Lyrik in jener
Bilderfülle, die sich um den dunklen Gedanken legt, wie Perle und
Edelstein um das dunkle Teint der Orientalin! Das bunte Leben des
Orientes konnte man sich wohl gefallen lassen, um so mehr, als jene
stabile Welt noch immer das Gepräge der Urzeit trägt und mit der
Kultur der Gegenwart in die mannichfachsten Berührungen kommt; die
Lebens- und Liebesweisheit eines Hafis in ihrer Polemik gegen ascetisches
Kuttenwesen konnte sogar als frisches Ferment in den Kämpfen der
Gegenwart benutzt werden; aber das Gemeinsame mit jener Weltanschauung
bewegt sich immer nur auf der Oberfläche; in den Tiefen
herrscht eine weltweite Verschiedenheit zwischen dem symbolischen und
dem modernen Jdeal. Bearbeitungen und Nachdichtungen jener Poesie
können in weitern Kreisen ein wissenschaftliches und ästhetisches Jnteresse |#f0127 : 105|

erwecken; aber die selbstständige Dichtkunst kann sich jene Formen nur
vorübergehend aneignen, da dieselben überdies sich durch ihre naive Kindlichkeit
gegen den modernen Jnhalt spröde zeigen.


Das plastische Jdeal, das Jdeal des klassischen Alterthums, ist
ebenfalls, wie das symbolische, der Ausdruck des ganzen Glaubens,
Lebens und Empfindens jener Zeit. Jener klare Formensinn, der sich
unter Hellas heiterem Himmel entfaltete, drückte auch den Werken der
Dichtung sein Gepräge auf und zauberte alle Götter- und Menschenbilder
mit klarsten Umrissen in einen durchsichtigen Aether der Phantasie.
Dies Jdeal stellt die ungebrochene Jugend der Menschheit dar, die ohne
Sehnsucht und Wehmuth und alle Störungen der Reflexion nur nach
erreichbaren Zielen strebt! Die einfache Schönheit, die reine Jdealität
der Form, mußte sich, wie in den Tempeln und Sculpturbildern, auch in
den Dichtwerken abprägen! Einfach waren die Lebens- und Kulturformen,
einfach die Conflicte ─ voll und ganz, fest in sich begründet,
trat der Mensch in's Leben und in's Gedicht! Doch eine sittliche Grazie
der Behandlung umschwebte selbst das Rohe und Gewaltsame und milderte
seine Grausamkeit. Jn dieser Klarheit der Form, Sicherheit der
Zeichnung, in der ganzen künstlerischen Harmonie, in der maaß= und
tactvollen Behandlung bleiben die großen Genien Griechenlands ewige
Muster, der Quell, an dem auch die Muse der Gegenwart schöpfen muß,
wenn sie sich die Jdealität der Jugend bewahren will! Auch das strengere
Rom hat in Horaz und Ovid, Tibull und Properz und selbst in
Virgil, der wohl der kleinste von diesen Dichtern ist, eine Reihe von
Talenten, deren geistreicher Zug der Gegenwart verwandter ist, die aber
daneben die antike Harmonie und das plastische Gepräge der Darstellung
haben. Es ist kein Verbrechen für die Gegenwart, daß Properz sie
begeistert, wie er Goethe entzückt, daß wir bei Latium und Hellas in die
Schule gehen! Jene großen Züge plastischer Bestimmtheit, wie sie die
antike Poesie aufweist, sind der Dichtkunst in keiner Epoche entbehrlich,
aber die bloße Nachahmung der Antike entwürdigt die schöpferische Kraft
der Neuzeit und hat selbst viele Werke unserer Klassiker in bloße gelehrte
Studien verwandelt. Die Sehnsucht nach den „Göttern Griechenlands,“
die wie jede Sehnsucht romantisch ist und nicht hellenisch, der Seufzer
Schiller's, der sich aus der deistischen Aufklärung heraus nach einer mit |#f0128 : 106|

lebendigen Gestalten bevölkerten Welt sehnte, muß sich auf jene Heiterkeit
der Weltanschauung beschränken, die den Parnaß aller Zeiten so
umschweben muß, wie sie den griechischen Olymp umschwebt. Der große
heitere Sinn sei, auch in getrübter Zeit, dem Künstler eigen! Doch unserer
Zeit die ungemilderte Strenge plastischer Formen aufzwingen, Helden
und Heldinnen der griechischen Mythe auf die Bretter bannen und bei'm
Zeus und Styx schwören zu lassen ─ das ist eine klägliche Wiedererweckung
hellenischen Geistes, die gerade das verabsäumt, was sie von
den großen Mustern vorzugsweise hätte lernen sollen! Jene Alten waren
die Söhne ihrer Zeit, ihres Volkes bis in alle Schwächen, bis in jeden
Aberglauben hinein ─ und sind doch und gerade deshalb unsterblich
geworden! Oder stört es uns bei Sophokles, daß eine seiner Haupttragödieen
„Antigone,“ auf jenem hellenischen Aberglauben beruht, nach
welchem der Unbestattete auch im Schattenreiche keine Stätte fand und
an den Fluthen des Styx Jahrhunderte lang umherirren mußte? Das
Begräbniß war daher den Alten wichtiger, als der Tod selbst ─ und
nur aus diesem Aberglauben erklärt sich die ganze Handlungsweise einer
Antigone, erklärt sich die Fortsetzung der Tragödie „Ajax“ noch nach dem
Tode des Helden! Sophokles dichtete aus der Weltanschauung seines
Volkes heraus ─ thun wir dasselbe!


Der Gegensatz des plastischen Jdeals ist das romantische, das
Jdeal des Mittelalters, leise aufdämmernd in vorchristlicher Zeit in den
altgermanischen Sagen, in den Riesenbildern der Edda und Ossian's
Nebelgestalten, aber erst durch die Vermählung mit dem christlichen Geiste
zu voller Pracht entfaltet! Hier ist alles Jnnerlichkeit, Glauben, Glorie,
Empfindung ─ daneben aber geht unvermittelt die Rohheit der äußern
Welt ihren Gang fort! Das keusche Minnelied und die derbste Liebespraxis,
die heiligste Begeisterung z. B. der Kreuzfahrer und die brutalsten
Ausschweifungen, innige Frömmigkeit und ungezähmte Raublust gehen
Hand in Hand! Der heilige Choral in den Herzen, in den Fäusten die
Brandfackel! Dennoch vollzog sich in dieser dunklen Epoche, wo die
Begräbnißlampen des heiligen Grabes allein die Welt erleuchteten, eine
große Umwälzung der Geschichte, und die Einkehr in das Jnnere bereitete
ein Leben des Geistes vor, von welchem die alte Zeit keine Ahnung hatte!
Die romantische Kunstform ist zerflossen und unbestimmt! Man vergleiche |#f0129 : 107|

selbst das markigste Product dieser Phantasie, die Nibelungen,
mit der Jlias ─ wie verschwimmend die Umrisse, wie verwaschen die
Fresken! Nach Homer kann man eine Karte der Umgegend Troja's
entwerfen ─ so klar ist seine dichterische Zeichnung der Scene, wo die
Handlung spielt! Jn den „Nibelungen“ hört man von Worms, dem
Rhein, vom Hunnenland ─ doch das sind alles höchst gleichgültige
Ortsbestimmungen! Dagegen ist die Motivirung in den Nibelungen
eine durchaus innerliche und beruht auf Empfindungen und Begriffen,
welche der alten Welt fremd waren. Zwar die schöne Helena ist die
Ate des trojanischen Krieges ─ aber welche andere Rolle spielen die
Frauen, eine Brunhilt, eine Kriemhilt in den Nibelungen! Sie
sind die Heldinnen des Gedichtes und führen durch ihren eigenen Entschluß
und ihre eigene That seine Katastrophen herbei! Traumhafter
gestaltet sich das Jdeal des Mittelalters in einem „Parcival,“ „Titurel,
Lohengrin“ ─ und mit süß verbrecherischer Sinnlichkeit in
Tristan und Jsolde,“ himmelweit verschieden von dem olympischen
Glück des netzgefesselten Mars und seiner Venus! Hier schafft die Jnnerlichkeit,
die bis zum Raffinement geht, eine verbrecherische Wollust, welche
die Alten nicht kannten! Bestimmter schon wurde die romantische
Zeichnung bei den romanischen Poeten, denen das antike Vorbild lebendig
war! Dante ist zugleich der Homer und Hesiod, Tasso der Virgil, Ariost
der Ovid des Mittelalters! Jn den Liedern der französischen Troubadours
versetzte sich die Romantik des Herzens mit jenem protestirenden
Geiste, der aus den Religionskriegen der Provence die Vorläufer der
großen reformatorischen Umwälzung Europa's machte. Die neuere
romantische Schule hat das Jdeal des Mittelalters mit gezwungener
Absichtlichkeit heraufbeschworen und in seine „mondbeglänzte Zaubernacht“
die oft barocken Gestalten einer mit jedem Jnhalte des Lebens
spielenden Phantasie hineingeträumt.


Das moderne Jdeal, das Jdeal der Neuzeit, vereinigt in sich das
plastische und romantische, entlehnt von jenem die geläuterte Klarheit
künstlerischer Form und objectiver Gestaltung, von diesem die tiefe, reiche
Jnnerlichkeit des Gemüthes, und stellt beides auf den Boden des freischaffenden
und handelnden Menschengeistes. Die moralische Zurechnung
dringt bis in die Tiefen des Gewissens; der Charakter in allen Mischungen |#f0130 : 108|

der Eigenschaften, in allen seinen Widersprüchen, in seiner ganzen
unendlichen Eigenheit wird der Träger der Geschichte, der Mittelpunkt
der Poesie! Der Menschengeist entdeckt ungeahnte Naturgesetze, eröffnet
der Phantasie die weitesten Blicke in die fernen Zonen, in unter= und
überirdische Geheimnisse; die Astronomie erläutert den Himmel, die
Geologie die Hölle! Gleichzeitig ist diesen Triumphen der Wissenschaft
die weiteste Verbreitung gesichert. Was die Phantasie einbüßt, indem
ihr die alten Reiche, die sie schuf, der Tartarus und das Elysium, die
Hölle und das Paradies geraubt werden: das gewinnt sie durch den
Reichthum der wirklichen Welt, der sich ihr erschließt. Die literarische
Kritik durchforscht und ordnet die geistigen Schätze aller Zeiten; die
Aesthetik giebt der Production feste und tief begründete Gesetze!


Diese vorherrschende Macht der Erkenntniß aber wirkt verführend
auf die Poeten. Jndem sie geistig die Dichtweise aller Zeiten beherrschen,
ahmen sie dieselbe nach und schmiegen sich willkürlich allen Formen an.
Die naive Hingabe an den Genius des Jahrhunderts droht verloren zu
gehn! Die Wahl der Stoffe aus entlegenen Zeiten verführt nicht nur
zu äußerlichen Anachronismen, sondern zu Anachronismen des Denkens
und Empfindens. Die Poeten folgen ihren gelehrten Sympathieen,
statt dem Geiste ihrer Zeit zu folgen, bewirthen das Publikum mit antiken
Symposien und mittelalterlichen Tafelrunden, oder gar mit finnischen
und lappischen Volksliedern, indem sie sich am Schreibpulte in die
Naivetät der Naturlaute hineinphantasiren! ─ Es entsteht eine styllose
Verwirrung des Geschmacks; die Virtuosität des nachahmenden Talentes
droht die ursprüngliche Kraft, den Zug des Genius zu verdrängen!


Diesem gegenüber stellt die Poetik das „moderne Jdeal“ scharfbetonend
in den Vordergrund, ein Jdeal, das am wenigsten mit der
Blasirtheit und der Zerrissenheit der jungdeutschen Epoche zusammenfällt
und auch mit vorübergehenden Parteitendenzen Nichts gemein hat. Die
Kultur der Gegenwart hat ein scharfes, wohlunterscheidbares Gepräge;
eine neue Aera der geschichtlichen Entwickelung hat begonnen. Wir sind
die Kinder dieser Kultur und sollen sie dichtend nicht verleugnen. Aus
dem Herzen seiner Zeit heraus dichte der Poet ─ dann dichtet er für die
Nachwelt. Das ist das erste Axiom aller echten Poesie ─ und nur
dadurch unterscheiden sich die großen Dichter von den kleinen. Jm Geiste |#f0131 : 109|

der Zeit dichten, heißt nicht der Mode huldigen ─ die Mode gehört dem
Tage an, nicht der Kulturepoche des Jahrhunderts. Jm Geiste der Zeit
dichten, heißt nicht das Ewige verleugnen ─ das Ewige geht durch alle
Zeiten hindurch, die Menschwerdung der Jdee begiebt sich heute, wie vor
Jahrtausenden; aber das Schöne ist erscheinende Jdee; die Erscheinung
ist auf diesem Gebiete von gleicher Bedeutung, wie die Jdee selbst.
Und indem diese untertaucht in den großen Verwandlungsproceß, in die
ewig neue Gestaltung der Geschichte, empfängt sie von jeder Epoche ein
anderes Gewand! Während die Jronie des Cervantes und der Welthumor
Shakespeare's an der Schwelle der neuen Zeit standen, Voltaire
und Rousseau begabte, aber unkünstlerische Propagandisten derselben
waren, Schiller und Goethe in einzelnen Werken mit Begeisterung ihre
Jdeeen verkündigten, in andern wieder sich von der Herrschaft der Antike
nicht freizumachen verstanden: hat die neueste Zeit, besonders in Lyrik
und Roman, eine wahrhaft moderne Richtung hervorgerufen, welche den
Beruf der Poesie erkannt hat, aus dem Leben der Gegenwart zu schöpfen.
Wenn sie der Begeisterung, den Gedanken und Empfindungen der Neuzeit
eine künstlerische Form zu geben weiß und das moderne Jdeal mit
der Weihe des Genius erfaßt: dann wird eine Blüthe der Klassicität
erreicht werden, gegen welche die unserer klassischen Epoche nur als eine
verheißungsvolle Vorblüthe erscheinen kann. ──────


Fünster Abschnitt.

Das dichterische Kunstwerk.


Die Phantasie, die einen Stoff aus dem Reiche des Naturschönen
erfaßt, gestaltet ihn künstlerisch, indem sie ihm eine die Jdee des Schönen
tragende Erscheinung giebt. Wie das Naturschöne, muß auch das Kunstschöne
eine für die Anschauung lebendige Wirklichkeit haben. Das
Kunstwerk besteht für die Sinnlichkeit ─ die Sinne sind die Agenten
der Schönheit, welche ihr Kapital in Umlauf setzen. Die Sinnlichkeit
der Poesie aber ist eine innerliche, ideale; es ist die im Reiche der Vorstellung
lebendige Sinnlichkeit, deren Formen und Farben nicht mit der
äußern Frische der Plastik und Malerei wetteifern, deren Klänge, nur |#f0132 : 110|

dem Bild und Gedanken dienstbar, nicht die freie Selbstständigkeit der
musikalischen Töne erringen, deren Magie und Wirkung auf den inneren
Menschen aber durch die potenzirende Kraft der Vergeistigung eine um so
gewaltigere ist. Jn dieser idealen Sinnlichkeit muß das dichterische
Kunstwerk eine selbstständige Wirklichkeit haben. Wie jedes Kunstwerk
ist es eine einzelne Erscheinung, aber als einzelne zugleich einzig.
Während die einzelnen Dinge der realen Welt ihren wahren Werth nur
durch den Begriff der Gattung erhalten, der sie angehören und die sie
zusammen bilden helfen: hat das Kunstwerk als einziges einen unendlichen
Werth, indem es nicht über sich hinausweist, sondern die ganze
Jdee lebendig in sich trägt. Das Dichtwerk hat daher als Ganzes seine
bestimmten Grenzen, die nicht der Zufall festgesetzt hat, die aus seinem
Wesen hervorgehen. Jnnerhalb dieser Grenzen ist es ein lebendiger
Organismus, dessen Theile nur durch und für das Ganze bestehen, der
nach außen eine geschlossene Einheit, nach innen ein reiches, vielgegliedertes,
aber der einen Seele gehorchendes Leben darstellt.


Sehen wir nun zuerst, wie das Dichtwerk entsteht! Was den Dichter
aus der Stoffwelt anweht, ist zunächst das dichterische Motiv, der
Stoff, insofern er der Phantasie als geeignet zur künstlerischen Darstellung
erscheint. Der Stoff wird zum Motiv, indem der Jnstinct des Künstlers
seine Berechtigung anerkennt. Wir sagen ausdrücklich der Jnstinct; denn
es ist der erste Blick der genialen Anschauung auf den Stoff, eine Art
geistiger Brautwahl, die Ueberzeugung, daß es der rechte ist. Das Motiv
ist der erste Keim des künstlerischen Organismus und auf der anderen
Seite der erste Hauch der platonischen Liebe in der Seele des Künstlers.
Jrgend ein historisches Bild, ein Wallenstein, eine Maria Stuart, erscheint
der Seele des Dramatikers im Schimmer einer Verklärung, die sie seiner
eigenen Gedanken- und Traumwelt so nahe rückt, daß sein Genius sich
sehnt, sie in sich aufzunehmen. So wird dem Lyriker irgend eine Stimmung
zum Motiv seines Gedichtes, dem Romandichter ein Erlebniß
zum Motiv eines Romanes. Ueber Werth oder Unwerth des Motivs
kann erst die Ausführung entscheiden, doch kann ein Motiv für den
einen Dichter werthlos, für den anderen bedeutend sein, je nach Art
und Richtung der Talente. Die Motive, welche Ludwig Tieck im
„Octavian“ und „Fortunatus“ gestaltete, wären für jeden anderen Poeten, |#f0133 : 111|

der nicht Tieck's phantasmagorische Weltanschauung besitzt, gänzlich
unfruchtbar gewesen. Weiter als das Motiv geht die Conception,
die dichterische Zeugung. Es ist die erste Vereinigung des gefundenen
Bildes und der schaffenden Jdee im Gemüth des Künstlers; aber eine
momentane, geheimnißvolle, dunkle Vereinigung. Sie giebt dem Dichter
den ersten Genuß der Production, das ahnungsvolle Aufgehen im
Gegenstande! Noch ist Alles chaotisch und dunkel; aber das entzückende
Selbstgefühl der Schöpferkraft sagt ihm bereits: hier wird es Licht werden!
und ein flüchtiger Blitz erleuchtet ihm prophetisch die gestaltete,
bunte Welt, die aber bald wieder in die Nacht der Seele zurücksinkt. Das
dramatische Talent z. B., das ein Motiv erfaßt, wird in schattenhafter
Gliederung bereits den Stoff gestaltet vor sich sehen. Es wird schon die
Einschnitte der Acte, die Gruppirung der Charaktere, die Peripetie mit
einer, wir möchten sagen, visionairen Klarheit, die es noch nicht festzuhalten
weiß, vor sich sehen; denn die echte Begabung schaut in den Stoff
die in ihr schlummernde Kunstform gleich mit hinein. Durch die Conception
ist das Kunstwerk als Ganzes in der Seele des Dichters aufgegangen;
aber dieser Aufgang selbst ist noch ein vorübergehender
Moment.


Die Ahnungen der Conception sucht der Dichter in der Skizze festzuhalten.
Jene ist ein Act der Begeisterung, diese ein Act der Kritik.
Was der Dichter dort in dunkler Einheit zusammengeschaut, soll sich hier
in seinem inneren Zusammenhang rechtfertigen. Mit der Skizze beginnt
die Mühe des Schaffens! Jener glückliche Durchblick der Begeisterung
durch den traumhaft emporgewachsenen Prachtbau des Kunstwerkes ist
gänzlich verschwunden; der Stoff erweist sich plötzlich herbe und ungefügig
und bietet der harmonischen Zusammenordnung ungeahnte
Schwierigkeiten. Sie alle zu besiegen, ist noch nicht die Sache der Skizze!
Auch sie eilt über Vieles hinweg, um nur den architektonischen Grundriß
des Ganzen hinzuzeichnen. Das kleinere lyrische Gedicht bedarf dieses
Apparates von Vorbereitungen nicht; bei ihm fällt Conception und Composition
zusammen. Anders verhält es sich bei dem Roman und bei dem
Drama! Was hier die Skizze zu entwerfen hat, ist zunächst die Fabel,
die der Dichtung zu Grunde liegt. Bei dem Roman ist die Skizze damit
erschöpft; denn die Vertheilung des Stoffes auf die einzelnen Kapitel |#f0134 : 112|

und Bücher ist hier willkürlicher und fällt weniger in's Gewicht. Dagegen
kann die Skizze des Dramatikers von doppelter Art sein und zwar
so, daß sich der Fortgang von der ersten Skizze zur zweiten als nothwendig
erweist. Zunächst entwirft der Dramatiker blos die Fabel im Zusammenhange
einer Erzählung, d. h. seine Fabel, in welcher der überlieferte
Stoff der Geschichte oder Novelle bereits eine wesentliche Umschmelzung
erlitten hat. Dann aber folgt der zweite genauere Entwurf, in welchem
die Handlung auf die einzelnen Acte und die einzelnen Scenen vertheilt
wird und das Skelett des ganzen Drama's fest und klar zu Tage liegt.
Wohl ist diese Skizze nicht unumstößlich; denn je mehr sie sich mit Leben
und Farben erfüllt, desto mehr wird die ausfüllende Gestaltung diese oder
jene Andeutung ergänzen und verbessern. Jn den von Schiller hinterlassenen
dramatischen Skizzen ist der Gang des Drama's mit vollkommener
Klarheit entworfen; doch nur in der Skizze des „Warbeck“ ist
auch die Eintheilung der Acte ausgesprochen, während in den „Malthesern,
den „Kindern des Hauses“ und den Fragmenten des
Demetrius“ nur die Aufeinanderfolge der Scenen angegeben ist.
Den „Malthesern“ und den „Kindern des Hauses“ hat Schiller eine
Darstellung der historischen und socialen Situation vorausgeschickt, aus
welcher das Drama herauswachsen soll, und zugleich die künstlerische Jdee
entwickelt, die ihm vorschwebte! Hinterlassene Skizzen anderer Autoren
zeigen uns eine Eigenthümlichkeit der Production, welche gleich zu dem
prägnanten Gipfel der Entwickelung, den eigentlichen Schlagscenen
hineilt und alles Andere zunächst unausgeführt läßt, um sich gewissermaßen
selbst den Erfolg zu sichern oder die Begeisterung zu einem feurigen
Kern zu condensiren, an den das übrige Drama anschießt. Doch
wird solchen Werken die organische Entwickelung fehlen, das allmähliche
Wachsthum der Charaktere und der Handlung, mit dem auch die Seele
des Dichters, harmonisch begleitend, zu den Höhepunkten der Begeisterung
heranwächst. Davon abweichend ist die Art und Weise, wie z. B. Tibull
nachweisbar seine Elegieen producirt, indem er sich an den Hauptstellen
dem freien Strome seiner Begeisterung überläßt und was dazwischen
liegt, zunächst nur andeutet und lässig ausführt, um einer späteren nachhaltigen
Begeisterung die vollständige künstlerische Durchführung vorzubehalten.
Sich nicht an einzelne Hemmungen der Form zu stoßen, deren |#f0135 : 113|

kritische Beseitigung den Geist der Begeisterung hemmen würde, sie einer
späteren besonnenen Kritik zu überlassen, ist gewiß förderlich, und auch in
Schiller's Fragmenten finden sich zahlreiche Stellen, in denen Gedankenstriche
Wörter oder Verse andeuten, welche die Jnspiration dem Dichter
nicht gleich an die Hand gab, und die er daher einem späteren dichterischen
Nachsinnen überließ.


Jn der Skizze machen sich bereits die Gesetze der Komposition geltend.
Die Komposition kann ebenfalls als Vorarbeit der Dichtung
betrachtet werden; doch gewinnt sie ihr volles Gepräge erst in der Ausführung
selbst. Sie ist kein äußeres Schema, keine voraus gefertigte
Schablone; sie ist das der Dichtung inwohnende Formgesetz, durch dessen
Evolution das Dichtwerk entsteht. Das Naturschöne, wie es der Dichter
findet, ist ein Rohstoff, der erst einem Scheidungs- und Läuterungsproceß
unterworfen werden muß, eh' er sich einer weiteren künstlerischen
Behandlung fähig erweist. Die erste Thätigkeit der Komposition ist
die Ausscheidung des Stoffartigen, mit welcher eine Abrundung durch
die ersten Zuthaten aus der Seele des Dichters verbunden ist. Der Dramatiker
z. B. wählt einen historischen Charakter zum Mittelpunkte seines
Drama's. Die Geschichte überliefert ihm eine Fülle von Daten, die sich
auf diesen Charakter beziehen. Zunächst schneidet er das Segment einer
bestimmten Handlung aus dem ganzen Lebenskreise heraus, denn eine
ganze Biographie in Scene zu setzen, ist eine Art und Weise, welche Platen
im „romantischen Oedipus“ vortrefflich persifflirt hat. Die historische
Handlung ist aber mit einer Fülle von Einzelnheiten behaftet, die für den
Dramatiker unbrauchbar sind. Darunter befindet sich Manches, welches
dem Anschein nach der Gestaltung günstig ist, aber als ein „Zuviel“ ausgesondert
werden muß. Schiller mußte sich z. B. in seinem „Wallenstein
auf eine bestimmte Zahl der Obristen und Generale beschränken,
die er um den Haupthelden gruppirte. Nach historischen Vermuthungen
war Wallenstein's Astrolog, Seni, mit gegen ihn verschworen. Der
Dichter begnügte sich, an Octavio und Buttler den Treubruch gegen den
Feldherrn darzustellen. Die Ermordung von Jllo, Terzky und Kinsky
auf dem Schlosse, wohin sie der Commandant Gordon eingeladen, hat
der Dichter nicht dramatisirt, um dadurch nicht den Eindruck der
Ermordung Wallenstein's abzuschwächen. Der ahnungsvolle Blick, |#f0136 : 114|

den Wallenstein auf die erleuchteten Fenster des Schlosses wirft, und
der kurze Bericht der That genügen für die Zwecke des Dramatikers.
Ebenso hat Goethe in seinem „Egmont“ den mitschuldigen und mitgerichteten
Grafen Horn ganz in den Hintergrund gedrängt, weil die
Oekonomie des Drama's als Helden kein um dieselbe Achse kreisendes
Doppelgestirn verträgt. Hierher gehört auch das Geheimniß der dramatischen
Abbreviatur, das eine Schlacht durch eine Scene ausdrücken muß.
Die Ueberfülle der Kampfscenen in Shakespeare's Königsdramen und
in seinem „Coriolan,“ äußerlich durch die scenische Möglichkeit der damaligen
Bühne motivirt, ist eine Ausschweifung in das epische Gebiet, welche
der dramatischen Kraft Eintrag thut. Auch in den Stoffen, welche aus
Romanen entlehnt sind, ist ein „Zuviel,“ das in der Retorte des
Dramatikers verdunsten muß. Frau Birch-Pfeiffer z. B. stopft bei ihren
Einschlächtereien für die Bühne in der Regel zuviel in ihre dramatischen
Würste. Doch auch der Roman kann ein stoffartiges „Zuviel“ enthalten.
Die Romane von Walter Scott und Bulwer geben oft historische Uebersichten,
die ganz aus dem Rahmen der Dichtkunst herausfallen. Der
Ausfall, den der gegebene Stoff durch diese Ausscheidungen erleidet, wird
wieder gedeckt durch die Erfindung des Dichters, der an die Stelle minder
geeigneter Gestalten seine Phantasiegebilde setzt.


Der zweite Act der Komposition ist die Anordnung, welche die
Theile des geläuterten Stoffes nach ihrer Bedeutung für die Jdee des
Kunstwerkes zusammenstellt, das Hauptsächliche und Nebensächliche in
die richtige Beleuchtung rückt und Jedem für seine Entwickelung den
geeigneten Raum zumißt. Die Haupthandlung tritt in den Vordergrund;
aber sie kann nicht isolirt sein; sie hat ihre Verzweigungen, ihre Ausläufer
nach der Seite. Was von dieser Nebenhandlung mitaufzunehmen ist:
das darf nicht mit gleichem Aufwand und mit gleicher Betonung, wie
die Haupthandlung, zur Geltung kommen, sondern muß sich in gedämpfter
Abstufung in sie einfügen oder an sie anreihen. Es kann in jedem
Kunstwerke nur eine Haupthandlung geben, obgleich das Epos eine
viel größere Ausweitung derselben verstattet, als das Drama. Shakespeare
liebt es, in seinen Dramen anscheinend zwei Haupthandlungen
darzustellen, die selbstständig nebeneinander hergehen; doch das große
Geschick dieses Dichters besteht darin, einen Knoten der Handlung zu |#f0137 : 115|

schürzen, in welchem sie in Eins verschmelzen. Bei tieferer Betrachtung
zeigt sich dann, daß diese beiden Handlungen nur concentrische Kreise
waren, welche von Anfang an denselben Mittelpunkt der Jdee hatten.
So scheinen z. B. „im Kaufmann von Venedig“ zwei nur locker verknüpfte
Handlungen nebeneinander herzugehen: das Darlehn, das der
Jude Shylock dem Antonio gab, mit seinen Folgen, und die Werbung der
Freier um die schöne Portia. Jn der That scheinen ihre Reflexionen vor
den geheimnißvollen Kästchen einen selbstständigen, die Hauptentwickelung
beeinträchtigenden Raum einzunehmen. Wie gewandt ist nun die Vereinigung
beider Handlungen und die Lösung des Knotens durch den
eigenthümlich kecken und geistreichen Charakter der Portia herbeigeführt!
Nun geht auch plötzlich die Grundidee des ganzen Stückes dem Auge
auf, der Triumph des Geistes über das todte formale Recht, das sich in
jener sinnigen Testamentsverordnung, wie in diesem brutalen Schuldgesetz
ausspricht.


Die Nebenhandlung, die ein selbstständiges Jnteresse für sich in
Anspruch nimmt, immer aber der Haupthandlung untergeordnet bleibt,
heißt Episode. Zum Begriff der Episode gehört nothwendig, daß
die Haupthandlung auch ohne sie bestehen könnte; sie ist kein organisches
Glied derselben, sondern nur locker mit ihr verknüpft. Jhre Berechtigung
ist je nach den verschiedenen Dichtgattungen eine verschiedene, größer im
Epos, geringer im Drama. Die kleinere Episode ist oft nur Verzierung,
wie der Erker in der Baukunst, die Coloratur in der Musik! Oft ist sie
Ruhepunkt, indem auch der energisch fortschreitende Gang des Drama's
solcher Stationen zur Umschau oder Einkehr bedarf; oft dient sie dazu,
die Stimmung und Atmosphäre des geschichtlichen Hintergrundes
anschaulich zu machen oder das Charakterbild des Helden selbst durch
einen Zug zu ergänzen, der für den Fortgang der Handlung nicht unbedingt
wesentlich ist. Hier ist natürlich das strengste Maaßhalten vonnöthen,
damit das Drama nicht zu einem bloßen Charaktergemälde wird,
wozu die neuere Zeit nach Shakespeare's Vorgang neigt. Jm „Wilhelm
Tell“ ist nach strengem dramatischem Gesetz nicht blos Bertha und Rudenz,
sondern auch der ganze Rütli eine Episode! Die Befreiung des Schweizer
Volkes, die man als Thema dieses Drama's angiebt, ist Stoff für
ein Epos, nicht für ein Drama. Die echt dramatische Handlung im |#f0138 : 116|

„Tell“ beschränkt sich auf den dritten und vierten Act. Die Volksscenen
im „Egmont“ sind keine Episoden; sie versetzen uns in die Stimmung
und Atmosphäre der Zeit, aus welcher der Held hervorging; dagegen
drängt sich im Fortgange der Handlung viel Episodisches mit ein. Jm
neuern Drama hat man wieder ein strengeres Gesetz der Composition
befolgt ─ wir erinnern an Stücke, wie Gutzkow's „Uriel Acosta,“ die mit
Ausschluß alles Episodischen gearbeitet sind. Das Beiwerk, das im
Drama Episode sein würde, ist im Epos vollkommen an seinem Platze,
wie wir bei der Untersuchung über die einzelnen Dichtgattungen noch
näher sehen werden.


Ein wesentlicher Gesichtspunkt der Anordnung ist die wirksame
Gegenüberstellung, die in Spannung übergeht, der Kontrast, der mit
schwächerem Reflex schon das Nebeneinander der Erscheinungen beleuchtet.
Der Kontrast ist die Verschiedenheit des Verwandten und Aehnlichen.
Wir können mit Vischer einen Kontrast des Unterschiedes und
des Gegensatzes annehmen. Die Wirkung, besonders durch den letzteren,
ist eine so augenfällige und schlagende, daß gerade mit ihr der leichteste
und häufigste Mißbrauch getrieben wird. Zunächst kann eine Nebenhandlung
mit der Haupthandlung kontrastiren. Der Abschied Hektor's
und der Andromache bildet in der Jlias einen reizenden Kontrast mit den
Kampfesbildern, und spätere Epiker, besonders Tasso, haben ihre Kriegsscenen
mit zahlreichen Liebesbildern durchwoben! Wie kontrastirt nicht
das paradiesische Entzücken eines Rinaldo im Zaubergarten seiner Armida
mit der rauhen Arbeit der Kreuzfahrer in Jerusalems Felsenwüste! Auch
die Liebe von „Max“ und „Thekla“ kontrastirt wirksam gegen das wilde
Kriegs- und Lagerleben des dreißigjährigen Krieges. Jn „Hermann
und Dorothea“ bilden die in die friedliche Rheinidylle herübergeschwemmten
Trümmer der Revolution, das einfach bürgerliche Leben
und das hereinbrechende Weltgeschick einen effectvollen Gegensatz. Wenn
Dunkan in Macbeth's Schloß einzieht und den landschaftlichen Frieden,
die lichte, milde Luft einathmet, wenn uns Banko vom Sommergast, der
Schwalbe, erzählt, die sich hier an allen Vorsprüngen, Friesen und Pfeilern
angebaut ─ wie wirksam ist dieser Kontrast mit den Vorbereitungen
des Mordes, die wir bereits an dieser stillen Stätte belauscht! Wie |#f0139 : 117|

ahnungsvoll wehmüthig muthen uns diese einfachen, harmlosen Naturbetrachtungen
an!


Am durchgreifendsten macht sich der Kontrast in der Gruppirung
der Charaktere im Roman und Drama geltend! Die Jdee des Kunstwerkes
bricht hier ihr Licht in einem Regenbogen von Farben. Die
Gruppirung „des Unterschiedes“ wiegt mehr im Roman, die „des Gegensatzes“
mehr im Drama vor. Denn das letztere beruht auf dem Konflict,
der von Hause aus zwei kämpfende Mächte scharf gegenüberstellt. Wie
sanft harmonisch sind die Charaktergruppen in den Romanen „Jean
Paul's“ ─ Victor, Flamin, Emanuel, Clotilde mit dem dissonirenden
Matthieu im Hesperus ─ der edle Albano und der leidenschaftlich blasirte
Roquairol, die feurige Linda und die sanfte Liane im „Titan.“ Auch
in „den Rittern vom Geiste“ ist die Gruppirung der Charaktere von
Meisterhand geordnet. Zunächst sondert ein durchgreifendes Princip die
Gruppen, dann wieder ein milderer Kontrast die Einzelnen. Die Mädchen
aus dem Volke, Louise Eisold und Franziska Heinisch, die Brüder
Dankmar und Siegbert, die Amerikaner Ackermann und Murray, die
feurige Olga, die liebliche Selma, die kokette Melanie, der epikuräische
Schlurk und der cynische Hackert ─ wie mannichfach ist die Stellung
dieser Gruppen zu einander und zur Centralsonne, der Jdee des geistigen
Ritterthums, die das ganze Werk beherrscht, wie kunstvoll schattirt aber
auch die Uebergänge der einzelnen Glieder in den Gruppen! Der Kontrast
setzt ein Princip der Einheit voraus, das von der verschiedensten Art sein
kann. Eine solche Einheit bildet z. B. die Familie. Hier giebt der
Unterschied der Charaktere das Motiv des Kontrastes, der z. B. in
Dankmar und Siegbert sanft abgestuft, grell ausgeprägt in Karl und
Franz Moor ist. Aber auch aus einem Parallelismus des Geschickes
und aus einer Gegenbewegung desselben kann der Kontrast hervorgehn.
So bei Murray und Ackermann, die Beide nach Amerika ausgewandert,
Beide zurückgekehrt sind, die sich Beide Fehltritte der Liebe vorzuwerfen
haben und nun Beide ihre Söhne wiederfinden. Das ist die
Aehnlichkeit des Schicksals, aus welcher die Verschiedenheit der Charaktere
als Kontrast hervorgeht. Der Kontrast darf indeß nicht grell und
schreiend sein. Grell ist die Gruppirung der Charaktere z. B. in |#f0140 : 118|

Sue's „ewigem Juden,“ indem hier die geheimnißvolle Erbschaft einen
mehr zufälligen Einheitspunkt giebt, um den sich die ausgesucht verschiedensten
Lebensstellungen vom indischen Prinzen bis zum Pariser
ouvrier, von der reichsten Weltdame bis zur armen Grisette gruppiren.
Der „ewige Jude“ und „die Ritter vom Geiste,“ welche in ihrer Komposition
an ihn erinnern, zeigen indeß am klarsten das Wesen romanhafter
Gruppirung, die nicht auf dem scharfen Gegensatz beruht, sondern um
irgend eine Mitte, wie dort um eine Erbschaft, hier um einen Gedankenbund,
einen harmonischen Farbenkreis bildet. Jm Drama dagegen ist
die Gruppirung der Charaktere eine polare ─ die Achse der Handlung
hat zwei Pole, die kämpfenden Principien und Charaktere. Kreon und
Antigone, Maria Stuart und Elisabeth, Karl und Franz Moor erläutern
diese Gegenüberstellung. Es kann sich dieser polare Gegensatz in zwei
concentrischen Kreisen wiederholen, wie z. B. Lear und seine Töchter,
Gloster und seine Söhne; er kann sich in der historischen Tragödie, doch
schon auf Unkosten des strengeren dramatischen Styles, an zwei Parteien,
an zwei Völker vertheilen, wie in den patriotischen Tragödieen Shakespeare's
an die weiße und rothe Rose, in Schiller's „Wilhelm Tell“ an
die Oesterreicher und Schweizer. Nach beiden Seiten hin gruppiren sich
nun um die kämpfenden Haupt-Charaktere die andern Gestalten und
bilden theils in parallelen, theils in convergirenden und divergirenden
Linien Uebergänge zwischen ihnen. Je symmetrischer dies Liniennetz
entworfen ist: um so harmonischer wird die Wirkung des Drama's sein.
Ein Beispiel dieser kunstvollen Gruppirung bietet von unsern deutschen
Dramen vorzüglich Schiller's „Maria Stuart.“ Hier stehen sich die
beiden Königinnen mit einem Reichthum von Kontrasten gegenüber: die
eine als freie Herrscherin, die andere in Banden, die eine stolz auf ihre
jungfräuliche Würde, die andere mit dem Hintergrund mehrfacher Ehen
und verbrecherischer Liebeshändel, die eine eitel und herrschsüchtig, die
andere sanft und resignirt, die eine umgeben von der unmittelbaren
Glorie der Majestät, die andere verklärt durch die Erinnerung an eine
ihr geraubte Macht, die eine geschmeichelt von einer verrätherischen Werbung,
die andere geliebt mit wahnsinniger Leidenschaft. Um Elisabeth
selbst stehen ihre Rathgeber, der staatsmännisch ernste und finstere Burleigh
und der ehrwürdige, dem Zug des Herzens folgende Shrewsbury. |#f0141 : 119|

Während in diesem Kreise die Treue loyaler Ergebung waltet, umgeben
Maria Stuart ihre Kammerfrauen und Melvil mit der Anhänglichkeit
rührender Hingebung. Zwischen den beiden Königinnen aber bewegen
sich Mortimer und Leicester hin und her, welche dem dramatischen Verlaufe
des Stückes die eigentliche Spannung geben. Diese Charaktere
sind meisterhaft gegenübergestellt: jener wild und leidenschaftlich, dieser
vorsichtig und berechnend, jener der feurige Verschwörer, dieser der intriguirende
Hofmann, jener von einer fanatischen, alles überstürzenden Gluth
der Empfindung, dieser von einer leise unter der glatten Schaale des
Höflings aufdämmernden Schwärmerei. Dabei sind beide jesuitische
Heuchler. Mortimer verleugnet die Schule nicht, die er durchgemacht ─
seine Heuchlermaske ist die Kruste um einen Vulkan. Leicester dagegen
ist nur der leichterregte doppelzüngige Höfling, dessen Eitelkeit durch die
Gunst zweier Königinnen geschmeichelt wird, der beiden huldigt und
beide verräth. Wie diese beiden Charaktere nun in der Handlung sich
gegeneinander bewegen, sich in ihren Bahnen kreuzen, sich mit wechselndem
Mißtrauen verfolgen, bis der eine durch den Verrath des andern
fällt: das ist mit einer außerordentlichen Kunst der Kontrastirung vom
Dichter ausgeführt. Ebenso wirkt das Lustspiel am meisten durch den
Kontrast: wir erinnern nur an Bauernfeld's „Bürgerlich und romantisch,“
an sein „Großjährig,“ wo der Fortschritts- und Rückschrittsmann sich
mit komischem Eigensinn gegenüberstehn, an „Pitt und Fox,“ wo der
Kontrast in den Charakteren der beiden Staatsmänner die humoristische
Achse ist, um welche das Stück rotirt.


Der auf die Spitze getriebene Kontrast, wie er sich vielfach in den
neuern französischen Dramen und Romanen zeigt, bringt eine Wirkung
hervor, die grell und stoffartig ist und damit aus dem Gebiete der Kunst
heraus fällt. So beruht Victor Hugo's „Ruy Blas“ auf der Liebe
eines Bedienten zu einer Königin. Hier ist absichtlich der Unterschied
der Stände auf die Spitze gestellt. Noch schlimmer sind die Kontraste
im „Triboulet,“ die hauptsächlich darauf beruhn, daß ein Hofnarr
in rührende und ergreifende Situationen geräth und das sittliche Pathos
eines Vaters entwickeln muß. Auch in Victor Hugo's „Han von
Jsland
“ springt ein Effect nach dem andern aus grellen Kontrasten
hervor. Eine romanhafte Ueberraschung ruft ein Kontrast hervor, der in |#f0142 : 120|

einen und denselben Charakter verlegt wird. Es giebt z. B. kaum einen
größern Gegensatz, als den zwischen einem verfolgten Juden des Mittelalters
und einem ritterlichen Fürsten jener Zeit! Wenn nun Balzac in
seiner „Clotilde von Lusignan“ uns einen solchen Juden vorführt, der
als Verfolgter um die Liebe der schönen cyprischen Prinzessin wirbt, wenn
er diesen Hebräer mit größter Glaubwürdigkeit durch zwei Bände hindurch
als Alles wagenden schwärmerischen Verehrer der Clotilde hinstellt
und endlich am Schlusse sich aus diesem Sohn Jsaaks einen provençalischen
Prinzen entpuppen läßt: so macht dies freilich einen überraschenden
Eindruck, aber der Kontrast ist grell und unwahr und läßt deshalb im
Leser ein unbefriedigtes Gefühl zurück. Wir glauben hinterdrein nicht
an den ritterlichen Juden, dem jede orientalische Eigenthümlichkeit fehlt,
und bezweifeln auch, daß Clotilde ihn blos seines Kleides wegen dafür
halten konnte. Der Roman bietet zugleich ein Beispiel jener märchenhaften
Ueberraschungen in Bezug auf die Scene der Handlung, die sich
in ähnlicher Weise in den Romanen von Sue, Montépin u. A. wiederholen.
Ein dürftiges Haus in einer ärmlichen Straße erweist sich im
Jnnern als das luxuriöseste Zauberschloß der Welt. So befinden wir
uns in der „Clotilde“ in einer öden Felsengrotte am Meere, vor welche
der Sturm einen herunterstürzenden Felsen gewälzt und dies Asyl
rettungslos abgeschlossen hat. Da öffnet sich unverhofft eine Felsenpforte,
und wir treten in das unterirdische Palais des Judenprinzen, das
mit orientalischem Luxus ausgestattet ist. Dieser phantastische Decorationenwechsel
mit seinem scenischen Kontrast ist ein beliebter Drucker
der französischen Romandichtkunst.


Auch in der Anordnung der Gedanken und Empfindungen in der
lyrischen Komposition kann der Kontrast zur Geltung kommen. Die
pikante Lyrik der Heine'schen Schule verdankt ihre Hauptwirkungen einem
Kontrast, der in der Regel unschön ist, weil er die Einheit der Stimmung
zerreißt. Die Gedichte beginnen mit einem innigen, zart ausgesprochenen
Gefühle und schließen mit einer frivolen Verspottung desselben.
Sobald dies Gefühl romantisch übertrieben ist, hat die ironische Auflösung
ihr gutes Recht ─ die Einheit der Stimmung ist dann nicht
gestört; denn sie beruhte von Haus aus auf dieser auflösenden Jronie,
welche einer gesunden Empfindung zu ihrem Recht verhilft, indem sie |#f0143 : 121|

eine krankhafte zersetzt. Doch als modisch beliebte Manier hat diese
Ueberreizung mit lyrischen Kontrasten vielen Schaden gethan ─ man
kann sie bei Dichtern, wie Beck, Lenau u. A. verfolgen, die den Einfluß
Heine's nicht ganz verleugnen.


Der Kontrast bedarf vor Allem der Motivirung. Die Motivirung
ist der innere Kausalnexus des Kunstwerkes. Das Kunstwerk als Ganzes
tritt aus dem verstandesmäßigen Zusammenhange der Erscheinungen
heraus ─ seine Wirkung beruht gerade darauf, daß es wie ein Blitz der
Jdee unser Auge trifft, daß wir nach seiner weiteren Legitimation nicht
fragen, weil uns das All in ihm erschöpft scheint. Doch innerhalb seines
Organismus selbst waltet der Verstand in der Verkettung des Gewebes,
freilich so, daß wir ihn selbst über seiner Schöpfung vergessen. Die Motivirung
ist der immanente Verstand der Dichtung. Jn der äußern Welt
ist die Kette der Ursachen und Wirkungen eine unendliche. Sie geht
endlos zurück in der Zeit, verliert sich endlos in die Breite des Raumes.
Jede Erscheinung ist nur der Knotenpunkt vieler weit in die Vergangenheit
zurücklaufender Fäden und wächst dabei mit tausend Fasern aus
einer gleichzeitigen Welt hervor. Das erste Erforderniß künstlerischer
Motivirung ist daher die Beschränkung, das Abstecken der Grenze in
Zeit und Raum. Wieweit soll der Dichter in seiner Motivirung
zurückgreifen, und wieviel soll er aus der Breite der umgebenden Welt
mit aufnehmen? Das Drama z. B. bietet eine abgeschlossene Handlung
dar; aber diese Handlung selbst geht aus einer Vergangenheit
hervor, welche hinter dem Vorhang liegt. Der Anfang des Dramas
soll uns nun gleich die rückwärts reichenden Fäden der Handlung in
die Hand geben, zugleich mit der Grundlage, aus welcher das
ganze Stück hervorgeht. Diese Motivirung heißt im Drama Exposition,
und wir verlangen von ihr, daß sie in dramatischer Weise
durch Handlung, und nicht in epischer durch Erzählung vor sich gehe.
Verkehrt dagegen ist die beliebte Manier der sogenannten Bühneneffectschriftsteller,
uns von Hause aus in ein unentwirrtes Netz von Verhältnissen
einzuspinnen, das Vergangene als ein unerschlossenes Geheimniß
mit räthselhaft drohender Haltung durchzuführen und erst am
Schlusse mit dem Knoten des Stückes selbst auch diese dunklen Antecedentien
zu lösen. Die Spannung des Dramas geht nach der Zukunft |#f0144 : 122|

hin, nicht nach der Vergangenheit, und nichts absichtlich Unmotivirtes
darf als Contrebande mit in das Stück hineingeschleppt werden, da
das Publikum von Haus aus mit im Geheimniß sein muß. Die Voraussetzungen
der dramatischen Handlung dürfen indeß weder zahlreich, noch
verwickelt sein. Dramen, deren Stoff aus Romanen entlehnt ist, leiden
in der Regel an einem Uebermaß der Handlung, das sich nicht in die
fünf Acte zusammenpressen läßt, sondern über die Schwelle des Dramas
hinaus sich in's Weite dehnt. Dieser dramatisch ungestaltete Ueberschuß,
der indeß als Motivirung unerläßlich ist, explodirt in der Regel als
Erzählung, die oft weder den Charakter noch die Situation weiter
entwickelt, sondern nur ein gewaltsames Auskunftsmittel des Dramatikers
ist, welcher plötzlich jongleurartig das Band, das für den Zusammenhang
des Dramas nöthig, ellenlang aus dem Munde seiner Marionetten
zieht. Auch hinter der Schwelle des Roman's liegt eine Vergangenheit,
welche seine Gegenwart motivirt. Der Romanschriftsteller aber, der
Alles als Vergangenheit vorführt, muß ein anderes Gesetz der Spannung
beobachten, als der Dramatiker. Bei ihm sind Geheimnisse, die er später
erst löst, vollkommen berechtigt, und es ist in seine Gewalt gegeben,
wann und wo er ihren Schleier lüften will. Er kann, wie Steffens, in
seinen Romanen die ganze Geschichte früherer Generationen später
erzählen und den Großvater nach dem Enkel auf die Bühne treten lassen.
Jm Gegentheil, das Jneinanderschachteln der Zeiten trägt dazu bei, die
Behaglichkeit und den Weltüberblick des Epos zu fördern. Die Erzählung
des Vergangenen ist hier ganz am Platz. Jm Gegentheil muß die
gründliche, historische Exposition, welche Walter Scott und seine Nachtreter
in ermüdender Breite ihren Werken vorausschicken, so daß man erst
über einen seichten Graben muß, um in die Festung zu gelangen, als
unkünstlerisch verworfen werden. Jm Epos wird zwar eine Handlung
durch den Boden weitverzweigter Verhältnisse, durch die ganze Lage der
Welt motivirt, nicht wie im Drama durch einen Willensact der handelnden
Charaktere; aber diese Welt soll sich in allmählicher Evolution am
Faden der Begebenheiten vor uns aufrollen, und nicht schon am Eingange
des Werkes als ein fertiges Treibhaus für noch unsichtbare Pflanzen
aufgebaut werden. Dies hängt überhaupt mit der Rolle zusammen,
welche dem Verstand im Kunstwerke zufällt. Diese Rolle darf nur eine |#f0145 : 123|

keusche und verschwiegene sein; der Satz vom Grunde muß nur als stillwirkende
Kraft dem Zusammenhang des Kunstwerkes, wie dem der Natur
untergebreitet sein; eine aufdringliche Motivirung hebt uns aus dem
freien Aether der Poesie in das Reich der Prosa. Man muß nicht Alles,
und man muß nicht zuviel motiviren wollen. Durch das erstere erhält
das Kunstwerk einen kleinlichen, durch das letztere einen unklaren
Charakter. Jn der Tragödie sind kleinliche Coulissenmotivirungen, wie
wir sie in französischen Stücken finden, nicht berechtigt. Shakespeare
und Schiller motiviren immer nur mit großen Zügen. Ja, Shakespeare
motivirt oft zu wenig, wie er uns z. B. in Hamlet das Verhältniß zwischen
dem Helden und seiner Ophelia nur durch Andeutungen klar macht,
welche eine verschiedene Auffassung von Seiten der Ausleger hervorgerufen
haben. Wer aber zuviel motivirt, z. B. im Drama einer Handlung
mehrere gleichzeitige Beweggründe unterschiebt, der beleuchtet ein Bild
mit mehreren Kerzen, deren sich kreuzender Glanz die Klarheit aufhebt.



Die Motivirung muß folgerichtig sein; sie darf weder gegen die
Logik des Naturgesetzes, noch gegen die des menschlichen Herzens verstoßen.
Jn der Naturschilderung verlangen wir Treue und Korrectheit;
wir wollen die Blumen nicht in einer Jahreszeit blühen sehen, in der sie
in der Wirklichkeit nicht einmal Knospen treiben; das Kolorit eines exotischen
Klima's muß uns mit jener Treue geschildert werden, welche der
Physiognomik der Gewächse und der Pflanzengeographie Rechnung trägt.
Der Lyriker, der seine Stimmung an ein Naturbild knüpft, muß ebenfalls
diese innerlich waltende Motivirung beobachten. Jn der Ode können
kühne Uebergänge der Gedanken und Empfindungen Statt finden; aber
die Ergänzung der ausgelassenen Bilder, die Begründung ihres Zusammenhanges
muß der Phantasie möglich sein, indem die Zwischenglieder
schon durch den Organismus des Ganzen mitgegeben und gleichsam mit
einer unsichtbaren Tinte geschrieben sind, die durch die Reagentien einer
feurig erregten Phantasie hervortritt. Selbst in der Welt des Phantastischen
und Märchenhaften muß eine gewisse Folgerichtigkeit vorherrschen,
die den einmal angenommenen Voraussetzungen treu bleibt. Die traumhaft
verzauberte Natur hört deshalb nicht auf, Natur zu sein ─ und
rückwärts fließende Bäche, wie in dem „Märchen vom Tannenbaum“ |#f0146 : 124|

von Redwitz, läßt man sich auch im Märchen nicht gefallen, das kein
Wunder begehen darf blos um des Wunders willen. Jotham im
„Buch der Richter“ gründet darauf eine schöne Fabel, daß die Bäume
einen König wählen. Schiebt man den Bäumen einmal Sprache und
Willen unter, so ist das Weitere ganz folgerichtig ausgeführt. Der Oelbaum
lehnt die Wahl ab, weil er nicht seine Fettigkeit, der Feigenbaum,
weil er nicht seine Süßigkeit lassen will ─ jeder Baum spricht gemäß
seiner Natur und seinen Eigenschaften. Der Tannenbaum von Redwitz
ermangelt als ein confuses Symbol dieser Naturwahrheit. Schon Horaz
erwähnt von Homer:


Atque ita mentitur, sic veris falsa remiscet,
Primo ne medium, medio ne discrepet imum.


Die psychologische Folgerichtigkeit ist für die Motivirung in Roman
und Drama unerläßlich. Die Handlung ist ein Act des Willens; die
größere oder geringere Kraft des Willens, der gewohnte Kreis der Vorstellungen,
die ihn bestimmen, hängt aber von der ursprünglichen Grundlage
des Charakters ab. Nur der Dichter, der einen Charakter mit organischer
Einheit schafft, wird seine Handlungen folgerichtig motiviren.
Es bedarf hier für den einzelnen Fall keiner weiteren Erwägung. Ein
festausgeprägter Charakter läßt dem Dichter selbst keine Wahl, ob er ihn
so oder anders handeln lassen will. Shakespeare's Hamlet, der den
König gleich nach der Ansprache des Geistes im ersten Act erstäche, wäre
kein Hamlet mehr. Selbst die Naturbestimmtheit spielt hier eine große
Rolle. Den lahmen, buckligen Richard treibt das Bewußtsein seiner
Mißgestalt zum Verbrechen; der Mohr Othello darf mit größerem Recht
der Liebe seiner Gattin mißtrauen, und der dicke Fleischklumpen John
Fallstaff vom Humor des Materialismus übersprudeln. Jndeß würde
eine Beschränkung der Motivirung auf das Temperament, die Naturanlage,
das Körperliche die Poesie zu einem einseitigen Realismus verleiten,
wie er sich in vielen Werken der neuen französischen Schule und
ihrer Nachahmer ausspricht. Auf der anderen Seite kann die psychologische
Motivirung in ein gesuchtes Raffinement verfallen, welche bald
das Abweichende und Ungewöhnliche, bald das Allzufeine und Verwickelte
mit Vorliebe auswählt. Wir erinnern nur an die Motivirung
in Hebbel's „Maria Magdalena“ und besonders in seiner |#f0147 : 125|

Julie.“ Wir können uns in die Handlungsweise dieser Charaktere
nicht hineindenken, weil sie zu sehr der Sitte und dem natürlichen
Empfinden widerspricht. Welch' ein grenzenloses Raffinement liegt in
dem Benehmen einer Clara, die ihre Jungfräulichkeit aus Berechnung
opfert, um sich die Treue des Geliebten zu sichern! Abgesehen davon,
daß diese Berechnung nicht gerade von scharfem Verstande zeugt ─ welch'
einen Charakter, der allem Mädchenhaften widerspricht, setzt dies spekulative
stuprum voraus! Wenn uns Hebbel dennoch seine Heldin als
ein Wesen von zarter und schwärmerischer Empfindung schildert: so ist
entweder die That, welche die Voraussetzung des ganzen Stückes ist,
unmotivirt, oder der Charakter der Heldin selbst. Noch anomaler sind
alle Voraussetzungen der „Julia“ ─ nur daß die Handlung hier sich mit
jener folgerichtigen Absurdität entwickelt, die mit Nothwendigkeit aus
dem Zusammenwirken lauter mit Spleen und Sparren behafteter Charaktere
hervorgeht.


Der Dichter thut indeß wenig, wenn er nur die Folgerichtigkeit der
Wirklichkeit beobachtet. Die Motivirung muß selbst ideal dem Geiste
des Dichtwerkes entsprechen. Die Geschichte giebt oft einen Kausalnexus
an die Hand, den der Dichter nicht brauchen kann, weil ihm die ideale
Würde fehlt. Das Abschreiben der Wirklichkeit würde hier nur eine
Tragikomödie erzeugen. Ein Tragödiendichter, der z. B. eine Verschwörung,
eine großartige Staatsaction darstellen und dazu die Motive wählen
wollte, die in der Restaurationszeit einen Plaignier zu einer Verschwörung
gegen die Bourbons trieben, würde sich lächerlich machen, wie
verbürgt auch immer ihre historische Wahrheit sei. Dieser Plaignier
verschwor sich nämlich, wie uns Veron in seinen Memoiren erzählt, gegen
Ludwig XVIII., weil seine Erfindung, die bottes à la hussarde, welche
Kaiser Napoleon für die leichte Cavallerie anbefohlen hatte, von der
Restauration wieder abgeschafft worden waren. Die Verschwörung wurde
entdeckt und Plaignier hingerichtet. Eine Verschwörung mit solchem
Ausgang ist ein tragischer Vorwurf; aber der Tragödiendichter kann sie
nicht durch ein Verbot von Stiefelschäften und eine gekränkte Schuhmacherseele
motiviren. Jm Lustspiele und im Roman muß die Motivirung
mehr in's Einzelne gehen, als in der Tragödie, wo der ideale Flug
der Gestalten leichter über die kleinen Zusammenhänge des realen Lebens |#f0148 : 126|

hinwegträgt. Doch muß auch hier jede Scene motivirt sein! Die Personen
dürfen nicht auf die Bühne treten, ohne daß ihr Erscheinen theils
einen guten Grund hat, theils aber auch wieder als Triebrad in die Fortbewegung
der Handlung eingreift. Jm Einzelnen haben indeß auch
große Tragödiendichter sich in der Motivirung nicht gerade stark bewiesen
und Fehler begangen, die ein mäßiger Verstand mit Leichtigkeit entdeckt
und rügt. Sophokles z. B. läßt den König Oedipus durch Kreon über
den Tod seines Vorgängers Laios unterrichten. Da Oedipus schon einige
Jahre an der Stelle des Laios regiert, so ist es sehr unwahrscheinlich,
daß er nicht selbst über diesen Tod bereits ganz genau unterrichtet gewesen
sein sollte. Diese Art der Exposition ist daher ungeschickt. Kreon theilt
ihm ferner mit, daß Apollo verlangt, die Mörder des Laios sollten zur
Rechenschaft und Rache gezogen werden. Es kommt daher Alles darauf
an, die Mörder des Laios zu entdecken. Oedipus frägt also mit Recht,
ob keiner von den Begleitern des Laios, die bei seiner Ermordung zugegen
gewesen, noch am Leben sei? Als er aber erfährt, daß einer
der damaligen Gefährten des Königs noch lebe, läßt er diesen nicht zu
sich fordern, und selbst als er später erscheint, frägt er ihn nicht einmal
danach. Das ist vollkommen unmotivirt und verstößt gegen die einfachsten
Forderungen des Verstandes. Freilich wäre sonst die Katastrophe
des Stückes schon in der ersten Scene herbeigeführt worden! Shakespeare,
so unübertrefflich in den großen Motiven, ist keineswegs tactfest in den
kleinen. Sorgsamer motivirt Schiller, obwohl die Handlungsweise des
Posa im „Don Carlos“ eines Commentars bedarf.


Auf der sorgsamen Motivirung beruht die Korrectheit der Komposition,
der klare und übersichtliche Zusammenhang. Höher als die
bloße Korrectheit steht der Rhythmus, welcher die harmonische Bewegung
der Gruppen ist. Durch ihn gewinnt die Gliederung des Kunstwerkes
eine tactvolle Lebendigkeit. Der Fortgang der Handlung und
ihre regelmäßig wiederkehrenden Ruhepunkte, die Entgegenbewegung ihrer
einzelnen Glieder, die verstärkt als Bewegung ganzer Gruppen wiederkehrt,
die epische und dramatische Stimmenführung und Stimmenverflechtung,
der Fugengang, die scheinbare Selbstständigkeit der einzelnen
Glieder, die aber dennoch durch den beharrlichen Grundgedanken einheitlich
gefesselt werden, das Fortschreiten der einen Gruppe während des |#f0149 : 127|

Zurückbleibens der andern, Trennungen, die eine neue Vereinigung,
Lösungen, die eine neue Spannung vorbereiten: das Alles gehört der
inneren Rhythmik des künstlerischen Organismus an, jener Musik, die der
Genius in sich selbst trägt, und deren sanftwirkendes Gesetz er fast unmerklich
durch seine Schöpfungen ausgießt. Den Zauber merkt man wohl,
doch nicht, woher er kommt ─ und nur der feingebildete Sinn kann sich
Rechenschaft geben von den Ursachen der harmonischen Wirkung. Shakespeare
war ein Meister dieser Rhythmik. Jndem er es liebt, einen
Grundgedanken an mehrere Gruppen zu vertheilen, gewinnt er in
seinen Dramen Raum für eine wechselnde Fort- und Gegenbewegung
derselben, bis er die getrennten Flüsse der Handlung zu einem majestätischen
Strom vereinigt, der die Jdee des schöpferischen Meisters in voller
Klarheit spiegelt. Vischer hat in seiner „Aesthetik“ (Bd. 3. S. 45.) den
rhythmischen Gang in „König Lear“ mit gewohnter Feinfühligkeit nachgewiesen
─ man könnte ihn ebenso im „Kaufmann von Venedig,“ in
„Maaß für Maaß,“ auch in Schiller's „Maria Stuart“ nachweisen.
Jn der Lyrik zeichnen sich die Odendichter, besonders Pindar, durch eine
kühne Rhythmik des Gedankens aus.


Eine nähere Darstellung der Kompositionsgesetze werden wir erst bei
dem Epos und Drama geben, da sie, verschieden in diesen Hauptgattungen,
dort erst größere Bestimmtheit gewinnen. Dagegen müssen wir
jetzt das Gewand, in welches die Dichtkunst sich hüllt, näher in's Auge
fassen. Das Vehikel der dichtenden Phantasie ist die Sprache ─ die
dichterische Technik beruht wesentlich auf ihrer Behandlung. Nur der
Genius giebt ihr das Gepräge, aber die Kenntniß des dichterischen Ausdrucks,
der Figuren und Bilder, der Verskunst und des Reimes lehrt uns
erst, seine gesetzgebende Macht würdigen, während sie auch für das eigene
Schaffen eine bewußte und tiefere Gesetzmäßigkeit hervorruft.

|#f0150 : E128|

Drittes Hauptstück.

Die Technik der Dichtkunst. ──────

Erster Abschnitt.

Das dichterische Wort.


„Die Wahl treffender und edler Ausdrücke fesselt und bezaubert die
Hörer und verleiht zugleich Größe, Schönheit, gesundes Aussehen, Gewicht,
Kraft und Energie.“ Diese Worte Longin's (Ueber das Erhabene C. 30)
weisen darauf hin, daß die rednerische, noch mehr aber die dichterische
Kunst vorzugsweise von der Wahl des Ausdruckes abhängig ist. Der
Ausdruck aber läßt sich zuerst als einzelner in's Auge fassen, als dichterisches
Wort, ehe wir ihn im Zusammenhang der Worte, als dichterische
Wendung betrachten.


Vor dem Genius liegt der Sprachschatz offen da ─ er kann aus ihm
wählen, er kann ihn bereichern; denn er hat das Recht, die Sprache fortzubilden,
weil in ihm die sprachschöpferische Kraft ruht. Wer den Bildungsgang
der Sprache verfolgt, wird auf eine Menge von Wörtern
stoßen, bei denen nur das Dichtertalent zu Pathen gestanden. Das Wort:
furchtlos“ z. B. ist jetzt bei uns so vollkommen eingebürgert, daß wir
uns wundern, es irgendwo als ein neugeschaffenes bezeichnet zu finden.
Gottsched aber erwähnt es noch als ein glückliches Wagniß Simon
Dach's,
der es in dem Vers:


Und man sollte furchtlos stehn?


zuerst in die deutsche Sprache eingeführt.


Der Sprachschatz enthält nun eine Menge geprägter Münzen, bei denen
der Prägstock des Dichters nicht thätig war, und die auch keinen poetischen |#f0151 : 129|

Cours gewinnen können. Hierzu gehören zunächst die Fremdwörter,
die in der deutschen Dichtersprache nur ein sehr beschränktes Gastrecht finden
dürfen. Ohne dem blinden Eifer einer Sprachreinigung zu huldigen,
welche das Fremdwort auch aus unsern prosaischen Werken und dem
Gebrauch des Lebens verbannen will, wo wir mit dem Wort in der Regel
auch den bestimmten Begriff verlieren: muß man doch zugeben, daß die
Reinheit der poetischen Diktion durch den Gebrauch der Fremdwörter
in ungehöriger Weise getrübt wird. Wohl giebt es Fremdwörter, die
ebenso unentbehrlich, wie eingebürgert sind, und die daher auch der
Dichter nicht vermeiden kann, doch die große Mehrzahl derselben verfällt
in der Poesie mit Recht dem Strafgerichte der Puristen. Unsere
Klassiker haben sich vom unnöthigen Gebrauch der Fremdwörter nicht
freigehalten, was bei ihnen um so weniger auffällt, als sich durch Schiller's
und Goethe's Dichtungen eine ganze Kette mythologischer Namen
zieht; denn wo beständig vom „Orkus“ die Rede ist und sogar statt des
Himmels sich der „unbewölkte Zeus“ in den Fluthen spiegelt, da fallen
Ausdrücke, wie „Sphäre, Aether, Element“ weniger auf. Goethe läßt
den Faust von „neuen Sphären neuer Thätigkeit“ sprechen. Schiller
sagt: „Aber dringt bis in der Schönheit Sphäre,“ spricht vom „Symbol
des Schönen und des Großen,“ „von der heil'gen Sympathie,
der das Unsterbliche erliegt,“ von dem „Jdeale,“ vor dem die beschämte
That muthlos fliehen soll. Gerade diese Fremdwörter haben etwas
Oedes und Todtes; denn sie sind abstracte Schatten aus dem Orkus der
philosophischen Terminologie. Unsere neueren philosophischen Poeten,
Sallet, Jordan, Titus Ulrich u. A., haben sich ebensowenig vor
dem Gebrauche solcher Kunstausdrücke gehütet, und wir können hierher
auch mit gleichem Rechte die deutschen Wendungen rechnen, welche Hegel
zu Schlagwörtern seiner Philosophie gestempelt: das Fürsichsein, Beisichsein,
Außersichsein, bei denen die Muse ein Recht hat, außer sich zu gerathen,
wenn sie ihnen in einer Dichtung begegnet; denn sie sind ebenso
unschön, wie unsinnlich! Je freier der ideale Styl der Dichtung von
Fremdwörtern, desto geläuterter ist seine künstlerische Haltung. Dennoch
lassen wir hier eine Ausnahme gelten; es ist die exotische Schilderung,
wo ein angemessenes Kolorit selbst die fremdklingenden Worte zu erfordern
scheint, wo sie wie mit einem würzigen Hauch die Dichtung durchziehen. |#f0152 : 130|

Wir denken hierbei vorzugsweise an Freiligrath, der diesen
Fremdlingen noch dadurch eine besondere Auszeichnung zu Theil werden
läßt, daß er sie zu Reimen verwendet. Jm Gegensatz gegen die abstracte
Verschwommenheit der philosophischen Fremdwörter geben diese eine
schärfere Bestimmtheit und haben überdies die Entschuldigung für sich,
daß die deutsche Sprache keine Worte hat, um sie zu ersetzen. Wenn
Freiligrath sagt:


Und sehet: noch ein Schemen,
Ein Kämpfer auf dem Nil,
Ein Führer von Triremen,
Der unter Cäsar fiel!


so bezeichnet dieser Ausdruck in ganz bestimmter Weise und sonst unerreichbarer
Kürze das römische Ruderschiff; auf der anderen Seite
bedarf er für das ungelehrte Publikum eines Commentars. Solche Ausdrücke
lassen sich nur gebrauchen, wo sie sich selbst erklären.


Es gehört große Kunst dazu, Worte, die eine Specialität der
Marine, des Krieges, der Volks- und Erdkunde ausdrücken, so anzuwenden,
daß der Ausdruck nicht seinen dichterischen Adel einbüßt. Freiligrath
besitzt meistens diese Kunst. Doch treibt er ebenso oft einen überflüssigen
Luxus mit Fremdwörtern, wo sie Nichts zur Charakteristik beitragen, nicht
den Zauber des Kolorits erhöhen, z. B.:


nur noch durch diese Schleusse,
Und deinen Kupferbauch umplätschert das Bassin!
Wie sich auf dem Verdeck die rüst'gen Lootsen drängen!
Zur Arbeit singen sie; ─ einfach, mit rauhen Klängen
Schallt über's Wasser der Refrain.


Die Länder- und Völkernamen, die Freiligrath in seine Verse gewebt,
können ebensowenig für bloße Fremdwörter gelten, wie die mythologischen
Namen, die Goethe's und Schiller's Dichtungen durchranken.


Wie Freiligrath ein Muster für den entschuldbaren Gebrauch des
Fremdworts in der Dichtkunst: so ist es Scherenberg für den verwerflichen.
Seine Hauptdichtung: Waterloo beginnt mit den Versen:


Jacta est alea ─ entweder ─ oder!“
Spricht der gefang'ne Cäsar der Franzosen
Auf Elba ─
|#f0153 : 131|


und charakterisirt damit von vornherein das dichterische Kauderwälsch,
das durch seine sonst talentvollen Dichtungen geht. Scherenberg streut
die Fremdwörter in einzelnen Brocken in seine Verse, aber nur in den
humoristischen Theilen des Werkes läßt sich diese absichtliche Sprachmengerei
rechtfertigen.


Was der ernsten Muse versagt ist, das gerade kommt der komischen
zu Statten. Das mit Geschick angewendete Fremdwort ist ein Hauptträger
der komischen Wirkung, und zwar nicht blos da, wo es die Sprachmengerei
zu verspotten gilt, wie in Rachel's und Laurenberg's
Satyren:


Ein braver Kapitain, ein alter Freiersmann,
Hub seinen Mengelmuß mit diesen Worten an:
La Maître machet mir en façon der Franzosen
Für gut contentement ein paar geraumer Hosen,
Jch selber bin mir gram, mir knorrt der ganze Leib
Daß ich jusqu' à présent muß leben ohne Weib.
Was hab' ich nicht gethan? Was hab' ich nicht erlitten,
O Cloris, dein amour und Schönheit zu erbitten?
Weil dein Eclat soweit die andern übergeht,
Wie wenn ein Diamant bei einem Kiesel steht.
Soleil de notre temps, o Auszug aller Tugend!
O himmlischer Trésor! u. s. f.

Rachel, der Poet.


Die deutschen Dramatiker haben sich in den verschiedensten Epochen
unserer Literatur diese komische Wirkung nicht entgehen lassen. Andreas
Gryphius läßt in seinem „Horribilicribrifax“ sowohl den Helden des
Stückes, als seinen Gegner Daradiridatumdari das Französisch, Spanisch
und Welsch durcheinander mischen, während der Schulmeister Sempronius
Griechisch und Lateinisch im Uebermaaß in seine deutsche Rede
wirkt; Lessing's Riccaut de la Marlinière radebrecht deutsch und französisch
mit komischer Wirkung durcheinander und hat in der neuesten Zeit
an Gutzkow's Königslieutenant Thorane einen Nachfolger gefunden,
dessen Deutsch-Französisch stets einen leise komischen Anflug mit sich führt,
aber dort, wo es ernstere sentimentale Wirkungen hervorrufen soll, gekünstelt
erscheint.


Einen ebenso undichterischen Eindruck, wie das Fremdwort, das
unnöthigerweise angebracht wird, macht das deutsche Ersatzwort der |#f0154 : 132|

Puristen, welche nicht das Product eines sprachschöpferischen Genius
ist, sondern die mühsame Erfindung einer sprachkünstelnden Grille,
wenn es sich an die Stelle eingebürgerter Wörter fremden Ursprungs
drängen will. Trotz des Fremdwörterbuchs von Heyse und des Potsdamer
Sprachreinigungsvereins verfällt indeß die neuere Poesie selten in
diesen Fehler, den in früheren Zeiten bereits Rachel in seinen Satyren
verspottet. Die Thätigkeit des Puristen ist in diesem Falle nur eine
Karrikatur der Thätigkeit des Dichters, welcher neue Worte entweder
durch eigene Bildnerkraft, durch einen Act der Jnspiration schafft oder
ältere oder veraltete in neuen Schößlingen zu Ehren bringt. Hierüber
hat schon Horaz in seiner „Poetik“ die richtigsten Lehren ertheilt*). Er
hat, indem er sich auf den Vorgang des Plautus, Cato und Ennius
beruft, auch für Virgil und für sich das Recht in Anspruch genommen,
neue Wörter in die Sprache einzuführen, unter dem Vorbehalt, dies
Recht mit Maaß in Anwendung zu bringen; er hat auf der anderen Seite
die organische Entwickelung der Sprache selbst, die er mit dem Laubwalde
vergleicht, der zuerst die ältesten Blätter verliert, im Lenz aber sich jugendlich
mit frischem Schmuck erneuert, in ihrem Wesen richtig erkannt und
als den Wächter dieser ganzen sprachlichen Fortbildung, mag sie nun vom
dichterischen Talent oder vom nationalen Genius selbst ausgehen, den
Sprachgebrauch hingestellt:


si volet usus,
Quem penes arbitrium est et ius et norma loquendi.


Daß alte Wurzeln neue Stämme, alte Stämme neue Zweige, Blätter
und Blüthen treiben, ist das gute Recht der sprachlichen Entwickelung.
Der Dichter kann manches ältere Wort durch glückliche Anwendung wieder
zu Ehren bringen, wie es in vielen Fällen das Vorbild Goethe's
beweist. Dagegen ist die romantische Schule, besonders Fouqué, in
eine widerliche Manier verfallen, indem sie, minniglich und reckenhaft,
altdeutsche Wörter unverändert aufnahm, um damit ihre Dichtungen in
einer mittelalterlichen Weise auszustaffiren, welche dem Genius unserer
Zeit widerspricht. Auch Redwitz in seiner „Amaranth“ und selbst
Fontane und Andere in altdeutschen Balladen befleißigen sich oft einer

*)
Hor. de art. poet. 46─72.
|#f0155 : 133|

Ausdrucksweise, die an die alten gothischen Burgen und Kapellen erinnert.
Ebensowenig ist der Chronikenstyl in den historischen Romanen
von Willibald Alexis zu billigen, durch den zwar ein naiv treuherziger
Ausdruck erreicht wird, aber auf Kosten der höheren künstlerischen Ausbildung
der fortgeschrittenen Sprache.


Da jede Sprache in verschiedene Dialekte zerfällt, so entsteht die
Frage, inwieweit die Dichtung sich des einen oder anderen Dialektes
bedienen darf? Als Grundsatz muß es wohl feststehen, daß die Dichtung
sich in jener Sprache der geläuterten Bildung zu bewegen hat, welche
von allen provinziellen Anklängen frei ist. Denn erst in ihr hat der
Genius der Sprache jenen Höhenpunkt erreicht, wo er alle Besonderheit
abgestreift, um einen harmonischen Spiegel des Gedankens zu schaffen;
sie erst ist das Palladium der nationalen Einheit. Nur in einer Sprache,
in der die Nation sich als Ganzes fühlt, können dauernde Schöpfungen
des Genius niedergelegt werden.


Die Ausnahme von dieser Regel kommt besonders der komischen
Dichtung zu Statten. Die Komik dringt überall auf die speciellste
Bezeichnung; sie geht bei der Charakteristik viel weiter in's Einzelne, als
die ernste Dichtung. Sie kann sich des Dialekts trefflich bedienen, um
einem Charakter dadurch ein schärferes Gepräge der Eigenthümlichkeit zu
geben, um ihn durch den Kontrast humoristisch hervorzuheben. Shakespeare's
„Capitain Fluellen“ im „Heinrich V.“ ist ein Beispiel hierfür,
welches sich spätere englische Lustspieldichter zu Nutze machten ─ wir
erinnern nur an den schottischen Anflug, durch den Sir Pertinax Macsycophant
in Macklin's „the man of the world,“ an den nordenglischen
Dialekt, durch den John Mordy in Cibber's „the provoked husband“
sich gleich in charakteristischer Weise einführen. Auch die englischen
Romanschriftsteller, wie Walter Scott, Dickens, bedienen sich
oft des Dialekts bei komischen Nebenfiguren. Die deutsche Posse ist vorzugsweise
lokaler Art und daher ganz in den Humor dieser Dialekt-Unterschiede
getaucht. Wir haben vorzugsweise Wiener und Berliner
Possen, in denen der lokale Ausdruck jovialer Gemüthlichkeit und naseweiser
Kritik vortrefflich durch die Eigenthümlichkeiten des betreffenden
Dialektes unterstützt wird. Holtei erreicht in seinen „Wienern in Berlin“
durch den Kontrast beider Dialekte eine humoristische Wirkung. |#f0156 : 134|

Lokale Witzblätter, wie der „Kladderadatsch,“ die „fliegenden Blätter“
in München, Saphir's „Wochenkrebs“ in Wien sind ebenfalls auf die
Ausbeutung dieses volksthümlichen Sprachschatzes angewiesen, der durch
seine bunte wechselnde Einkleidung dem Witz Frische und Neuheit verleiht
und ihm überhaupt einen eigenthümlich aromatischen Beigeschmack
giebt. Wenn man dagegen in ernsten und sentimentalen neuen Dorfgeschichten
von Auerbach, Ludwig u. A. überall auf Provinzialismen
stößt, die mit übertriebenem Behagen ausgebeutet werden, so kann man
darin nur einen Verstoß gegen den guten Geschmack und eine bedrohlich
hereinbrechende realistische Barbarei finden.


Eine zweite Ausnahme von der oben aufgestellten Regel läßt sich für
eine Art lyrischer Poesie, für das „Volkslied“ geltend machen. Jeder
Dialekt hat etwas Naturwüchsiges, das dem ursprünglichen Quell des
Gemüthes nahe zu liegen scheint. Die niedern Stände überhaupt leben
und weben in dieser provinziellen Bestimmtheit des Ausdruckes; die Naivetät
der Empfindung scheint sich in ihr am glücklichsten abzuspiegeln.
Der Dialekt hat etwas Knospenartiges, Mädchenhaftes; der nur halb
erschlossene Genius der Sprache schlägt in ihm sein träumerisches Auge
auf. Dieser ahnungsvolle Reiz hat neuerdings einige Dichter bestimmt,
den Dialekt zum Gewand einer volksthümlichen Lyrik zu wählen, deren
Bedeutung freilich auf die Landesgrenzen beschränkt ist, innerhalb deren
er das herrschende Jdiom ist. Hebel's „alemannische Gedichte“ haben
den schwäbischen, Holtei's „schlesische“ den schlesischen, Klaus Groth's
„Quickborn“ den niederdeutschen zur Einkleidung einer Liederdichtung
gewählt, die manche liebliche Blüthen getrieben. Doch ist ebenso oft
mit dieser waldfrischen Ursprünglichkeit des Dialektes in süßlicher Weise
kokettirt worden; man hat seine Berechtigung überschätzt und wohl gar
die einzig echte Poesie in den oft stammelnden Naturlauten der Volkslyrik
gesucht.


Wenn wir nun im Einzelnen erwägen wollen, wie der dichterische
Ausdruck Kraft und Grazie durch das bloße Wort gewinnt: so werden
wir zunächst das Hauptwort und Beiwort in's Auge fassen müssen.
Das Hauptwort scheint als feste abgeschlossene Form der schöpferischen
Thätigkeit des Poeten nur einen geringen Spielraum zu bieten. Er
wird zunächst jene unkräftigen, abstracten Bildungen, besonders mit der |#f0157 : 135|

Endung: ung zu vermeiden haben, die in unserer neuen orientalischen
Lyrik eine allzugroße Rolle spielen*). Es fehlt ihnen alle sinnliche Anschaulichkeit!
Dagegen haben die mehr aktiven, von Zeitwörtern gebildeten
Hauptwörter wie z. B. Berather, Thäter, Erhalter, Kraft und
Frische:


Harret, bis im Morgenwinde eure Turbanfedern flattern ─
Morgenwind und Morgenröthe werden ihnen zu Bestattern.

Freiligrath.


Jhrer Spur folgt die Hyäne,
Die Entweiherin der Grüfte! Freiligrath.
Schöpfrin, Entfalterin
Himmlischer Zier
Stehst du, Gestalterin,
Muse vor mir.
Oder du Liebe,
Einigerin,
Jrdischer Triebe
Reinigerin.

Rückert.


Es liegt hierbei eine Personifikation zu Grunde, welche die Sprache selbst
vollzieht, und die der Dichtung zu Gute kommt. Auch fließt hier gerade
ein ergiebiger Born für neue Wortbildungen, welche aus alten Stämmen
zwanglos herauswachsen**). Doch hat auch das scheinbar spröde Hauptwort
eine Seite, wo es sich für dichterische Neubildungen gefügig erweist.
Seine Fähigkeit, durch die Zusammensetzung mit andern Hauptwörtern
neue Wörter zu bilden, ja selbst Nebenbestimmungen als gleich berechtigt
in sich aufzunehmen, verleiht dem Ausdruck ebenso Reichthum, wie
Energie. Daß sich diese Fähigkeit soweit erstreckt, um selbst die Spielereien

*)
Auch Platen ist nicht frei davon. Er sagt z. B.
der Elemente Bildungen zerfließen (Rom. Oedipus)!
Die Schlußparabase dieser Komödie wimmelt von solchen abstracten Wörtern.
**)
Die Wirkung der Diminutiv bildungen, das Niedliche, Zierliche tändelnd zu
schildern, hat Rückert in dem Gedicht: die Göttin im Putzzimmer, auf's
Glücklichste erreicht. Selbst die Häufung der Diminutive ist hier nicht störend:
Nischchen, Zellchen, Tischchen, Gestellchen, Schreinchen, Quästchen,
Steinchen, Kästchen, Ringelchen, Kettchen, Dingelchen, Blättchen,
Nädelchen, Häckchen, Fädelchen, Fleckchen, Wickelchen, Schleifchen,
Zwickelchen, Streifchen
&c.
|#f0158 : 136|

des aristophanischen Humors nachahmen zu können, hat Platen im
„Oedipus“ gezeigt:


Nie will ich einen Oedipus,
Jch selbst erfinden, zeigen euch, wie jener Mensch
Es hätte machen sollen, ein historisches
Vorzeitsfamilienmordgemälde bühnenhaft
Dem Publikum vorbei zu führen. ─ ─

Ja, wo wäre denn
Dekorationsveränderung und sonstige
Freischützkaskadenfeuerwerkmaschinerie.


Jn diesen kühnen komischen Zusammensetzungen liegt eine Kraft,
welche einen ganzen Satz in die Einheit eines Wortes zusammendrängt.


Keine Dichtung gewährt interessantere und reichere Belege für die
Bedeutung dieser Wort-Zusammensetzungen, als Goethe's „Faust.“ An
der Neuheit, Frische und Energie des Ausdruckes, die uns aus dem ersten
Theil entgegenweht, haben sie einen wesentlichen Antheil. Dagegen
zeigen gerade die mühseligen Wort-Composita des zweiten Theiles, wie
die Hand des Dichters erlahmt und zu solchen kühnen Griffen unfähig
geworden ist. Hier zeigt es sich, wie das Hauptwort in seinen Zusammensetzungen
sogar für den ganzen Styl charakteristisch werden kann, indem
sich ebenso die glückliche Dichterkraft der Jugend, wie die manierirte
Ohnmacht des Alters in ihnen ausprägt.


Man vergleiche die folgende Sammlung solcher Wörter aus dem
ersten und zweiten Theile:


Erster Theil: Gnadenpforte, Dichterhöhe, Brudersphäre, Wettgesang,
Donnergang, Paradieseshelle, Sphärenlauf, Wirkenskraft,
Wissensqualm, Freudebeben, Flammenbildung, Lebensfluthen, Thatensturm,
Spiegelfluth, Erdensonne, Jugendmacht, Höllenluchs, Teufelsfaust,
Riesenfichte, Nachbaräste, Nachbarstämme, Gedankenbahn, Feuerpein,
Blend- und Schmeichelkräfte, Traum- und Zaubersphäre, Lock= und
Gaukelwerk.


Zweiter Theil: Erfüllungspforte, Wechseldauer, Doppelzwerggestalt,
Glitzertand, Blitzeswerk, Geister-Meister=Stück, Bücherkruste,
Krächzegruß, Flügelflatterschlagen, Zitterwogen, Glanzgewimmel, Alt=
Wälder, Flüsterzittern, Säuselschweben, Gezwergvolk.

|#f0159 : 137|


Welche gesetzgebende Schöpferkraft in den Bildungen des ersten,
welche Verknorpelungen des Styles in denen des zweiten Theiles!


Aus diesen Beispielen ersehn wir zugleich die größere Prägnanz, die
der Ausdruck durch solche Zusammensetzungen gewinnt. Theils werden
sie durch eine Verbrüderung von Substantiven gebildet, wie Sphärenlauf,
für Lauf der Sphären, Wissensqualm für Qualm des
Wissens, und gewinnen durch die Aufnahme des Genitivs an Kürze und
Kraft; theils sind es adjectivische Bestimmungen, die sich in morganatischer
Ehe an das Substantivum antrauen lassen: Brudersphäre für
brüderliche Sphäre, Riesenfichte für ries'ge Fichte, Spiegelfluth
für spiegelnde Fluth, Blend= und Schmeichelkräfte für blendende
und schmeichlerische Kräfte. Eine unglückliche Bereicherung dieser Flora
giebt das Wort „Alt-Wälder“ im zweiten Theile für „alte Wälder.
Diese Abbreviaturen des Ausdruckes, die aus der Standeserhöhung des
Adjectivums hervorgehn, geben ihm eine große Schlagkraft. Noch
größer ist die der Antithese, wenn die beiden vereinigten Wörter zugleich
entgegengesetzt sind: z. B. Erdensonne. „Wechseldauer“ im zweiten
Theile klingt gesucht. Goethe liebt es auch, zwei neue Reiser auf einen
Wortstamm zu impfen: Traum- und Zaubersphäre, Lock- und Gaukelwerk,
wobei das erste in der Regel mehr vom zweiten in's Schlepptau
genommen wird, so daß man die Kühnheit der Zusammensetzung z. B.
Lockwerk überhört.


Noch wichtiger für die dichterische Diktion als die Wahl des Hauptwortes
ist die des Beiwortes, in welchem sich der eigentliche Zauber
der Phantasie und Empfindung und die specifische Kraft jedes einzelnen
Talentes ausspricht.


An den Beiwörtern kann man Homer und Pindar, Aeschylos
und Sophokles, Virgil und Horaz, Schiller und Goethe,
Heine
und Lenau unterscheiden. Schon der alte Nesichorus ist
wegen des geschicktesten Gebrauchs der Beiwörter für den anmuthigsten
Poeten gehalten worden. Ein Beiwort, das eine einfache Bestimmung
einfach ausdrückt, kann dennoch eine große Kraft der Bezeichnung, eine
große Jnnigkeit der Empfindung ausdrücken. Goethe liebt solche
Adjectiva: hoch, reg, sanft, dunkel, schwer; hohe Gestalten, rege
Wipfel, sanfte Pfeile, dunkles Laub, schwere Wolke.

|#f0160 : 138|

Kennst du das Land, wo die Citronen blühn,
Jm dunklen Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrthe still und hoch der Lorbeer steht!


Wie einfach sind die Beiwörter in diesem Vers gewählt, und wie
geben sie doch durch ihre Zusammenstellung ein stimmungsvolles Bild!
Auch „gefällig, anmuthig“ sind Lieblingsbeiwörter dieses Dichters!
Spiegelt sich in ihnen nicht ganz die plastische Klarheit seiner Seele und
seines Styles? Jn Heine's Liedern finden sich ebenfalls einfache Beiwörter,
welche von einem großen Reize der Stimmung begleitet sind.
Doch wiegen hier die sinnlichen vor, nicht in Goethe's plastischem,
sondern in stoffartigem Sinn: süß, weich:


So schwebt mir vor ein süßes
Anmuthig liebes Bild.

Mädchen mit dem rothen Mündchen,
Mit dem Aeuglein süß und klar.

Jn den Armen meiner Kön'gin
Ruht mein Königshaupt so weich.


Jm Kontrast damit drückt er sein Unbehagen durch Wörter wie
dumpf, wund, elend aus! Liebeslust und Lebenssattheit, der Grundzug
seiner Gedichte, prägt sich in seinen Lieblingsadjectiven aus. Doch
hat er mit Goethe den Vorzug gemein, daß er dem einfachsten Beiwort
oft eine prägnante Bedeutung zu geben weiß z. B.:


Jch weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin!


Ganz abweichend von diesen beiden Dichtern liebt Schiller abstracte
Beiwörter, wie edel, sittlich, herrlich, ewig, schrecklich, zärtlich,
himmlisch,
Beiwörter, welche den idealen Charakter und das
sittliche Pathos seines Dichtens treffend repräsentiren. Wo er aber schildert,
häuft er die Synonyma in einer fast unschönen Weise:


Wie's von Salamandern und Molchen und Drachen
Sich regt' in dem furchtbaren Höllenrachen,
Schwarz wimmelten da, in grausem Gemisch
Zu scheußlichen Klumpen geballt,
Der stachlichte Roche, der Klippenfisch,
Des Hammers gräuliche Ungestalt,
|#f0161 : 139|

Und dräuend wies mir die grimmigen Zähne
Der entsetzliche Hay, des Meeres Hyäne!


Lenau wiederum liebt Beiwörter wie still, stumm, trüb, traut,
dunkel,
in denen sich die Melancholie seiner Seele malt.


Alle diese Beiwörter fördern direct die Anschaulichkeit und die Stimmung.
Hierher gehören auch die stereotypen Beiwörter Homer's: die
rosenfingrige Eos, die blauäugige Athene, der blondgelockte Menelaos
u. s. w. Eine größere Wirkung als diese einfachen Adjectiva bringen
diejenigen hervor, in denen eine Metapher latent ist. Wir können
jene Adjectiva der Bezeichnung, diese Adjectiva der Beziehung
nennen. Hier handelt es sich nicht blos um ein epitheton ornans,
um eine plastische, sinnliche, sittliche Bezeichnung; das Adjectivum trägt
hier nicht blos die Fackel, um das Substantivum zu beleuchten; es steht
sogar im offenen Widerspruch mit seinen Eigenschaften und wird ihm
nur durch einen kühnen Machtspruch des Dichters beigegeben, welcher
dann dem Substantivum eine Bedeutung unterschiebt, die ohne Zusammenhang
mit seinem eigentlichen Wesen ist und sich gleichsam nur als ein
Reflex aus der ganzen Situation, aus dem ganzen Gedanken auf dasselbe
ergießt. So wenn einem sinnlichen todten Ding eine geistige
Eigenschaft untergeschoben wird.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Abgrenzung nn. Anmerkung: Abgr. zwischen Adjektiv der Bezeichnung und der Beziehung (in letzterem Metapher) - Unterkat.: Adj. d. Bez. Heine sagt:

Und das ist ein Drehn und Winden
Vor den buntbemalten Puppen,
Und das blökt und dampft und klingelt,
Und die dummen Kerzen funkeln.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person nn. Quellenannahme implizit Werk. Explikation Metapher nn als Unterkategorie. Anmerkung: impl. Werk: Almansor - Bsp. für obige Abgr. - Unterkat.: Adj. d. Bez.


Jn dies Beiwort flüchtet sich die Kritik des Dichters über die ganze
Handlung. Es hat zu dem Substantivum, bei dem es steht, keine andere
Beziehung, als daß es dasselbe mit zum Träger des Gedankens macht.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person nn. Quellenannahme implizit Werk. Explikation Metapher nn als Unterkategorie. Anmerkung: zugehöriger Poetikentext exempl. - Unterkat.: Adj. d. Bez.
Goethe spricht vom „stolzen Licht,“ das der Mutter Nacht den Vorrang
streitig macht, von den „süßen Rosen.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person Goethe. Quellenannahme implizit Werk. Explikation Metapher nn als Unterkategorie. Anmerkung: impl. Werk: ??? - Wortlaut? - Unterkat.: Adj. d. Bez. Shakespeare ist reich an
solchen beziehungsreichen Beiwörtern:

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Person Aeschylus.0 1-4-2-0 Explikation Metapher nn als Unterkategorie. Anmerkung: Werke: Kaufmann von Venedig, Wie es euch gefällt, Romeo und Julia - Unterkat.: Adj. d. Bez.


Jch rath' euch lieber, in den kecksten Farben
Der Lust zu kommen.

Kaufmann von Venedig.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Person Aeschylus.0 Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher nn als Unterkategorie. Anmerkung: Unterkat.: Adj. d. Bez. William Shakespeare: Der Kaufmann von Venedig

Welch' eine Bürgerfrau nenn' ich mit Namen,
Wenn ich hehaupt', es tragen Bürgerfrau'n
Der Fürsten Aufwand auf unwürd'gen Schultern.

Wie es euch gefällt.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Person Aeschylus.0 Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher nn als Unterkategorie. Anmerkung: Unterk.: Adj. d. Bez. William Shakespeare: Wie es euch gefällt |#f0162 : 140|

Denn über meinem Haupt erscheinest du
Der Nacht so glorreich, wie ein Flügelbote
Des Himmels dem erstaunten, über sich
Gekehrten Aug' der Menschensöhne, die
Sich rücklings werfen, um ihm nachzuschaun
Wenn er dahinfährt auf den trägen Wolken.

Romeo und Julie.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Person Aeschylus.0 Explikation Metapher nn als Unterkategorie. Anmerkung: Unterkat.: Adj. d. Bez. William Shakespeare: Romeo und Julia


Die trägen Wolken (lacy-pacing clouds) sind es hier nur im
Gegensatze zu dem beschwingten Boten des Himmels (winged messenger)!

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Person Aeschylus.0 Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher nn als Unterkategorie. Anmerkung: Unterkat.: Adj. der Bez. William Shakespeare: Romeo und Julia
Umgekehrt kann das Adjectivum der Beziehung eine sinnliche
Eigenschaft
einem geistigen Subject unterschieben.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher nn als Unterkategorie. Anmerkung: Unterkat.: Adjektiv der Beziehung Einige Wendungen
dieser Art sind so gebräuchlich, daß man das Metaphorische dabei
übersieht z. B. glühende Leidenschaft, heller Sinn, brütender
Gedanke, unergründlicher Schmerz.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Qualitative Unterscheidung prosaischer und poetischer Metaphern. Explikation Metapher nn als Unterkategorie. Anmerkung: Unterkat.: Adjektiv der Beziehung Dingelstedt spricht von
strohbedeckter und begnügter Stille,

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person nn. Quellenannahme implizit Werk. Anmerkung: Dingelstedt? impl. Werk: ??? - Wortlaut? Shakespeare von
frostiger Warnung“ (Richard II.), von verwirrten Tagen
und faulen Zeiten (Heinrich IV.);

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Werkgruppe.-0 Quellenangabe Person Aeschylus.0 Explikation Metapher nn als Unterkategorie.William Shakespeare: König Richard II ; William Shakespeare: König Heinrich IV


O glänzende Zerrüttung, gold'ne Sorge.

(Heinrich IV.)

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Person Aeschylus.0 Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher nn als Unterkategorie.

Doch eh' die Kron', um die er wirbt, in Frieden
Die Schläf' ihm deckt, da werden blut'ge Schläfen
Von zehentausend Muttersöhnen übel
Dem blüh'nden Antlitz Englands stehn, verwandeln
Die Farbe ihres mädchenblassen Friedens
Jn scharlach'ne Entrüstung.

(Richard II.)

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Person Aeschylus.0 Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher nn als Unterkategorie.


Hier liegt in den Adjectiven eine allegorische Kraft. Wir sehen den
Frieden als ein blasses Mädchen, ihm gegenüber die scharlach'ne Entrüstung,
die blutrothe Kriegsfurie! Der Dichter kleidet durch diese
Adjectiva abstracte Begriffe in sinnliche Farben, aber nur die Beziehungen
des Gedankens machen es möglich, daß diese Haupt- und Beiwörter
zusammengestellt werden.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Person Aeschylus.0 Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher nn als Unterkategorie. Ja das Beiwort kann bis zum Gegensatz
gegen das Hauptwort fortgehn, wie z. B. Shakespeare vom „harmon'=
schen Zwist
der Töne“ spricht. (Sommernachtstraum.) Die
Adjectiva der Bezeichnung passen mehr für das einfache Lied und die
epische Dichtung, die der Beziehung für die gedankenvollere Lyrik und
das Drama.


Auch die Flora der Adjectiva läßt sich auf dem Wege der Zusammensetzung |#f0163 : 141|

durch Neubildungen bereichern, die allerdings nur so bildsamen
und formenreichen Sprachen wie der griechischen und deutschen, zu Gesicht
stehn. Der Ausdruck gewinnt dadurch an Kraft und Mark. Wenn wir
die Participien der Verben, die meistens adjectivisch gebraucht werden
und dadurch, daß sie das von ihnen regierte Object mit in sich hineinnehmen
und mit ihm ein Wort bilden, eine große Zahl von Zusammensetzungen
liefern, mit hinzu rechnen, so erhalten wir mehrere Klassen
adjectivischer Komposita.


Erstens: Beiwort und Beiwort vereinigen sich zu einem Worte:
blondlockig, leichtbeschwingt, heiligroth (Heine), schwarzflüglicher
Tod
(Euripides nach Fritze), weißflügliches Kreterschiff
(Euripides).


Zweitens: Beiwort und Hauptwort, und zwar kann das Hauptwort
die nähere Bestimmung des Beiwortes sein z. B. thränenfeucht
für: feucht von Thränen, thauschwer (Platen) für: schwer von
Thau,
oder das Hauptwort enthält einen Vergleich: marmorblaß
für: blaß wie Marmor, löwenbeherzt (Platen), beherzt wie ein Löwe,
taubenmild (Heine), mild wie die Taube. Hierin liegt eine wesentliche
Kräftigung der Anschaulichkeit des Ausdruckes, indem die Eigenschaft
gleichsam mit demjenigen sinnlichen Object zusammenwächst, das
sich vorzugsweise durch sie auszeichnet. Hierher gehören nun die activen
Participien, die mit dem Accusativ, den sie regieren, ein Wort bilden:
weinstocknährend (Platen), leichenwitternd (Heine), schicksalverkündend
(Euripides) und die passiven Participien, welche das
Substantiv, von dem sie regiert werden, mit in sich aufnehmen: säulengetragen
(Schiller), prophetengefeiert (Heine).


Drittens: Das Beiwort oder Participium nimmt eine Adverbial=
oder Zahlbestimmung in sich auf: weitgähnend, schluchtwärtslockend,
dreinamig, dreigestaltete
(Goethe).


Die meisten dieser Adjectivbildungen sind indeß so gewichtig, daß sie
sich für die leichteren Gattungen der Dichtkunst unbrauchbar erweisen.
Jn einem Liede z. B. würden sie einen alle Grazie erdrückenden Eindruck
machen, wie Felsblöcke, die man in einen Blumengarten gewälzt. Jn
der Epopöe, in den Chören der griechischen Tragödie, in den Parabasen
der Komödie, in den antiken und den ihnen nachgebildeten modernen |#f0164 : 142|

Oden oder Pindarisch freien Rhythmen sind sie dagegen ganz an ihrem
Platze, obwohl nicht zu leugnen ist, daß die antikisirenden Oden Klopstock's,
Ramler's, Platen's
durch die Häufung solcher allzuwuchtigen
Eigenschaftswörter, die sie meistens der Spondäen und Molossen
wegen bilden, einen schwerfälligen Anstrich gewonnen haben und in
einen manierirten Ton verfallen sind. Ueberhaupt gehört viel Tact und
Geschmack, Maß und Selbstbescheidung zu diesen Neubildungen.
Grünumschränkter Plan, flügeloff'ne Erfüllungspforten“ (im
zweiten Theil des Faust) sind Zusammensetzungen ohne rechte Kraft.
Wenn das Hauptwort, mit welchem sich das Beiwort vermählt, einen
Vergleich involvirt, so muß der Vergleichungspunkt vollkommen klar
sein, wie z. B. taubenmild, marmorblaß, marmorkalt, marmorglatt.
Jst dies nicht der Fall: so hat das zusammengesetzte Wort
keinen Schwerpunkt. Jn den Wörtern von Anastasius Grün: lenzungeduldig,
lenzübermüthig
ist die Vergleichung zu fern liegend
und gesucht; ebenso in „kranzdunkel,“ das Platen gebraucht; bei
einigen Wörtern von Minkwitz wie z. B. fruchtherrlich kann man sich
gar Nichts denken. Hier beginnt das Gebiet der hochtrabenden und
nichtssagenden Redensarten.


Glücklicher, als die Odendichter von Fach, ist, in Bezug auf die
geschmackvolle Adjectivbildung, Heinrich Heine in seinen dithyrambischen
Nordseebildern. Wie glücklich sind alle die folgenden Wörter
gebildet:


leichenwitternd, seelenschmelzend, seelenzerreißend, zartdurchsichtig,
hochgegiebelt, seidenrauschend, stillverderblich,
schwarzbemäntelt, flechtengekrönt, feuerberauscht
u. s. f.


Das richtig gewählte einzelne Adjectivum genügt zur dichterischen
Lebendigkeit der Schilderung! Doch können mehrere nebeneinanderstehende
Eigenschaftswörter die Lebendigkeit erhöhn:


Hinaus in eure Schatten, rege Wipfel
Des alten, heil'gen, dichtbelaubten Hains.


Auch können sie durch den Kontrast anmuthig wirken:


Was sucht ihr, mächtig und gelind,
Jhr Himmelstöne, mich im Staube?


Zusammenstellungen, wie: duftig bunt, hastig regsam (Heine), |#f0165 : 143|

unbegreiflich hold geben dem Ausdruck Anschaulichkeit und Jnnigkeit;
doch erkälten sie ebenso, wenn sie gezwungen und gesucht sind z. B.
drohend mächt'ge Runde, in frevelnd magischem Vertrauen,
heimlich kätzchenhaft begierlich (Faust, zweiter Theil). Eine
allzugroße Häufung der Adjectiva thut der Klarheit des Styles und des
Bildes Eintrag, um so mehr, wenn Synonyma zusammengestellt sind.
So ist folgende Stelle von Anastasius Grün fehlerhaft und schwülstig,
indem in ihr das Subject, das Meer, von acht Adjectiven fast
erdrückt wird:


Unermeßlich und unendlich,
Glänzend, ruhig, ahnungsschwer,
Liegst du vor mir ausgebreitet,
Altes, heil'ges, ew'ges Meer!


Durch solche Häufung von Eigenschaftswörtern, die oft an und für
sich gesucht, oft unnöthigerweise in den Superlativ gesetzt sind, zeichnet
sich der Styl des zweiten Theils von Goethe's Faust vorzugsweise aus.
Da der Dichter das schlagende Beiwort nicht fand, so suchte er die fehlende
Qualität durch die Quantität zu ersetzen:


Fort, ihr edlen frohen Gäste
Zu dem seeisch! heitern Feste
Blinkend, wo die Zitterwellen
Ufernetzend leise schwellen!

Du droben ewig=Unveraltete,
Dreinamig=dreigestaltete,
Du Brusterweiternde, im Tiefsten=sinnige,
Du ruhig scheinende, gewaltsam innige!

Verbräunt Gestein, bemodert, widrig,
Spitzbögig, schnörkelhaftest, niedrig


Der Superlativ: schnörkelhaftest paßt für all' diese Adjectivbildungen
und Häufungen im zweiten Theile des Faust, die ebensoviele
Marotten eines altersschwachen Styles sind. Der Superlativ dient
in der Dichtung selten dazu, den Positiv zu verstärken; in der Regel giebt
er einen steifen, kanzleiartigen Anstrich und erinnert an submissest und
devotest. Der zweite Theil des „Faust“ wimmelt von Superlativen, die |#f0166 : 144|

bald unnöthig abschwächen, bald unnöthig hinaufschrauben. Solche
Wendungen, wie „der grauenvollsten uns'rer Höllen,“


Zerrt unnützeste Gespinnste
Lange sie an Licht und Luft,
Hoffnung herrlichster Gewinnste
Schleppt sie schneidend zu der Gruft.


und viele hundert andere sind von einer frostigen Mattigkeit. Eher vermag
der Komparativ den Ausdruck zu verstärken, man denke an
Klopstock's:


Und die Stille ward stiller


nur nicht, wenn er mit jener maaßlosen Verschwendung angewendet wird,
mit der ihn Schiller in einer höchst prosaisch gebauten und logisch nüchternen
Periode seiner „Künstler“ fast in jeden Vers streut. Hier bildet
er eine eigene Art des grammatischen Schwulstes:


Je reicher ihr den schnellen Blick vergnüget,
Je höhre, schönre Ordnungen der Geist
Jn einem Zauberbund durchflieget,
Jn einem schwelgenden Genuß umkreist,
Je weiter sich Gedanken und Gefühle,
Dem üppigeren Harmonieenspiele,
Dem reichern Strom der Schönheit aufgethan,
Je schönre Glieder aus dem Weltenplan,
Die jetzt verstümmelt seine Schöpfung schänden,
Sieht er die hohen Formen dann vollenden,
Je schönre Räthsel treten aus der Nacht,
Je reicher wird die Welt, die er umschließet,
Je breiter strömt das Meer, mit dem er fließet,
Je schwächer wird des Schicksals blinde Macht.
Je höher streben seine Triebe,
Je kleiner wird er selbst, je größer seine Liebe.
So führt ihn in verborgnem Lauf
Durch immer reinre Formen, reinre Töne
Durch immer höhre Höhe und immer schönre Schöne.
Der Dichtung Blumenleiter still hinauf.


Man weiß in der That nicht, ob jene Goethe'schen Superlative oder
diese Schiller'schen Komparative unerträglicher sind. Was nun das Zeitwort
betrifft, so können wir uns bei seiner Betrachtung kürzer fassen.
Hier ist die Hauptregel für den Dichter, Verba zu wählen, welche nicht |#f0167 : 145|

zu abstract verklingen, sondern sinnliche Anschaulichkeit und Lebendigkeit
haben; Zeitwörter, die für die Sinne malen, z. B. irgend einen Klang
für das Ohr darstellen, indem der deutsche Sprachschatz an ihnen außerordentlich
reich ist. Eine Häufung von Verben kann einen onomatopöischen
Anstrich hervorbringen, wie in dem bekannten Gedicht von
August Kopisch: „Die Heinzelmännchen“ oder in jener Stelle der
„Walpurgisnacht“:


Das drängt und stößt, das rauscht und klappert,
Das zischt und quirlt, das zieht und plappert,
Das leuchtet, sprüht und stinkt und brennt,
Ein wahres Hexenelement!


Die größere Anschaulichkeit wird erreicht, wenn das Verbum dem
Subject, das Gedanken oder Empfindungen ausdrückt, einen sinnlichen
Zustand oder eine sinnliche Thätigkeit zuschreibt:


Wie wühlet
Der Schmerz mir im Gebein.

(Goethe.)


Das Herz zerbricht in mir.

(Goethe.)


oder umgekehrt, wenn einem sinnlichen Subject ein geistiger Zustand oder
eine geistige Thätigkeit zugeschrieben wird:


Jm Winde bebt das Rohr.

(Lenau.)


Wo verdorrte Disteln nicken.

(Sallet.)


Das Grün des Frühling's mühte
Sich mit vergeb'nen Mühn.

(Rückert.)


Das Verbum gewinnt Kraft und Frische und Neuheit, wenn es die
Bestimmung, statt sie als ein todtes Vorwort vor das regierte Substantivum
zu setzen, in sich hineinnimmt. Statt zu sagen: „des Sturmes
Gesang tönt durch die glühende Wüste“ ist es kräftiger, mit Lenau zu
sagen:


Des Sturmes Gesang durchtönt die glühende Wüste*).
*)
Sallet im „Prometheus“ sagt: die Flamme mußte sie durchrasen, Gottes
Odem sollte sie durchleuchten. Ebenso Neubildungen mit ver, ent, zer: ich
habe mein Leben verträumt und vertrauert (Chamisso), das Schattenbild
zerflittert (Dingelstedt), mit um: umzischt von der Meerfluth (Freiligrath);
umflort
von eitlem Glaß (Lenau); umwölbt vom Portal (Geibel);
|#f0168 : 146|


Man vergleiche in demselben Gedicht: Glauben, Wissen, Handeln:


Flog mir an's Herz, das ihm entgegendrang.

Wo uns von ihm jed' Blümchen auf der Wiese
Ein Liebeszeichen froh entgegenhält.

Erwacht und Gottes süßen Namen singt
Und aus der Brust zu ihm hinüberdringt

Wo der Sturm, ein trunkener Sänger Gottes dahinbraust.


Durch die Fähigkeit des deutschen Zeitwortes, mit den verschiedensten
Bestimmungswörtern zusammenzuwachsen, wird es den Dichtern möglich,
aus ihm eine neue und reiche Flora von Wort-Varietäten zu ziehen.
Ueber die Zusammensetzung des Participiums mit Hauptwörtern oder
Beiwörtern haben wir schon oben bei den adjectivischen Bestimmungen
gesprochen.


Was schließlich die Partikeln betrifft, so kommt ihnen in der dichterischen
Rede nur ein sehr bescheidenes Plätzchen zu. Denn gerade der
logische Zusammenhang, den sie bezeichnen, und der sich in der Prosa gern
so klar wie möglich geltend macht, muß in der Poesie mehr herausgefühlt,
als ausdrücklich angezeigt werden. Solche doktrinaire Verbindungswörter,
wie daher, also, mithin, folglich, dennoch, insofern,
insoweit, dagegen weil, überhaupt
u. s. f. müssen aus der Poesie
gänzlich verbannt werden. Zeitbestimmungen mit „nachdem“ auszudrücken,
ist ebenfalls schwerfällig und undichterisch. Wenn der Poet ein
„je“ gebraucht, so muß er es vermeiden, ein gewissenhaftes „desto“ darauf
folgen zu lassen, lieber „je“ wiederholen, nur nicht in dem störenden
Uebermaaß, wie es die oben angeführte Stelle aus Schiller's „Künstlern“
zeigt. Die einfachste Partikel: „und“ ist wegen der Unscheinbarkeit und
Leichtigkeit der Verbindung für den Dichter die günstigste, sodaß man
ihre häufige Wiederholung unter dem Namen: Polysyndeton zu den
Figuren gerechnet hat. Jn der That machen alle guten Dichter von
dieser Figur einen häufigen Gebrauch:


der Strahl umspielt dein Haar (Geibel); mit ab: kein hirnlos Lieblingsliedlein
abzuklimpern (Sallet); mit auf: aufschwirrt der Wasservögel Schaar
(Gottschall); mit über: Verderben überflammt den Port (Gottschall) u. s. f.
|#f0169 : 147|

Und es wallet und siedet und brauset und zischt.

(Schiller.)


Und drinnen waltet
Die züchtige Hausfrau,
Und herrschet weise
Jm häuslichen Kreise,
Und lehret die Mädchen,
Und wehret dem Knaben
Und reget ohn' Ende
Die fleißigen Hände,
Und mehrt den Gewinn
Mit ordnendem Sinn u. s. f.

(Schiller.)


Durch das Polysyndeton wird eine größere Lebhaftigkeit des Ausdruckes
erreicht, die aber dann in's Schleppende verfällt, wenn die einzelnen
verbundenen Satzglieder zu weitgedehnt sind. Durch das Weglassen
des „Und“ an Stellen, wo es die Prosa setzen müßte, eine Figur, die man
Asyndeton genannt hat, gewinnt die Rede größere Kürze und Energie:


Wandle, strebe, dulde, schweige.

(Zedlitz.)


Kochend wie aus Ofens Rachen
Glühn die Lüfte, Balken krachen,
Pfosten stürzen, Fenster klirren,
Kinder jammern, Mütter irren,
Thiere wimmern
Unter Trümmern,
Alles rennet, rettet, flüchtet,
Taghell ist die Nacht gelichtet.

(Schiller.)


Störend und im höchsten Grade abschwächend wirken die kleineren
Verbindungswörter nun, ja, wohl u. a., wo sie ohne innere Nöthigung
zur Ausfüllung des Metrums gebraucht werden, am störendsten, wenn
sie in die Thesis oder an das Ende der Verszeile gesetzt sind oder gar
den Reim bilden helfen. Ueberhaupt schließt die Anschaulichkeit und
Lebendigkeit, welche der dichterische Ausdruck erstrebt, alle Wörter aus,
welche nur eine syntaktische Bedeutung haben oder in der Prosa einen
kunstvoll verschlungenen Periodenbau aufbauen helfen. Die dichterische
Syntax ist kühn, naturwüchsig, kurz, haßt große Perioden und weitschweifige
Verbindungen, liebt die Sprünge, die Lücken, läßt zu Ergänzungen
Raum und kann daher die vermittelnden Partikeln ebensowenig brauchen,
wie die unnöthigerweise ausfüllenden Wörter.

|#f0170 : 148|

Zweiter Abschnitt.

Bilder und Figuren.


Wie das Kunstwerk überhaupt in der schönen Mitte zwischen Geist
und Sinnenwelt liegt: so strebt auch der dichterische Ausdruck diese Mitte
darzustellen, indem er sowohl das Geistige versinnlicht, als auch das
Sinnliche vergeistigt. Dies geschieht durch das Bild, welches daher
kein müßiger Schmuck der Rede, sondern eine innere Nothwendigkeit des
dichterischen Schaffens ist. Das Bild ist nur die Abbreviatur dessen,
was die Dichtung im Ganzen und Großen ist. Die ganze Sprache ist,
auch in ihren abstrakten Wendungen, ein Schatz abgeblaßter Bilder, die
ihre ursprüngliche sinnliche Bedeutung so verloren haben, daß man bei
ihrem Gebrauch sich nicht mehr derselben erinnert, z. B. begreifen,
entfalten.
Sobald der Mensch sich mehr nach innen wendet und
immer neue Welten des geistigen Lebens entdeckt, überträgt er unwillkürlich
die Bezeichnungen der realen Welt auf die Gegenstände jenes idealen
Reiches. Derselbe Jnstinkt, der die Sprache in ihrem Entwickelungsgange
bestimmt, bestimmt auch den Dichter in seinem begeisterten Schaffen.
Er sucht nicht nach Bildern; sie strömen ihm zu, ebenso wie Vers
und Reim ihn tragen, ihn inspiriren, nicht hemmen und lähmen. Er
denkt, nicht blos in Tönen, wie der Dichter sagt, sondern auch in Bildern
─ Rhythmus und Reim sind die Musik, das Bild ist die
Malerei der Sprache.


Die Lehre von den Bildern und Figuren ist mit einem Aufwande von
großem Scharfsinne und mühseliger Gelehrsamkeit bis in's Einzelne ausgebildet
worden. Während Aristoteles, Cicero, Quinctilian nur
einzelne zerstreute Winke über den bildlichen Ausdruck geben, haben
spätere Rhetoren und Grammatiker nicht blos alle einzelnen Blumen
aus dem Kranze der Sprache herausgerissen, sondern auch diese Blumen
selbst wieder zerrupft und zerpflückt und jedes Blumenblättchen einzeln
in ihr rhetorisches Herbarium gelegt. Ueber dieser Zerfaserung aller
erdenklichen sprachlichen Wendungen, wie sie z. B. im dritten und vierten
Buche von Scaliger's Poetik oder in der Figurenlehre des Johannes
Bentzius
zu finden ist, verliert man die Hauptgesichtspunkte, das
Wesentliche und Unwesentliche, ganz aus den Augen, indem dieser haarspaltende |#f0171 : 149|

Scholasticismus, der selbst die gefrorenen Blumen der Grammatik
und Syntax mit in seinem Register führt, über der mikroskopischen
Feinheit der Unterschiede ganz ihre tiefere Begründung vergißt*). Später
ist diese Lehre von den Tropen und Figuren eher vernachlässigt worden
und auf einige Gemeinplätze beschränkt, die bei der Tageskritik in
Curs blieben. Sie bedarf einer gründlichen Reform, zu der leider die
Grenzen, die diesem Werke vorgezeichnet sind, nicht den genügenden
Raum gewähren**).


Man unterscheidet zunächst Bilder und Figuren, und zwar, indem
man unter den ersteren alle jene Wendungen versteht, in denen das Wort
nicht in seiner eigentlichen, sondern in einer übertragenen Bedeutung
gebraucht wird, unter den letzteren alle anderen, vom Gewöhnlichen
abweichenden Wendungen der Sprache und des Gedankens. Doch scheint
uns diese Erklärung des Unterschiedes nicht durchgreifend genug, indem
z. B. die Vergleichung, die Nichts ist, als ein ausgeführtes Bild,
nicht zu den Bildern gerechnet werden könnte, weil in ihr keine Uebertragung
vorkommt. Wir verstehen, dem Wortlaut gemäß, unter Bild die
Belebung des Ausdruckes für die Phantasie, welche das Sinnliche entweder
mittelbar oder unmittelbar vergeistigt, das Geistige versinnlicht,
eine Erscheinung durch die andere erhellt, während die Figur (von den
Griechen schonοχήμα genannt) die Belebung des Ausdruckes für die

*)
Scaliger (Poetices liber III. cap. XXIX. u. flgde.) zählt, nachdem er sich
gerühmt, der erste zu sein, der die Figuren in bestimmte Rubriken gebracht, u. a. folgende
auf: significatio, demonstratio, sermocinatio, attemperatio, moderatio et correctio,
asseveratio, conditio, exclamatio, repetitio, frequentatio, acervatio, celeritas,
evasio, commoratio, coniunctio, attributio, anticipatio, assimilatio, exemplum,
imago, translatio, collatio, comparatio, retributio, substitutio, allegoria, praescriptio,
agnominatio und so mit Grazie noch durch 30 weitere Kapitel; Joannes Bentzius
in seinen: de figuris libri duo 1594 ist ebenso unerschöpflich in verwirrender Aufzählung.
Mit mehr Takt, Geschmack und Beschränkung verfährt Marcus Rambler
in: Elocutionis rhetoricae libri duo (1598).
**)
Eine solche Reform ist neuerdings versucht worden von Guethe: Ueber die
wirklichen und scheinbaren Fehler der bildlichen Darstellung überhaupt
und der Metapher insbesondere
(1844); sie enthält manches Beherzigenswerthe,
obgleich sie sich ebenfalls auf zu feine Distinktionen einläßt und in ihren
Rechtfertigungsgründen des scheinbar Verfehlten zu weit geht.
|#f0172 : 150|

Empfindung und den Verstand ist, welche den Gedanken durch bestimmte
Formen der Stellung und Wendung lebendiger und eindringlicher
macht. Das Bild geht aus der Jntuition des Dichters; die Figur
aus seinem Pathos hervor. Der unendliche Reichthum der Beziehungen,
der für die Menge versteckt, für den Dichter offenbar ist, ruft
das Bild hervor. Weil der Genius im Centrum der Welt ist, sieht er
Alles, auch das scheinbar Entlegenste, in innigem Zusammenhang und
schaut in zwei Dinge ein Drittes, eine höhere Gemeinsamkeit hinein.
So überwindet er die Starrheit und Gebundenheit der Materie und ihre
Fremdheit, dem Geiste gegenüber, und umgekehrt, die Gleichgültigkeit
der Erscheinungen gegeneinander; er bewegt die todte Welt durch den
lebendigen Fluß seines Denkens und Empfindens. Das Bild ist der
lebensvolle Exponent für die Verhältnisse der geistigen und Erscheinungswelt,
ein Exponent, den nur der Dichter findet. Die Figur dagegen stellt
nur die Ausdrücke in bestimmte Schemate der Rede, welche von den
Rhetorikern nicht erfunden sind, sondern nur von der Empfindung und
Leidenschaft. Das Bild ist sachlich, die Figur nur sprachlich, das
Bild poetisch im engeren Sinne, die Figur mehr rhetorisch. Deshalb
haben die Rhetoriker die ganze wuchernde Flora von Figuren klassificirt,
den Bildern dagegen nur eine geringe Aufmerksamkeit zugewendet.


A. Bilder.

1. Die Vergleichung.


Die Vergleichung stellt die verglichenen Gegenstände ausdrücklich
nebeneinander. Das Bild, das sie neben den Gegenstand setzt, wird mit
Behagen ausgemalt, und zwar nicht blos in jenem Zuge, welcher das
tertium comparationis bildet, sondern auch in anderen Zügen, welche
mit ihm in keinem Zusammenhang stehen.


Die Vergleichungen, welche Cicero lumina orationis, die Lichter der
Rede, nennt, mögen in der Prosa oft zur Erläuterung dienen, indem sie
durch irgend eine Analogie den aufgestellten Satz einleuchtender machen.
Die vergleichende Thätigkeit des Verstandes, welche die den Gegenständen
gemeinsamen Bestimmungen erfaßt und den einen durch den andern
erhellt, bedarf indeß gerade jener Schärfe und Präcision, welche dem
freien Spiel der dichterischen Phantasie bei ihren Gleichnissen entbehrlich |#f0173 : 151|

ist. Denn wenn auch die dichterische Vergleichung ein helleres und lebhafteres
Licht auf den Gegenstand fallen läßt, so hat doch das Bild in
ihr seinen selbstständigen Reiz, und gerade dadurch unterscheidet sie sich
von den anderen bildlichen Wendungen. Das tertium comparationis
ist hier nicht blos ein Punkt der Vergleichung, sondern auch ein Punkt
der Verknüpfung für zwei Anschauungen, wodurch es dem Dichter möglich
gemacht wird, den Kreis seiner Schilderung zu erweitern und jenes
freieren Schwunges der Phantasie zu genießen, der Nahes und Fernes
verknüpft. Giebt nicht die epische Vergleichung dem Sänger der Jlias
ein anmuthiges Recht, das von den blutigen Bildern der Schlacht ermüdete
Auge auf irgend einem stilleren idyllischen Bilde ausruhen zu lassen,
das uns eine Scene aus dem Thierleben oder aus dem Lebenskreise des
Landmannes in heiterem, landschaftlichem Rahmen entrollt? Und verweilt
Homer nicht bei dieser idyllischen Schilderung mit dem ausruhenden
Behagen eines Rossetummlers, der sein entschirrtes Gespann, matt
vom Kampfe, auf fröhlicher Weide grasen läßt? Nicht zur Verschönerung
des Ausdruckes,
sondern zur Bereicherung der Anschauungen
dient die Vergleichung.


Hieraus geht schon hervor, daß dies verweilende Bild vorzugsweise
der verweilenden Dichtgattung, dem Epos, angemessen ist, und wieder
vorzugsweise dem antiken Epos, weil die Vergleichung als das plastische
Bild
dem plastischen Style des Alterthums entspricht. Ja man
könnte das antike Epos, besonders die Jlias, mit dem Schilde des Achilleus
selbst vergleichen, da sich, wie um diesen die heiteren Reliefs des
Bildners, um dasselbe ein Kranz plastischer Vergleichungen hinzieht.
Auch das neuere Epos folgt in Bezug auf behagliche Ausmalung dem
antiken Muster:


Wie der wandernde Mann, der vor dem Sinken der Sonne
Sie noch einmal in's Aug', die schnellverschwindende, faßte,
Dann im dunkeln Gebüsch und an der Seite des Felsens
Schweben siehet ihr Bild, wohin er die Blicke nur wendet,
Eilet es vor und glänzt und schwankt in herrlichen Farben:
So bewegte vor Hermann die liebliche Bildung des Mädchens
Sanft sich vorbei und schien dem Pfad in's Getreide zu folgen.

Goethe, Hermann und Dorothea.


Diese Vergleichung giebt uns zugleich ein schlagendes Beispiel von |#f0174 : 152|

der selbstständigen Ausmalung des Bildes. Hermann sieht Dorothea
einen Weg in's Getreide verfolgen ─ das ist das unmittelbare Bild,
das uns der Dichter vorführt. Jn dem Bilde der Vergleichung dagegen,
das sich daran knüpft, haben wir sogar eine ganz verschiedene Scenerie,
dunkle Gebüsche, Felswände; es ist, selbst was den eigentlichen
Vergleichungspunkt betrifft, in einer erweiternden Weise ausgeführt;
kurz, es ist wie ein zweites Bild an das erste geheftet. Das ist das
Wesen der echten, epischen Vergleichung. So vergleicht Homer das
Blut, das dem Menelaos über die Schenkel fließt, mit dem Purpur, mit
welchem das Elfenbein gefärbt wird; aber er begnügt sich nicht damit,
den Vergleichungspunkt der Farbe hinzustellen; er giebt ein vollkommenes,
mit vielen einzelnen Zügen ausgestattetes Genrebild. Wir sehen Frauen
„aus Mäonien oder Karien“ Elfenbein mit Purpur färben „zum Gebiß
der Pferde;“ wir sehen dies Elfenbein verwahrt in der Kammer liegen,
obgleich viele Reiter es zu tragen wünschen; verwahrt für einen König
als Schmuck dem Roß zur Zierde, dem Reiter zum Ruhme. Jn der
That vergessen wir hierüber die Wunde des Menelaos; aber liegt nicht
in diesem Vergessen gerade ein eigenthümlicher Reiz, jene echt epische
Beruhigung, welche durch einen weiten, Vieles zugleich schauenden Weltblick
hervorgerufen wird?


Die Bilder aus dem Thierreiche liegen einer naiven Weltanschauung
am nächsten. Sie glaubt die Vorzüge ihrer kämpfenden Helden zu erheben,
wenn sie dieselben mit den Vorzügen der Koryphäen der Thierwelt
vergleicht. Jn der That repräsentirt jedes Thier eine Eigenschaft in
einem so hervorragenden Grade, daß die Fabel es wagen kann, das
Thier für diese Eigenschaft zu setzen. Firdusi sagt sehr naiv:


Kein Mensch ist er, dem Elephanten
Vergleich' ich diesen niemals Uebermannten.


Homer vergleicht den Achilleus mit einem Löwen u. s. f. Jm
Uebrigen aber entnimmt er seine Vergleichungen dem ganzen Kulturleben
seiner Zeit, ein nachahmenswerthes Muster für die Epiker aller
Zeiten, welche in den Vergleichungen noch ein Mittel finden können, das
Kulturgemälde, das zu entrollen ihre Aufgabe ist, zu vervollständigen.
Da es indeß der Charakter der epischen Vergleichung mit sich bringt, daß
sie sowohl die Aufmerksamkeit von dem eigentlichen Object der Handlung |#f0175 : 153|

ablenkt, als auch einen größeren Raum für ihre selbstständige Entfaltung
in Anspruch nimmt: so ist gerade hier dem Dichter die größte Sparsamkeit
in Bezug auf ihre Anwendung anzurathen, indem eine Häufung so
ausgeführter Vergleichungen das Epos schleppend machen und das
Jnteresse des Lesers verwirren würde. Jn dieser künstlerischen Oekonomie
ist Goethe im „Hermann und Dorothea“ mit preiswürdigem Beispiele
vorangegangen.


Jm Gegensatz hierzu finden sich Vergleichungen mehr lyrischer Art
gehäuft bei den orientalischen und spanischen Dichtern bis zu verwirrender
und blendender Pracht. Die reiche Phantasie erfreut sich an ihrem
eigenen kaleidoskopischen Spiel und triumphirt, indem sie einen Stein
nach dem andern an ihren blitzenden Schmuck reiht und dabei alle
erdenklichen Kombinationen durchläuft. Hierzu kommt, daß die orientalische
Weltanschauung, in gährender Natursymbolik befangen, das Subject
durch eine Fülle von Prädikaten der Erkenntniß näher zu bringen
sucht und eine Menge von Vergleichungen wie Kerzen vor dem einen
Bilde ansteckt, die indeß mehr blenden als erleuchten. Man vergleiche
nur den „Firdusi,“ das „Hohe Lied“ und selbst die Dramen Calderon's.
Wenngleich die hebräische Poesie im Ganzen in ihren Vergleichungen
kürzer und schlagender ist, als das griechische und römische Epos: so finden
sich doch auch in ihr Stellen, in denen das vergleichende Bild Nebenbestimmungen
ausführt, die durchaus selbstständig sind und nicht dazu
dienen, die Aehnlichkeit mit dem verglichenen Bilde zu vervollständigen.
So wenn es im Hohen Liede heißt: „Dein Haus ist wie der Thurm
David's mit Brustwehr gebaut, daran tausend Schilde hangen und
allerlei Waffen der Starken. Deine zwo Brüste sind zwo junge Rehzwillinge,
die unter Rosen weiden, bis der Tag kühle werde und die
Schatten weichen.“


Wenn die epische Vergleichung die Anschaulichkeit erhöht: so sucht
die lyrische mehr auf die Stimmung zu wirken. Sie erreicht dies, indem
das tertium comparationis bei ihr mehr innerlicher, als äußerlicher
Art ist, mehr der Empfindung, als der Anschauung einleuchtend. Am
vortrefflichsten sind Vergleichungen, in denen sich Beides vereinigt:

|#f0176 : 154|

Der Buchenwald ist herbstlich schon geröthet,
Sowie ein Kranker, der sich neigt zum Sterben,
Wenn flüchtig noch sich seine Wangen färben.

Das Bächlein zieht und rieselt kaum zu hören
Das Thal hinab, und seine Wellen gleiten,
Wie durch das Sterbgemach die Freunde schreiten,
Den letzten Traum des Lebens nicht zu stören.

Lenau.


Jn diesen schönen Vergleichungen ist nicht nur das tertium comparationis
durch seine sinnliche Wahrheit einleuchtend, sondern die Bilder
hauchen selbst jene melancholische Stimmung aus, welche die Einheit des
ganzen Gedichtes ist. Das Dichtergemüth, das in eine bestimmte
Situation versenkt ist, wird von selbst zu Vergleichungen greifen, welche
aus ihr hervorgehn und z. B. das Naturbild mit der Stimmung der
Seele verknüpfen. So singt Meissner „am Meere“:


Kaum daß ein leises Weh
Durchgleitet mein Gemüth,
Wie durch die stumme See
Ein weißes Segel zieht.


Jn den Vergleichungen Ossian's herrscht eine aller plastischen
Anschauung widersprechende Gleichsetzung des Naturbildes und der
Gemüthsstimmung, und zwar ist es bei ihm selten die Thierwelt, meist
die landschaftliche Natur mit ihrer wechselnden Beleuchtung, welche ihm
den Stoff seiner Bilder giebt. Wenn Homer seine Helden mit den
Löwen, Firdusi mit den Elephanten vergleicht: so vergleicht sie Ossian
mit der Sonne, mit der Wolke, mit dem Nebel. Nur ein
Gemüth, das bereits seine eigene Stimmung in die Natur hineingeschaut,
kann solche Bilder wieder aus ihr herausgreifen. Wenn z. B.
Ossian sagt: „Angenehm sind die Worte des Gesanges und lieblich sind
die Geschichten vergangener Zeiten. Sie sind wie der Thau des Morgens
auf dem Rehhügel, wenn die Sonne schwach auf seiner Seite
schimmert und der Teich unbewegt und blau in dem Thale steht“ ─ so
liegt hier das tertium comparationis in der melancholischen Lieblichkeit
des Eindruckes, die rein subjektiver Art ist, und nur in einem Nebenzug,
im schwachen Schimmer der Sonne, liegt ein Halt für die Anschaulichkeit
des Bildes.

|#f0177 : 155|


Jm Drama sind ausgeführte Vergleichungen ein offenbarer Fehler,
weil sie die innere und äußere Handlung hemmen. Auch die Rechtfertigung
Hegel's, daß ein Gemüth, das sich ihnen hingiebt, sich dadurch als
eine edle Natur zeige, die über der bestimmten Leidenschaft und Situation
steht, scheint uns gesucht. Shakespeare ist zwar reich an Vergleichungen;
aber diese Vergleichungen sind eigentlich nur aufgeblätterte
Metaphern!
Sie haben alle unmittelbare Schlagkraft, und
niemals, selbst in den Zuständen der Reflexion, läßt sich der große Dramatiker
auf jene epische Vergleichungsweise ein, welche im Ausmalen
der Nebenbestimmungen schwelgt. Jeder Zug ist zugleich eine schlagende
Beziehung,
und dadurch ist das Behagen der eigentlichen
Vergleichung aufgelöst.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Nennung. Quellenangabe Person Aeschylus.0 Abgrenzung Vergleichung als Parallelkategorie.


2. Die Metapher.


Die Metapher ist eine koncentrirte Vergleichung, bei welcher statt
des Gegenstandes, der verglichen wird, unmittelbar derjenige gesetzt
wird, mit dem die Vergleichung Statt findet ─ eine kühne Metamorphose
der Phantasie*). Auf der Metapher beruht vorzugsweise Anmuth,
Kraft und Glanz der Rede**);

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, keine Bewertung. Explizite Paraphrase. 1-3-1-8 Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als verkürzte Vergleichung. Abgrenzung Vergleichung als Parallelkategorie. Anmerkung: Verweis auf Quintilian in Fußnote, darum als paraphras. Sekundärlit. annotiert Quintilian VIII, 6, 4 wie sie selbst im gewöhnlichen Leben, in
der Redeweise des Volkes, in den Ausbrüchen der Leidenschaft in Anwendung
kommt, so strömt sie einer reichen Phantasie auch im reichen Maaße
zu, ohne Zwang und Gewaltsamkeit.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Qualitative Unterscheidung prosaischer und poetischer Metaphern. Sie ist das dichterische Bild
κατ' ἐξοχήν, und die überwiegende Mehrzahl der von den Dichtern angewendeten
Bilder muß zu den Metaphern gerechnet werden.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Wir
haben oben gesehen, wie die Sprache selbst reich ist an inkarnirten Metaphern,
die ihre sinnliche Blüthe bereits gegen ihre geistige Bedeutung
verloren haben; wir haben Adjektiva und Verba von metaphorischer
Kraft erwähnt. Der naive Vorgang der Sprach-Entwickelung selbst
beweist zur Genüge, daß die Metapher nicht eine leere Zierde des dichterischen
Ausdruckes, sondern eine innere Nothwendigkeit desselben ist.

*)
In totum autem metaphora brevior est similitudo, eoque distat, quod illa
comparatur rei, quam volumus suprimere, haec pro ipsa re dicitur. Quint. VIII. 6. 9.
**)
Metaphora cum ita est ab ipsa nobis concessa natura, ut indocti quoque ac
non sentientes ea frequenter utantur, tum ita iucunda atque nitida, ut in oratione
quamlibet docta, proprio tamen lumine eluceat. Quint. VIII, 6, 4.
|#f0178 : 156|

Schon die prosaische Rede kann durch die Metapher, wenn sie richtig und
schlagend angewendet ist, an Energie und Kürze gewinnen. Sie ist eine
geistvolle Abbreviatur, und die Schriftsteller, welche reich an Metaphern
sind, gehören wahrlich nicht zu den weitschweifigen. Für die Dichtung
aber ist die Metapher die wahre Blume des Ausdruckes, nicht im Sinne
eines müßigen, hineingewirkten und gestickten Schmuckes, sondern als
der nothwendige und schöne Höhepunkt seiner Entfaltung.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Metapher als vorsprachliches und sprachimmanentes Phänomen. Qualitative Unterscheidung prosaischer und poetischer Metaphern. Wozu, könnte
man fragen, die Vertauschung des eigentlichen Ausdruckes mit dem
uneigentlichen, da jener doch größere Klarheit und Deutlichkeit besitzt?
Will die dichterische Rede sich blos durch diesen äußerlichen Zierrath von
der prosaischen unterscheiden, sich künstlich über dieselbe erheben? Oder
soll dieselbe Neigung der müßigen Phantasie, die sich im Errathen des
Rebus und des Räthsels ein Fest bereitet, auch auf dem Gebiete der
Dichtkunst durch die Metapher befriedigt werden? Nein, nicht äußerliche
Rücksichten bestimmen den Dichter, die Metaphern in seinen Werken
etwa so anzubringen, wie man bunte Laternen in einem illuminirten
Garten an die Bäume hängt; auch wäre die Metapher fehlerhaft, die
man wie ein Räthsel errathen müßte, die nicht ihre Bedeutung klar auf
der Stirne trüge! Eine innere Nöthigung treibt die Phantasie zu dieser
Vertauschung von Bild und Bedeutung, zu dieser unmittelbaren Versinnlichung
des Geistigen und Vergeistigung des Sinnlichen, zu dieser beziehungsreichen
Verwechslung der Erscheinungen. Jedes Dichtwerk ist ein
bedeutungsvolles Bild, und was das Dichtwerk im Großen, ist die Metapher
im Kleinen. Man kann die Metapher nur für überflüssig erklären,
wenn man die Poesie für überflüssig erklärt.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als Ersetzung. Metapher als vorsprachliches und sprachimmanentes Phänomen. Qualitative Unterscheidung prosaischer und poetischer Metaphern. Jhre innere Nothwendigkeit
für den Dichter zeigt schon der Dichtproceß selbst ─ oder wer wollte glauben,
daß ein Shakespeare mühsam auf die Metaphernjagd ausgegangen?
Wer weiß nicht, daß der echte Dichter in Bildern denkt, daß sich ihm
Alles unter der Hand in Metapherngold verwandelt?

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Nennung. Quellenangabe Person Aeschylus.0 Metapher als vorsprachliches Phänomen. Qualitative Unterscheidung prosaischer und poetischer Metaphern. Man wird uns
Homer, Sophokles und Goethe als Dichter, die an Metaphern arm sind,
anführen;

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Nennung. Quellenangabe mehrere Personen.1 Quellenangabe Personengruppe. Anmerkung: Wertung nicht annotierbar man wird sie den orientalischen Poeten, den Hymnensängern
und Propheten der Bibel, einem Aeschylos und Pindar, einem Calderon,

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Nennung. Quellenangabe Personengruppe. Quellenangabe mehrere Personen. Anmerkung: Personen: orientalische Poeten, Hymnensänger und Propheten der Bibel, Aeschylus, Pindar, Calderon
Shakespeare und Jean Paul und den modernen Lyrikern, besonders der
österreichischen Dichterschule, entgegenstellen, bei denen allen die Metapherflora
in üppigster Blüthe steht.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Nennung. Quellenangabe mehrere Personen.0 Quellenangabe Personengruppe. Anmerkung: Personen: Shakespeare, Jean Paul, moderne Lyriker, österreichische Dichterschule Aber abgesehn davon, daß sich auch bei |#f0179 : 157|

jenen großen Poeten Metaphern finden, die im streng plastischen und
epischen Styl durch die Vergleichung und Personifikation ersetzt werden
können ─ wird jede Dichtung, in welcher Empfindung und besonders der
Gedanken vorwiegt, die Metapher nicht entbehren können,

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Qualitative Unterscheidung prosaischer und poetischer Metaphern. Anmerkung: Anwendung der Metapher (Annotation?) wie auch
Goethe in seiner metapherreichsten Dichtung, dem Faust, bewiesen!

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Nennung. Quellenangabe Person Goethe. Quellenangabe Werk Faust. Abgrenzung nn. Qualitative Unterscheidung prosaischer und poetischer Metaphern. Anmerkung: Anwendung der Metapher (Annotation?) Die
bloße Deutlichkeit des Gedankens, der sich nicht mit einem Bilde vermählt,
würde zur unpoetischen Nüchternheit werden, und wenn auch die
einfache Empfindung des Herzens sich ohne metaphorischen Schmuck mit
großer Jnnigkeit aussprechen kann, so ist dies doch auf einen kleineren
Kreis von Empfindungen beschränkt, die in ihrer allgemein gültigen
Sittlichkeit uns, wenn sie nur erwähnt werden, mit feierlicher Rührung
erfüllen.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Qualitative Unterscheidung prosaischer und poetischer Metaphern. So einfach innig kann man mit Virgil die Gattin und das
Vaterland singen*);

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werkgruppe.-6 Anmerkung: hier als Zitat expl. annotiert, weil Zitat in Fußnote (2 Werke) aber schon das naive Volkslied gebraucht, wenn es
die Geliebte verherrlicht, beziehungsreichere Wendungen.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Nennung. Quellenangabe Werkgruppe. Qualitative Unterscheidung prosaischer und poetischer Metaphern. Anmerkung: Werkgr.: Volkslied Natürlich
sprechen wir hier immer von der Metapher, die der Genius gebraucht
mit Maaß und Takt, ohne Ueberladung; denn ein sinnloses Aufeinanderhäufen
derselben kann den künstlerischen Eindruck ganz aufheben. Was
aber ihren falschen Gebrauch, ihre Schiefe und Mattheit betrifft: so
werden wir hierüber im nächsten Kapitel sprechen. Hier genügt es, hervorzuheben,
daß sich alle Vorzüge der Metapher in ihrer Schlagkraft
zusammenfassen, indem Sinn und Bild wie von Ewigkeit an mit einander
getraut werden. Solche Metaphern sind schöpferisch, und sie
bereichern den Sprachschatz. Jn äußerlicher Hinsicht belebt die Metapher
den Ausdruck; sie dient zur Verstärkung besonders an Stellen
des Affektes und der Leidenschaft, welche selbst eine Häufung der Metaphern
vertragen. Entweder vertieft sich das Gemüth in eine Vorstellung,
die es in eine Fülle von Bildern auseinanderlegt, oder sein Hinundherschwanken
zwischen verschiedenen Vorstellungen prägt sich in diesem Wechsel

*)
Man vergleiche z. B.
Te, dulcis coniux, te solo in litore secum
Te veniente die, te decedente canebat

Virg. Georg V. 465.


Sternitur infelix alieno volnere, coelumque
Adspicit et dulcis moriens reminiscitur Argos.

Aen. X. 781.

|#f0180 : 158|

der Bilder aus. Dann giebt die Metapher dem Ausdruck Adel,
Würde und vor allem Neuheit, indem die geniale Phantasie gerade
durch die Metapher sprachschöpferisch wirkt. Gegen die einfache Deutlichkeit
des eigentlichen Ausdruckes giebt die Metapher eine höhere Klarheit,
indem sie das Geistige, das blos für den begreifenden Verstand
deutlich ist, auch der Anschauung näher bringt, und statt der einfachen
Jnnigkeit der Empfindung, die der eigentliche Ausdruck bezeichnen kann,
eröffnet sie eine reichere Welt der Stimmung, die aus ihrem Bilde uns
anweht. Schließlich kann sie auch als ein Erzeugniß der frei und üppig
spielenden Phantasie, in einzelnen Gattungen, besonders im Phantastischen
und Komischen, ihr gutes Recht haben, indem wir uns an der
glänzenden Taschenspielerei des Witzes erquicken, der alle festen Dinge
der Welt in seinem glänzenden Strom mit verflüssigt und, indem er eins
in das andere verkleidet, durch diese bunte Fastnacht uns auf das
Anmuthigste beschäftigt.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Es ist dies die letzte Konsequenz jener uns
angeborenen Freude an aufgefundenen Aehnlichkeiten und Vergleichungen,
die schon Aristoteles erwähnt, jener Freude, „einen Gegenstand im
andern wahrzunehmen,“ die uns zugleich ein stolzes Gefühl von der freien
Macht unseres Geistes giebt.

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, positiv aufgreifende Bewertung. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Person Aristoteles. Quellenannahme implizit Werk. Anmerkung: impl. Werk: ???


Wir können vier Arten von Metaphern, je nach den Gegenständen,
die miteinander vertauscht werden, unterscheiden.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als Ersetzung. Die erste Art setzt
einen sinnlichen Gegenstand für den andern,

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als Ersetzung. z. B. ein Wald von Masten,
das Gold der Sonne, und ist besonders der naiven Dichtung eigen.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Explikation Metapher als Ersetzung. Nennung. Quellenangabe Werkgruppe. Anmerkung: Werkgruppe: naive Dichtung Jn
der Regel findet hierbei eine Art Standeserhöhung statt, indem eine
Erscheinung aus einem niedern Kreise, z. B. aus dem unorganischen
Leben, in einen höheren, in das organische hinübergepflanzt wird

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als Ersetzung. Quellenangabe Werkgruppe. Anmerkung: Werkgruppe: naive Dichtung z. B.
„die Schärfe meines Schwertes frißt das Hirn des Löwen und trinkt
dunkles Blut des Mächtigen.“ „Parturiunt montes“ Horaz.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Person Horaz. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Ersetzung.Horaz: Ars Poetica 139 „Die
Woge bäumt sich am Gestade“ Ossian.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Person nn. Quellenannahme implizit Werk. Explikation Metapher als Ersetzung. Anmerkung: impl. Werk: ??? Heine singt dagegen:

Die blauen Veilchen der Aeugelein,
Die rothen Rosen der Wängelein,
Die weißen Lilien der Händchen klein ─

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person nn. Quellenannahme implizit Werk. Explikation Metapher als Ersetzung. Anmerkung: impl. Werk: Heinrich Heine: Die blauen Veilchen der Äugelein


und spricht vom vollblühenden Mond.


Wo dichtgewölbt des Geisblatts üpp'ge Schatten
Mit Hagedorn und mit Jasmin sich gatten.

Sommernachtstraum.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Ersetzung. Heinrich Heine: Atta Troll. Ein Sommernachtstraum https://textgridrep.org/browse/-/browse/ptkh_0 |#f0181 : 159|

Schling', o Strom, deinen blauen Lauf
Durch die enge Fläche von Lutha;
Ueber ihr laß den grünen Hang
Niederhangen vom Hügel;
Laß am Mittag ihn schauen die Sonne,
Dort steht auf dem Felsen die Distel,
Und sie schüttelt im Winde den Bart,
Jhr schwellend Haupt senkt nieder die Blume
Und wogt zu Zeiten im Lufthauch.

Ossian.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Person nn. Quellenannahme implizit Werk. Explikation Metapher als Ersetzung. Anmerkung: impl. Werk: ???

Hör', es splittern die Säulen
Ewig grüner Paläste.

Goethe, Faust.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person Goethe. Quellenangabe Werk Faust. Explikation Metapher als Ersetzung.

The sunbeows rays still arch
The torrent with the many hues of heaven,
And roll the sheeted silvers waving column
O' er the crag's headlong perpendicular.

Byron, Manfred.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Ersetzung.George Byron: Manfred

Neigt sich herüber das Mondgesicht,
Lieblich, ein schlafendes Sonnenlicht.

Lingg.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person nn. Quellenannahme implizit Werk. Explikation Metapher als Ersetzung. Anmerkung: impl. Werk: ???

Horch, von den Zweigen träuft der Vögel Sang.

Anastasius Grün.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person nn. Quellenannahme implizit Werk. Explikation Metapher als Ersetzung. Anmerkung: implizites Werk: Anastasius Grün: Die Muse vor Gericht


Hierher gehören jene metaphorischen Spielereien der spanischen Dichter,
in denen Erd' und Himmel, Erd' und Wasser, Blumen und Wellen,
Sterne und Blumen mit einander verglichen und vertauscht werden, wie
z. B. in Calderon's „standhaftem Prinzen.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Nennung. Quellenangabe Personengruppe. #m1-3-2-3 Quellenangabe Werk nn. Anmerkung: spanische Dichter als Personen aufgeführt


Die zweite Art der Metapher vergeistigt das Sinnliche,
indem sie der Natur menschliche Empfindungen, Affekte, Thätigkeit und
Zwecke unterschiebt,

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als Ersetzung. z. B. der Sturmwind zürnt.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Explikation Metapher als Ersetzung. Diese Metapher
ist die einfachste und koncentrirteste Art der Personifikation.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Abgrenzung Personifikation als Parallelkategorie. Anmerkung: Parallelkategorie für diese Form der Metapher Ueberreich
an ihr sind die orientalischen Dichter, die Sänger der Bibel, Ossian

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Nennung. Quellenangabe Personengruppe. Explikation Metapher als Ersetzung. Abgrenzung Personifikation als Parallelkategorie. Anmerkung: Personen: oriental. Dichter, Sänger der Bibel, Ossian und
viele moderne Dichter, z. B. Lenau und Grün.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Nennung. Quellenangabe Personengruppe. Explikation Metapher als Ersetzung. Abgrenzung Personifikation als Parallelkategorie. Anmerkung: Personen: moderne Dichter, Lenau, Grün Der Aufschwung der
Hymne und Ode braucht diese Metapher ebenso, wie das stimmungsvolle
Gedicht, das in das Naturbild die Seele des Dichters hineinzaubert!

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch.text Quellenangabe Werkgruppe.-0 Explikation Metapher als Ersetzung. Abgrenzung Personifikation als Parallelkategorie. Anmerkung: Werke: Hymne, Ode, stimmungsvolles Gedicht
Wie beseelen die hebräischen Poeten die Welt mit ihrem Hymnenschwung!

[Annotation] Textebene Primärliteratur, positives Beispiel. Nennung. Quellenangabe Personengruppe. Quellenangabe Werkgruppe. Explikation Metapher als Ersetzung. Abgrenzung Personifikation als Parallelkategorie. Anmerkung: Personengruppe: hebräische Poeten - Werkgruppe: Hymnen
Die Erde freut sich; die Menge der Jnseln ist fröhlich!

[Annotation] Textebene Primärliteratur, positives Beispiel. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Personengruppe. Quellenangabe Werkgruppe. Explikation Metapher als Ersetzung. Abgrenzung Personifikation als Parallelkategorie. Anmerkung: Personengr.: hebräische Dichter - Werkgruppe: Hymnen
Jesaias läßt die Wüste, die Einöde, die Anger sich freuen, die Tiefe herbeirufen |#f0182 : 160|

die Tiefe mit dem Schall ihrer Fluthen.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Ersetzung. Abgrenzung Personifikation als Parallelkategorie. Anmerkung: Person und Werk: Jesaia „Die Pest ging vor
ihm her; die Wasser sahen dich und erschraken; die Berge sahen dich und
zitterten.“

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. 1-2-1-1 Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Ersetzung. Abgrenzung Personifikation als Parallelkategorie. Anmerkung: Person/Werk: Jesaia Hierher gehören Wendungen, wie der fundus mendax des
Horaz und zahlreiche von uns im vorigen Kapitel angeführte Adjectiva:

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Nennung. Quellenangabe Person Horaz. Quellenannahme implizit Werk. Explikation Metapher als Ersetzung. Abgrenzung Personifikation als Parallelkategorie. Anmerkung: impl. Werk von Horaz?


Das sterbende Feuer erlosch!

Ossian, Karrikthura.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Ersetzung. Abgrenzung Personifikation als Parallelkategorie. Anmerkung: Person: Ossian - Werk: Karrikthura

Jch sah'
Auf den blaugeschlängelten Atha herab
Von seinem wandernden Nebel.

Ossian, Temora.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Ersetzung. Abgrenzung Personifikation als Parallelkategorie. Anmerkung: Ossian: Temora

Sieh die Bäume hinter Bäumen,
Wie sie schnell vorüberrücken,
Und die Klippen, die sich bücken,
Und die langen Felsennasen,
Wie sie schnarchen, wie sie blasen!

Goethe, Faust.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person Goethe. Quellenangabe Werk Faust. Explikation Metapher als Ersetzung. Abgrenzung Personifikation als Parallelkategorie.

Es schweigt der Wind, es flieht der Stern.

Goethe, Faust.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person Goethe. Quellenangabe Werk Faust. Explikation Metapher als Ersetzung. Abgrenzung Personifikation als Parallelkategorie.

Und zitternd flieht des Tages letzter Strahl
Der Nacht schon aus dem Wege ─

Lenau.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person nn. Explikation Metapher als Ersetzung. Abgrenzung Personifikation als Parallelkategorie. Quellenannahme implizit Werk. Anmerkung: Lenau - impl. Werk: ???

Scheu floh der Pfad die ungeweihten Tritte
Entschlüpfend in des Dickichts wirre Nacht.

Lenau.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person nn. Quellenannahme implizit Werk. Explikation Metapher als Ersetzung. Abgrenzung Personifikation als Parallelkategorie. Anmerkung: Lenau: ???

Where the slumbering earthquake
Lies pillowd on fire

Byron, Manfred.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Ersetzung. Abgrenzung Personifikation als Parallelkategorie.George Byron: Manfred

Die Thäler singen und die Höhen schweigen,
Die Tannen schauern in der Felsenkluft.

Meißner.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person nn. Quellenannahme implizit Werk. Anmerkung: Meißner: ???

O tiefe, schwarze Schlucht!
Darin ein Silberfaden!
Ein kleiner Bach versucht
Dein nackt Gestein zu baden.

Gottschall.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person nn. Quellenannahme implizit Werk. Explikation Metapher als Ersetzung. Abgrenzung Personifikation als Parallelkategorie. Anmerkung: Gottschall: ???


Die dritte Art der Metapher versinnlicht das Geistige, indem
sie den Affekt, die Leidenschaft, die Empfindung, den Gedanken in ein
sinnliches Bild kleidet,

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als Ersetzung. z. B. der Glanz des Ruhms, die Säule des
Staates.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Explikation Metapher als Ersetzung. Diese Metapher wird vorzugsweise in der Gedankenpoesie und |#f0183 : 161|

im Drama ihren Platz finden, indem sowohl der tiefere Gedanke im
Bestreben sich anschaulich zu machen, als auch die Sprache der Leidenschaft
zu ihr greifen wird:

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Quellenangabe Werkgruppe.-0 Explikation Metapher als Ersetzung. Nennung. Anmerkung: Werke: Gedankenpoesie, Drama


Der Lichtstrahl der Freude stieg auf in der Brust mir.

Ossian, Temora.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Ersetzung. Anmerkung: Ossian: Temora

Gram füllt die Stelle des entseelten Kindes,
Legt in sein Bett sich, geht mit mir umher.
Nimmt seine allerliebsten Blicke an,
Spricht seine Worte nach, erinnert mich
An alle seine holden Gaben, füllt
Die leeren Kleider aus mit seiner Bildung.
Drum hab' ich Ursach' meinen Gram zu lieben.

Shakespeare, König Johann.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Person Aeschylus.0 Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Ersetzung.William Shakespeare: König Johann

Nun ward der Winter uns'res Mißvergnügens
Glorreicher Sommer durch die Sonne York.

Shakespeare, Richard III.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Person Aeschylus.0 Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Ersetzung.William Shakespeare: König Richard III.

Es nagt der Wurm des Frühlings Kinder an
Zu oft noch, eh' die Knospe sich erschließt,
Und in der Früh' und frischem Thau der Jugend
Jst gift'ger Anhauch am gefährlichsten.

Shakespeare, Hamlet.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Person Aeschylus.0 Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Ersetzung.WIlliam Shakespeare: Hamlet

Der Morgenthau der Jdeale hat sich zum grauen kalten
Landregen entfärbt.

Jean Paul, Titan.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Ersetzung.Jean Paul: Titan

Was die Ameise Vernunft in Jahren zu Haufen schleppt, jagt in einem
Hui der Wind des Zufalls zusammen.

Schiller, Fiesco.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person Schiller. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Ersetzung.Friedrich Schiller: Die Verschwörung des Fiesco zu Genua

Dir selbst hast du die größte Gunst erzeigt.
Jetzt schimmerst du in segenvollem Licht,
Der du vorhin in blutroth düsterm Schein
Ein Schreckensmond an diesem Himmel hingst.

Schiller, Jungfrau von Orleans.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person Schiller. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Ersetzung.Friedrich Schiller: Die Jungfrau von Orleans

Ein Tropfen Haß, der in dem Freudenbecher
Zurückbleibt, macht den Segenstrank zum Gift.

Schiller, Jungfrau von Orleans.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person Schiller. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Ersetzung. Anmerkung: s. o.

Jm großen, ungeheuren Oceane
Willst du der Tropfe dich in dich verschließen?
So wirst du nie zur Perl' zusammenschießen,
Wie dich auch Fluthen schütteln und Orkane.

Hebbel.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person nn. Quellenannahme implizit Werk. Explikation Metapher als Ersetzung. Anmerkung: Hebbel - impl. Werk: ??? |#f0184 : 162|


Die vierte Art der Metapher setzt ein geistiges Bild für das
andere. Jndem sie die Sphären des geistigen Lebens vertauscht, eröffnet
sie freiere Perspektiven und ist daher vorzugsweise geistreich zu nennen.
Da es ihr indeß an Anschaulichkeit gebricht, so findet sie in der Poesie
nur selten Anwendung:

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als Ersetzung.


Noch war mein Namen nicht der Welt zur Beute,
Die selten fühlt und oft so lieblos richtet.

Platen.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person nn. Quellenannahme implizit Werk. Explikation Metapher als Ersetzung. Anmerkung: Platen: ???

Nur der verdient sich Freiheit, wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.

Goethe, Faust.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person Goethe. Quellenangabe Werk Faust. Explikation Metapher als Ersetzung.


Jn diesen Beispielen sind Bilder aus der Sphäre des Krieges auf
andere geistige Kreise übertragen.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Personengruppe. Quellenangabe Werkgruppe. Quellenangabe Werkgruppe.-1 Explikation Metapher als Ersetzung. Anmerkung: Bezug zu: Platen/Goethe - ???/Faust


3. Die Personifikation.


Die Personifikation (Prosopopöia) ist dasjenige Bild, welches
dem menschlichen Gemüth am nächsten liegt, und dessen sich schon die
Wilden und Kinder bedienen. Ein Kind, das den Tisch, an dem es sich
gestoßen, anredet und schlägt, personificirt das todte Meuble, indem es
dasselbe wie ein lebendes Wesen behandelt. Durch die Personifikation
legen wir also abstrakten Begriffen oder leblosen Dingen und Naturerscheinungen
Eigenschaften, Thätigkeit und Sprache bei, wie sie nur der
bestimmten menschlichen Jndividualität zukommen. Von diesem Bilde
darf man nicht gering denken; denn es ist die Formel der Phantasie, aus
welcher die meisten Religionen hervorgegangen. Da es den höchsten
Grad anschaulicher Belebung enthält, so hat man es mit Unrecht, dem
Beispiele der alten Rhetoriker folgend, zu den Figuren gerechnet; doch
diese rechneten zur Personifikation auch schon das Verfahren des Redners,
Historikers, Dramatikers und Epikers, welcher andern Personen durch
die Rede, die er ihnen in den Mund legt, persönliches Leben und Charakterbestimmtheit
giebt.


Wir können drei Arten der Personifikation unterscheiden: die metaphorische,
die allegorische und die mythologische.


Die metaphorische ist im Keim schon in der zweiten Art der Metapher
enthalten und Nichts, als ihre weitere Ausführung. Sie haucht Dingen
der Sinnenwelt und Erscheinungen der Natur ein persönliches Leben ein. |#f0185 : 163|

Wie jedes weiter ausgeführte Bild, hat man auch sie eine „Allegorie“
genannt. Die einfachste Art, das Beilegen einer persönlichen Eigenschaft:
der brüllende Sturm, der schweigende Strahl der Sonne,
(Ossian), die Erde dürstet nach Regen, haben wir schon oben berührt.
Die weitere Ausführung legt dem sinnlichen Ding eine menschliche
Thätigkeit bei, welche durch mehrere Momente hindurchgehen und ein an
Zügen reicheres Bild entrollen kann. So personificirt Moerike
die Nacht:


Bedächtig stieg die Nacht an's Land,
Lehnt träumend an der Berge Wand,
Jhr Auge sieht die gold'ne Wage nun
Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn u. s. f.


und den Fluß:


O Fluß, mein Fluß im Morgenstrahl,
Empfange nun, empfange
Den sehnsuchtsvollen Leib einmal
Und küsse Brust und Wange!
Er fühlt mir schon herauf die Brust,
Er kühlt mit Liebesschauerlust
Und jauchzendem Gesange.


So geht es mehrere Strophen durch; lebendig ist besonders noch die
folgende:


Du murmelst so, mein Fluß, warum?
Du trägst seit alten Tagen
Ein seltsam Märchen mit dir um,
Und mühst dich, es zu sagen;
Du eilst so sehr und läufst so sehr
Als müßtest du im Land umher
Jch weiß nicht wen drum fragen. ─


Meißner singt:


Jn der Schlucht der Bergstrom tost,
Winkt, als wie mit weißen Händen:
Komm', o komm, und trinke Trost!


Der höchste Grad der metaphorischen Personifikation ist derjenige,
wo der personificirten Erscheinung nicht blos menschliche Thätigkeit beigelegt,
sondern wo sie selbst redend eingeführt wird, wie z. B. die Pest in
jenem düsterkräftigen Gedicht von Hermann Lingg: der schwarze
Tod:

|#f0186 : 164|

Erzittre, Welt, ich bin die Pest,
Jch komm' in alle Lande
Und richte mir ein großes Fest,
Mein Blick ist Fieber, feuerfest
Und schwarz ist mein Gewande.

Jch komme von Aegyptenland
Jn rothen Nebelschleiern,
Am Nilusstrand im gelben Sand
Entsog ich Gift dem Wüstenbrand
Und Gift aus Dracheneiern.


Diese Art der Personifikation verleiht dem Bilde und dem Ausdrucke
die höchste Lebendigkeit und ist echt dichterisch. Von den beiden folgenden
Arten läßt sich dies nur mit Einschränkung behaupten.


Die allegorische Personifikation, die eigentliche Allegorie,
verwandelt abstrakte Begriffe in Personen und gehört wesentlich
der Skulptur und Malerei an. Der Begriff z. B. die Tugend, die
Hoffnung, der Glauben, die Sünde wird zur Gestalt, und zwar zur
menschlichen Gestalt. Diese Gestalt aber ist an und für sich unfähig,
jenen Begriff auszudrücken; die Bedeutung flüchtet daher in das Attribut,
in irgend eine beigegebene Aeußerlichkeit, durch deren Andeutung
die Phantasie erst auf den rechten Weg geführt wird, was sie sich bei dem
Ganzen zu denken hat. Die Gerechtigkeit erhält eine Wage und Binde,
der Tod ein Stundenglas und eine Sense. Diese Hilfsmittel der bildenden
Kunst hat aber die Poesie nicht nöthig, da sie auf andern Wegen
Gestalt und Bedeutung gleich setzen kann. Die Allegorie, die zu solchen
äußerlichen Attributen greift, wird daher in der Poesie immer nüchtern
und ärmlich erscheinen, während sie bei den bildenden und zeichnenden
Künsten der Deutlichkeit wegen unerläßlich ist. Die Allegorie des Horaz
in seiner Ode an die „Fortuna zu Antium“ ist von dieser leblosen Art:


Dir bahnt den Weg die harte Nothwendigkeit,
Geschärfte Keil' und Nägel in eh'rner Hand,
Auch fehlt ihr nicht der Todeshaken,
Noch des geschmolzenen Bleies Marter.


Der Maler darf die Hoffnung mit einem Schiffsanker darstellen oder
mit einer Lilie in der Hand, der Dichter niemals! Die Allegorie muß
klar sein, in einem durchsichtigen Palaste wohnen, wie ein sinnreicher Poet |#f0187 : 165|

sagt, und vor Allem der Gestalt keine todte und ruhende, sondern eine
lebensvolle und bewegte Bedeutung beilegen. Die Furcht, die Hoffnung,
die Sorge male der Dichter durch ihre Wirkungen, und ihr persönliches
Bild deute er durch einen bezeichnenden Zug an. So führt Goethe im
zweiten Theil des „Faust“ den Mangel, die Schuld, die Sorge, die Noth
als „vier graue Weiber“ ein. Mangel, Schuld und Noth finden die Thüre
verschlossen, weil ein Reicher drinnen wohnt. Die Sorge aber spricht:


Jhr Schwestern, ihr könnt nicht und dürft nicht hinein,
Die Sorge, sie schleicht sich durch's Schlüsselloch ein!


Das ist geistreich und anschaulich zugleich, ebenso glücklich wie jene
„atrox cura“ des Horaz, die sich hinter dem Reiter auf das Pferd setzt.
Auch in der Rede, welche „die Sorge“ an „Faust“ richtet, herrscht dichterische
Lebendigkeit vor, da sie sich durch ihre Wirkungen malt:


Wen ich einmal nur besitze,
Dem ist alle Welt nichts nütze;
Ew'ges Düst're steigt herunter,
Sonne geht nicht auf noch unter.
Bei vollkomm'nen äußern Sinnen
Wohnen Finsternisse drinnen,
Und er weiß von allen Schätzen
Sich nicht in Besitz zu setzen.
Glück und Unglück wird zur Grille,
Er verhungert in der Fülle.
Sei es Wonne, sei es Plage,
Schiebt er's zu dem andern Tage,
Jst der Zukunft nur gewärtig,
Und so wird er niemals fertig.


Ebenso glücklich ist in jenem Maskenscherz am Hofe des Kaisers „die
Furcht“ dargestellt:


Dunst'ge Fackeln, Lampen, Lichter
Dämmern durch's verworrne Fest,
Zwischen diese Truggesichter
Bannt mich ach! die Kette fest!

Fort, ihr lächerlichen Lacher!
Euer Grinsen giebt Verdacht!
Alle meine Widersacher
Drängen mich in dieser Nacht. u. s. f.
|#f0188 : 166|


Dennoch wird durch die Ueberladung mit selbst glücklichen Allegorieen,
wie sie in Goethe's späteren Werken herrscht, die Phantasie ermüdet!
Sie vergißt nicht, daß sie die Gestalt niemals selbstständig festhalten darf,
sondern immer nach dem Schatten des darüber schwebenden Begriffes greifen
muß. Denn halt' ich die Gestalt fest, mach' ich aus der Furcht einen
Furchtsamen, so erscheint die Darstellung augenblicklich als Karrikatur!
Verfehlt aber ist's, mit Goethe im zweiten Theile des Faust, die Gestalt
bald als wirklichen, individuellen Menschen, bald mit einer allegorischen
Bezeichnung figuriren zu lassen; sodaß uns der Held selbst auf einmal
die romantische Kunst bedeuten soll! Das gehört in die Hexenküche
des altgewordenen Goethe, der wohl verstand, seinen Auslegern ein allegorisches
Hexeneinmaleins vorzudeklamiren! Dante war mit seinen
scholastischen Allegorieen freilich mit schlimmem Beispiele vorangegangen,
indem er das herrliche Weib seiner vita nuova in die „Theologie“ verhimmelte!
Nicht viel glücklicher war Milton mit seinen Allegorieen
z. B. von Tod und Sünde, und Voltaire setzte gar den seinigen in der
Henriade ein hölzernes Flugwerk an. Auch in Jordan's „Demiurgos“
herrscht zum Theil eine nach den großen Mustern geordnete, allegorische
Verwirrung, und nur die utopische Jdylle des „Nirgendheim“ macht
einen erheiternden Eindruck.


Die dritte, die mythologische Personifikation, verwandelt die
sinnliche Erscheinung und die Jdee in eine göttliche Persönlichkeit von
individueller Lebenskraft, in welcher das Bild nicht, wie in der Allegorie,
auf die Bedeutung hinweist, sondern dieselbe unmittelbar enthält. Nachdem
die Religionen aus dem Kreise der gährenden Natursymbolik herausgetreten,
in welcher Bild und Bedeutung sich nicht deckten, traten
sie in das Stadium der Personen bildenden Mythe, welches vor allen
durch die griechische Kunstreligion repräsentirt wird. Die Phantasie der
Künstler wurde religiösschöpferisch; Homer und Hesiod schufen den
Griechen ihre Götter. Jene lebendige Beseelung der Welt durch diese
höchste Art der Personifikation hat Schiller in den „Göttern Griechenlands
zugleich geschildert und angewandt:


Diese Höhen füllten Oreaden,
Eine Dryas lebt' in jenem Baum,
Aus den Urnen lieblicher Najaden
Sprang der Ströme Silberschaum.
|#f0189 : 167|

Jener Lorber wand sich einst um Hülfe,
Tantal's Tochter schweigt in diesem Stein,
Syrinx' Klage tönt aus jenem Schilfe,
Philomela's Schmerz aus diesem Hain.

Jener Bach empfing Demeter's Zähre,
Die sie um Persephonen geweint,
Und von diesem Hügel rief Cythere ─
Ach! umsonst dem schönen Freund!


Doch auch neuere Dichter können, besonders in größeren gedankenvollen
Schöpfungen, dies Bild nicht entbehren. So ist der Erdgeist im
„Faust,“ so sind die Geister in Byron's Manfred keine Allegorieen, sondern
personificirte Natur- und Gedankenmächte. Eine niedliche, wie aus
Elfenbein geschnitzte Personifikation ist die „Königin Mab“ des Mercutio.
Auch die hebräische Poesie giebt ihrem persönlichen Gott eine Fülle persönlichen
Lebens. Alles, was die Theologie „Anthropomorphismen“
nennt, muß die Aesthetik in unser Bild einreihen. Die Psalmen und
Propheten sind reich an großen und erhabenen Bildern, in welchen die
Naturerscheinungen als Thaten des persönlichen Gottes dargestellt
werden:


Da bebte die Erde,
Die erschütterte Erde,
Es wankten die Füße der Berge,
Sie erzitterten seinem Zorn.

Er schnaubete Dampf empor,
Verzehrende Gluth
Entströmte seinem Mund in der Wetter Schlag.

Er neigete die Himmel
Und fuhr herab,
Und Dunkel war
Unter seinen Füßen.

Er schwebete auf Cherubim!
Er flog einher
Auf Fittigen des Sturmes u. s. f.

(17ter Psalm nach Stolberg.)

|#f0190 : 168|

4. Die Hyperbel.


Die Hyperbel ist das Bild, das die Erscheinung über das Maaß
der sinnlichen Wahrheit hinaus vergrößert, um dadurch den Gedanken
zu erheben und zu verstärken. Die Neigung zum Hyperbolischen ist der
menschlichen Natur angeboren; es liegt ebenso vielen gewöhnlichen Höflichkeitsformen
zu Grunde, wie es einer lebhaften Empfindung, einer
glühenden Leidenschaft, jedem von seinem Gegenstand durchdrungenen
Gemüth stets zu Gebote steht. Die Hyperbel setzt allerdings eine Versündigung
gegen die sinnliche Wahrheit voraus, welche eine Bedingung
der künstlerischen Schönheit ist; aber mit der erregten Seele wachsen auch
die Dimensionen ihrer Bilder, und der Vergrößerungsspiegel der Begeisterung
und der Leidenschaft zeigt Jedem, der hineinsieht, dasselbe Bild.
Diese subjective Wahrheit hat in der Poesie dasselbe Recht, wie die
objektive. Je heftiger die Leidenschaft, desto grandioser werden ihre
Hyperbeln.


Wir unterscheiden zunächst die naive Hyperbel von der Hyperbel
der Reflexion.
Jn der naiven Hyperbel glaubt die Phantasie
selbst an das Uebermaaß der Erscheinung und stellt dies ohne jeden
Zusatz als selbstverständlich hin. Diese Hyperbel finden wir in der
Symbolik der orientalischen Religionen, besonders der Jndischen, welche
durch diese Uebertreibungen des Bildes das Göttliche würdig darzustellen
glaubten. Hierher gehören jene hyperbolischen Zahlen der indischen
Mythologie. Hundert Jahre lang liegt Sivas mit Umâ in ehelicher
Umarmung; Sagaras hat 60000 Söhne, die in einem Kürbiß zur
Welt kommen; Ansumao unterzieht sich 32000 Jahre lang den strengsten
Büßungen auf dem Gipfel des Himavàn. Jn ähnlicher naiver Weise
rühmen die großen nationalen Volksepen ihre Helden:


Was hat er nicht vollbracht! Bis an die Wogen
Des Meers von Tschin wirft einen Pfeil sein Bogen.
Das Krokodil im tiefsten Wasserschlunde,
Der Panther stirbt vom Hauch aus seinem Munde.

Firdusi.


Jhn ergötzte die blutige Schlacht,
Sein Arm war ein Donner des Himmels.

Ossian.

|#f0191 : 169|

Da stürmte heran so dunkel und tief
Mit allen Rossen des Karos Heer,
Vor seinem Laufe versiegen die Bäche,
Die Erde dröhnt und zittert umher.

Ossian.


Diese naive Hyperbel gehört mehr der Schilderung an. Die Hyperbel
der Reflexion aber ist unmittelbarer Ausdruck der Leidenschaft, die
indeß in ihren heftigen Ausbrüchen doch immer einen Schatten von Kritik
bewahrt, indem sie das übertriebene Bild nicht direkt, sondern bedingungsweise
hinstellt. Dieser Art sind die meisten Hyperbeln bei
Shakespeare. Die Phantasie beschreibt einen Kreis von unmöglichen
Voraussetzungen, und nachdem sie so die Ansprüche der sinnlichen Wahrheit
ein für allemal abgewiesen, ergeht sie sich frei in ihrem hyperbolischen
Schwung. So phantasirt die Liebesleidenschaft von Romeo und
von Julie in die Sternennacht hinein. Romeo sagt:


Ein Paar der schönsten Stern' am ganzen Himmel
Wird ausgesandt und bittet Julien's Augen
Jn ihren Kreisen unterdeß zu funkeln.
Doch wären ihre Augen dort, die Sterne
Jn ihrem Antlitz? Würde nicht der Glanz
Von ihren Wangen jene so beschämen,
Wie Sonnenlicht die Lampe? Würd' ihr Aug'
Aus luft'gen Höh'n sich nicht so hell ergießen,
Daß Vögel sängen, froh den Tag zu grüßen?


Julie bleibt in ihrem späteren Monolog die hyperbolische Antistrophe
nicht schuldig:


Komm, milde, liebevolle Nacht! Komm, gieb
Mir meinen Romeo! Und stirbt er einst,
Nimm' ihn, zertheil' in kleine Sterne ihn.
Er wird des Himmels Antlitz so verschönen
Daß alle Welt sich in die Nacht verliebt
Und Niemand mehr der eitlen Sonne huldigt.


Diese Hyperbeln, zu denen Calderon und die orientalische Lyrik zahlreiche
Zusätze geben kann, gehören der zergliedernden Sophistik der Leidenschaft
an, dem Scholasticismus der Liebe, der Empfindung, die ihr
Uebermaaß in ein freies Spiel der Phantasie ergießt.


Die stumme Kritik des Unmöglichen spricht sich in jenen zahlreichen |#f0192 : 170|

Hyperbeln aus, in denen ein „wenn“ und „eh“ das übertriebene Bild
einführt. So wenn Richard II. sagt:


Die Erde fühlt und diese Steine werden
Bewehrte Krieger, eh' ihr echter König
Des Aufruhrs schnöden Waffen unterliegt.


Mortimer in der „Maria Stuart“ sagt:


Mag der Welten Band
Sich lösen, eine zweite Wasserfluth
Herwogend alles Athmende verschlingen ─
Jch achte Nichts mehr ─ eh' ich dir entsage,
Eh' nahe sich das Ende aller Tage.


Jn Massinger's „Herzog von Mailand“ sagt Sforza, indem er
eine bekannte Hyperbel des Horaz weiter ausführt:


Und mag der Erde Grund zusammenstürzen,
Und mag des Himmels glanzvoll Aug' erblinden,
So unterstützt, werd' ich auf den Ruinen stehn
Und rings ein neues Leben suchen.


Und wie Sforza die Liebe zu seiner Gattin, auf die er sich stützt, in
dieser Hyperbel ausdrückt, so Dunois die Hoheit der Jungfrau:


Denn alle Fürstenthrone, aufeinander
Gestellt, bis zu den Sternen fortgebaut,
Erreichten nicht die Höhe, wo sie steht
Jn ihrer Engelsmajestät!


Eine ähnliche Wendung der Reflexionshyperbel ist: mir ist, als ob:


Denn mir ist
Als ob der Wüste unmitleid'ge Schaaren,
Des Meeres Ungeheuer mich umständen.

Braut von Messina.


oder die Form des Wunsches:


Daß er noch lebte!
Jch gäb' ein Jndien dafür ─

Don Carlos.


O ich möchte den Ocean vergiften, daß sie den Tod aus allen
Quellen saufen! ─ ─ o daß ich durch die ganze Natur das Horn
des Aufruhrs blasen könnte, Luft, Erde und Meer wider
das Hyänengezücht in das Treffen zu führen!

Räuber.

|#f0193 : 171|


Aus allen diesen Beispielen ersehen wir sowohl, daß die Reflexions=
Hyperbel ungezwungen aus dem Pathos der Leidenschaft, der Liebe, des
Schmerzes, des Zornes hervorgeht, als auch, daß sie stets ein stilles
Bewußtsein der Uebertreibung beibehält, indem sie dieselbe in die Form
einer unmöglichen Bedingung, eines unmöglichen Wunsches kleidet.


Naive Hyperbeln sind bei den neuen Dichtern seltener; doch kommen
sie u. a. bei Grabbe vor, welcher oft in ein einziges Wort eine grandiose
Hyperbel legt, z. B.:


Die Windsbraut hat
Den Ocean entwurzelt.

Herzog von Gothland.


Der pathetische Styl ist an Hyperbeln reicher, als der plastische, die
Ode reicher, als das Lied, die Tragödie reicher, als das Epos! Am
häufigsten finden wir sie bei allen orientalischen Poeten, bei den begeisterten
Sängern der Bibel, bei Calderon, Shakespeare, Schiller, Victor
Hugo, den neueren Vertretern der originellen Kraftdramatik, besonders
Grabbe und Hebbel. Goethe ist arm daran, da der plastische Styl der
Schönheit diese gewaltsame Expansion des Bildes nicht verträgt. Darum
sind auch die antiken Schriftsteller und Dichter mit Hyperbeln sparsam,
und der römische Dichter, bei welchem sie sich am häufigsten finden,
Lucan, gehört nicht zu den glänzendsten Vertretern seiner Literatur.
Ebenso wie dem Erhabenen wird die Hyperbel auch dem Komischen
unentbehrlich sein, ja auch die Hyperbel der Erhabenheit schlägt in's
Komische um, wenn das vergrößerte sinnliche Bild die Jdee nicht mit
vergrößert. Eine Schreibart, in welcher das Hyperbolische überwiegt
und unglückliche Hyperbeln sich mit glücklichen vermischen, wird daher
schwülstig erscheinen müssen. Doch gerade jeder mißlungene Sprung des
Erhabenen wird das Komische mit einem Beispiele und mit einer Lehre
bereichern. Shakespeare und Jean Paul geben zahlreiche Beispiele
komischer Hyperbeln:


„Er machte schon Komplimente mit der Brust
seiner Mutter, eh' er sog.“

Hamlet.


Jch will das Zauberwort einer günstigen Recension einem knirschenden Wehrwolfe
vorhalten: ─ sofort steht er als ein leckendes Lamm mit quirlendem Schwänzchen vor
mir.Titan.

|#f0194 : 172|

5. Die Metonymie.


Die Metonymie, ein bei weitem farbloserer und unbedeutenderer
Tropus, als die vorhergehenden, ist von den alten Rhetorikern mit einer
erschreckenden Ausführlichkeit behandelt worden; ja sie haben, damit nicht
zufrieden, einzelne Unterarten der Metonymie, wie z. B. die Synekdoche,
wieder zu selbstständigen Tropen gestempelt, um ihrer unerschöpflichen
Kasuistik das Vergnügen zu gönnen, mit neuen Aufzählungen wieder von
vorn anzufangen.


Die Metonymie setzt einen Gegenstand für den anderen nicht wegen
der Aehnlichkeit, wie die Metapher, sondern wegen der Nähe der
Beziehungen,
in denen sie zu einander stehen. Sie setzt daher eine
geistige oder sinnliche Nähe voraus, während die Metapher das
entlegenste Bild für ihren Gegenstand setzen kann. Die Metonymie steht
dicht an der Grenze, wo das Bild zur grammatischen Figur erblaßt.
Sie kann daher niemals die Eigenthümlichkeit einer besonderen Dichtart,
eines besonderen Dichters bilden; sie findet sich zerstreut in den verschiedensten
Werken der Dichter, Redner und Historiker und ist zum Theile
selbst in der gewöhnlichen Umgangssprache im Schwang. Wer z. B.
sagt: „ich lese Schiller,“ statt „Schiller's Werke,“ oder: „Napoleon
gewann die Schlacht,“ statt „sein Heer oder seine Soldaten,“ oder „den
Beistand des Himmels anrufen“ statt „den Beistand Gottes“ hat sich
einer Metonymie im Sinne der alten Rhetoriker schuldig gemacht. Sie
nannten Metonymie den Tropus, welcher die Ursache für die Wirkung
und umgekehrt, das Zeichen für die bezeichnete Sache, den Ort für die
Sache, welche darin enthalten ist, das Werkzeug für den Träger des
Werkzeuges, den Besitzer für die besessene Sache, den Feldherrn für die
Soldaten u. s. f. setzt, Synekdoche dagegen den Tropus, der das
Ganze für einen Theil oder einen Theil für das Ganze, die Gattung für
die Art oder die Art für die Gattung, das Abstraktum für das Konkretum
oder das Konkretum für das Abstraktum, die Einzahl für die Mehrzahl
oder umgekehrt anwendet. Man sieht, daß die Unterscheidung ganz
willkürlich ist und daß beide Tropen unter einen gemeinsamen Begriff
fallen.


Die Lebendigkeit, die dieser Tropus der Beziehungen gewährt, |#f0195 : 173|

beruht nicht blos auf der größeren Anschaulichkeit; denn sonst würde
er nicht auch die Gattung für die Art und das Abstraktum für das Konkretum
setzen; sondern sie geht aus der erhöhten Thätigkeit der Phantasie
hervor, welche, indem sie zwei Bestimmungen für einander setzt, beide
zugleich schaut und dadurch sowohl den Gedanken, als auch das Bild
bereichert. Wenn ich die Wirkung für die Ursache setze und z. B. sage:
Schatten um ein Landhaus pflanzen, für Bäume, so sieht meine
Phantasie in den Schatten zugleich die Bäume mit, die sie verbreiten.
Sag' ich „tausend Säbel“ für „tausend Soldaten,“ so seh' ich die Soldaten
gleichzeitig mit, habe aber an den Säbeln alsbald einen lebendigeren
sinnlichen Halt. Die erhöhte Wärme der Jdeeen-Association, welche
durch die Vertauschung der Beziehungen hervorgeht, giebt diesem Tropus
sein dichterisches Recht.


Da indeß die Beziehungen unter den Dingen so zahlreich sind, daß
sie sich nicht klassificiren lassen, so ist auch die Klassification dieser bildlichen
Wendungen eine müßige Arbeit. Man kann nur zwei große Klassen bilden:


1) Die eigentliche Metonymie, welche sinnliche Beziehungen vertauscht,
indem sie für einen Gegenstand den anderen setzt, der durch ihn,
neben ihm, in ihm, vor ihm u. s. f. existirt. Pindar spricht in der
neunten nemäischen Ode von der kühnen Rede bei'm Weinkrug, wo
das Gefäß für den in ihm enthaltenen Wein gebraucht wird;


Aus der Ströme blauem Spiegel
Lacht der unbewölkte Zeus

Schiller.


Ehe das dritte Morgenroth scheint,
Hat er schnell mit dem Gatten die Schwester vereint.

Schiller.


Zeus ist hier für Himmel, Morgenroth für Tag gebraucht.


2) Die Synekdoche als Vertauschung logischer und grammatischer
Beziehungen,
wobei die oben angeführten Bestimmungen der
Rhetoriker gelten können. Hierher gehört auch die Wendung, welche das
Adjectivum in ein Substantivum verwandelt:


Flüchtet aus der Sinne Schranken
Jn die Freiheit der Gedanken.

Schiller.

|#f0196 : 174|

Zu Aachen in seiner Kaiserpracht
Jm alterthümlichen Saale
Saß König Rudolph's heilige Macht
Beim festlichen Krönungsmahle.

Schiller.


Jn des Waldes Geheimniß entflieht mir auf einmal die Landschaft.

Schiller.


Das Setzen des Abstraktums für das Konkretum geht leicht in die
Personifikation über:


Dürrer Mord
Schreitet gespenstisch!

Shakespeare, Macbeth.


Die Vertauschung des Singular und Plural, die ebenfalls als eine
Synekdoche bezeichnet wird, bildet ungezwungen den Uebergang zu den
Figuren. Sie gehört eigentlich zu den poetischen Licenzen, welche
die Sprache mit neuen Wendungen bereichern, die aus einer in der Prosa
nicht verstatteten Vertauschung grammatischer Formen hervorgehen.
Jhre Anwendung ist sehr häufig in der neuen Lyrik:


Wie heiß auch meine Sonnen lohten,
Sie weckten späte Rosen nur.

(Meißner.)


Weihrauch wagt nur leise Hauche.

(Sallet.)


Die eh'rnen Hengste, die durch salz'ge Schäume
Dahergeschleppt auf jener Kirche ragen.

(Platen.)


Jm Osten starb der große Chan
Auf Jndien's Zimmetinseln,
Starb Negerfürst und Muselmann.

(Lingg.)


B. Figuren.


Die Figuren sind bestimmte Schemata der Rede, in denen sich ein
Gefühl, eine Stimmung, ein Gedanke krystallisirt. Sie erhöhen nicht,
wie die Bilder, die Anschaulichkeit; es sind nur Wort- und Gedankenstellungen,
welche den Ausdruck lebhafter und schärfer machen. Die |#f0197 : 175|

Bilder gehören der Phantasie an; die Figuren dem Gemüth oder Verstand.
Die alten Rhetoriker sind unerschöpflich in der Aufstellung und
Definition von Figuren, indem sie jede Abweichung von dem herkömmlichen
Geleis der Grammatik und Syntax mit einem stolzklingenden
Namen taufen. Wir greifen aus dem reichhaltigen Schatze nur diejenigen
heraus, welche für die Dichtkunst von besonderer Wichtigkeit sind:


1) Die Ausrufung, die in den alten Sturm- und Drangtragödieen
z. B. Klinger's das ganze Pathos der Leidenschaft naturwüchsig
ersetzen sollte! Höchst frostig ertönt in den modern=antiken Schauspielen
das: ihr Götter! bei'm Zeus! u. s. f., weil uns diese Ausrufungen an
eine ganz andere Weltanschauung gemahnen. Shakespeare ist in seinen
pathetischen Scenen reich an Ausrufungen, die oft der grelle Ausschrei
der inneren Leidenschaft, des inneren Kampfes sind:


Lear.


Pest, Rache, Tod, Vernichtung!
Was feurig? was Gemüth? Ha Gloster, Gloster!


und später:


Weh' mir, mein Herz, mein schwellend Herz, hinunter!


2) Die Frage, als Ausbruch des Affektes:


Jch frage, giebt es einen Gott? Was ─ dürfen
Jn seiner Schöpfung Könige so hausen?

Schiller.


3) Die Anrede, Apostrophe, in welcher der Keim und erste
Ansatz zur dichterischen Personifikation verborgen liegt:


Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Thäler!

Schiller.


O Morgenduft auf dunklen Wäldern,
O Maienwonne, Sommerlust!
O Lerchensang auf grünen Feldern,
Wie sehnt nach euch sich meine Brust!

Prutz.


O Meer im Abendstrahl,
An deiner stillen Fluth,
Fühl' ich nach langer Qual
Mich wieder fromm und gut.

Meißner.

|#f0198 : 176|


4) Die Wiederholung, durch welche der Ausdruck an Kraft
gewinnt, besonders die Anaphora, die Wiederholung der Worte am
Anfange. Die Epistrophe, die Wiederholung der Worte am Ende
der Rede, bildete sich in der Lyrik zum Refrain aus. Die Grammatiker
haben, je nach der Stelle, an der sich die wiederholten Worte befinden,
in gelehrter Spielerei eine Menge von Figuren unterschieden*).


Die Anaphora darf nicht zu häufig sein, sonst wirkt sie komisch z. B.


Ja ich bin's, du Unglücksel'ge,
Ja ich bin's, den du genannt!
Bin's, den alle Wälder kennen,
Bin's, den Mörder Bruder nennen,
Bin der Räuber Jaromir.

Grillparzer.


Feurigen Drang der Seele drückt diese Wiederholung sehr oft in den
Schiller'schen Dramen aus:


Jetzt oder nie! Wir sind allein.
Der Etikette bange Scheidewand
Jst zwischen Sohn und Vater eingesunken.
Jetzt oder nie! Ein Sonnenstrahl der Hoffnung
Glänzt in mir auf.

Don Carlos.


Jch habe NiemandNiemand
Auf dieser großen weiten Erde Niemand!
Soweit das Scepter meines Vaters reicht,
Soweit die Schifffahrt uns're Flaggen sendet
Jst keine Stelle, keine, keine, wo
Jch meiner Thränen mich entlasten darf,
Als diese.

Don Carlos.


Ueberhaupt verweisen wir auf dies Stück, dessen charakteristischer
Styl gerade in dieser Emphase des Gemüthes besteht und von leidenschaftlichen
Fragen, Ausrufungen, Anaphoren und Epistrophen wimmelt.


5) Die Steigerung (Klimax), eine Figur, welche den überzeugenden
Gedanken oder den wachsenden Affekt durch immer neue, stufenmäßige
Verstärkung des Wortes und des Bildes ausdrückt und in der
Regel hyperbolisch schließt. Die korrekte Steigerung verlangt, daß niemals
der schwächere Gedanke oder das schwächere Bild hinter das stärkere

*)
Anaphora, Epistrophe, Symploke, Epanalepsis, Epanodos u. s. f.
|#f0199 : 177|

gesetzt werde, sondern daß die Seele auf einer logisch angestuften Leiter
in die Höhe steige.


O lieber als dem Grafen mich vermählen
Heiß' von den Zinnen jenes Thurms mich springen,
Da gehn, wo Räuber streifen, Schlangen lauern,
Und kette mich an wilde Bären fest;
Birg bei der Nacht mich in ein Todtenhaus
Voll rasselnder Gebeine, Moderknochen,
Und gelber Schädel mit entzahnten Kiefern,
Heiß' in ein frischgemachtes Grab mich gehn,
Und in das Leichentuch des Todten hüllen.

Shakespeare, Romeo und Julie.


Vollendet! Jhr habt freie Macht! Gehorcht
Dem Dämon, der euch sinnlos wüthend treibt!
Ehrt nicht des Hausgotts heiligen Altar!
Laßt diese Halle selbst, die euch geboren,
Den Schauplatz werden eures Wechselmords.
Vor eurer Mutter Aug' zerstöret euch
Mit euren eig'nen, nicht durch fremde Hände.
Leib gegen Leib, wie das theban'sche Paar,
Rückt auf einander an, und muthvoll ringend
Umfanget euch mit eherner Umarmung!
Leben um Leben tauschend siege Jeder,
Den Dolch einbohrend in des andern Brust,
Daß selbst der Tod nicht eure Zwietracht heile,
Die Flamme selbst, des Feuers rothe Säule,
Die sich von eurem Scheiterhaufen hebt,
Sich zweigespalten von einander theile,
Ein schaudernd Bild, wie ihr gestorben und gelebt.

Schiller, Braut von Messina.


6) Der Gegensatz (Antithese), eine Redefigur, welche Bestimmungen,
die sich logisch gegenüberstehn, auch in den entsprechenden Satzgliedern
gegenüberstellt. So erfreut bei dieser Figur zunächst das Redeschema durch
seinen Parallelismus, dann aber auch der vollständige Ausdruck des Gedankens.
Solche entgegengesetzte Bestimmungen nämlich ergänzen sich
mit Nothwendigkeit, da sie unter die höhere Einheit eines und desselben
Begriffes fallen; man kann den Begriff „gut“ nicht denken, ohne daß auch
„bös“ gleichzeitig, wenn auch nur in dämmernden Umrissen, über die
Schwelle des Bewußtseins tritt. Gerade das klare Aussprechen des entgegengesetzten, |#f0200 : 178|

aber nothwendig ergänzenden Begriffes, wie es in der
„Antithese“ geschieht, giebt dem Ausdruck Fülle und Schärfe, dem Verstande
und der Phantasie Befriedigung. Die Antithese ist nicht blos
logisch, indem sie Begriffsbestimmungen gegenüberstellt; sie gehört ebenso
gut der Sprache der Leidenschaft an, indem sie kontrastirende Bilder entgegensetzt.
Die Antithese ist eine schlagende Form für die Sentenz.
Darum sind sentenzenreiche Schriftsteller und Dichter, wie Seneca und
Schiller, sehr reich an ihnen; aber auch scharfe, analytische Denker, wie
Lessing, Boerne, Feuerbach sind glücklich in ihren Antithesen.


Die einfache Antithese stellt nur zwei Bestimmungen gegenüber;
die zusammengesetzte mehrere. Zwei einfache Antithesen enthält der
Vers Schiller's:


Jn das wilde Fest der Freuden
Mischten sie den Wehgesang,
Klagend um das eig'ne Leiden
Jn des Reiches Untergang.


eine zusammengesetzte dagegen die bekannte Sentenz im „Wallenstein“:



Leicht bei einander wohnen die Gedanken,
Doch hart im Raume stoßen sich die Dinge.


Die zusammengesetzte Antithese erfordert eine symmetrische Anordnung
der entgegenstehenden Bestimmungen, sodaß der Gedanke wie ein
elektrischer Blitz durch eine Voltaische Säule regelmäßig gepaarter, polarer
Bestimmungen hindurchzuckt. Auf dieser Symmetrie beruht die
Eleganz, Präcision und schlagende Schärfe des Styles.


Es ist noch nicht hinlänglich beachtet worden, wie der Styl Schiller's
aus lauter Antithesen zusammengeschichtet ist. Eine galvanische Kette
blitzender Gegensätze geht durch alle seine Werke, und auf ihnen vorzugsweise
beruht die elektrisirende Wirkung seiner Sprache. Es bleibt
bewundernswerth, daß die stereotype Anwendung einer und derselben
Redefigur keine größere Ermüdung hervorruft und den Fluß der Begeisterung
nicht öfter in's Stocken bringt. Gerade wie Cuvier aus dem aufgefundenen
Knochen eines vorsündfluthlichen Thieres den ganzen Organismus
desselben nach der Nothwendigkeit des Naturgesetzes aufzubauen
verstand: so kann der Aesthetiker aus einer einzelnen äußerlichen Figur |#f0201 : 179|

die lehrreichsten Schlüsse auf den Charakter des Dichters selbst, auf seine
ganze geistige Bedeutung machen. Ein Dichter, der in Antithesen dichtet,
wird ebenso glänzend, wie scharf, ebenso feurig, wie schlagend erscheinen;
aber er wird nicht zur plastischen Harmonie durchdringen; er wird sich
nie mit voller Ruhe in die einzelne Erscheinung versenken; er wird immer
reflektirend ihre gegenseitigen Beziehungen in's Auge fassen; er wird
mehr ein Poet des Gedankens, als ein Poet der Anschauung, mehr ein
dramatischer und lyrischer, als epischer Dichter, und in der Lyrik selbst
wieder mehr Elegiker, als Liederschöpfer sein. So können wir aus der
kleinen Antithese heraus uns das ganze, großartige und unruhige Gedankenpathos
unseres größten Dramatikers konstruiren.


Daß aber die thatsächliche Voraussetzung richtig ist, das beweist jeder
Blick in Schiller's Dramen und Gedichte. Schlagen wir sie auf, wo
wir wollen ─ wir stoßen überall auf Antithesen z. B.


Doch dieser große Menschenkenner sinke
Vor Scham dahin, daß seine graue Weisheit
Der Scharfsinn eines Jünglings überlistet.
Ja, Sire, wir waren Brüder! Brüder durch
Ein edler Band, als die Natur es schmiedet.
Sein schöner Lebenslauf war Liebe ─ Liebe
Für mich sein großer schöner Tod. Mein war er,
Als Sie mit seiner Achtung groß gethan,
Als seine scherzende Beredtsamkeit
Mit Jhrem stolzen Riesengeiste spielte.
Jhn zu beherrschen wähnten Sie ─ und waren
Ein folgsam Werkzeug seiner höhern Pläne u. s. f.


Der ganze dramatische Styl Schiller's ist mit Antithesen, die bald
leiser angedeutet, bald kräftiger ausgeführt sind, getränkt.


Der antithetische Gang liegt auch jener Figur des dramatischen Dialogs,
der sogenannten „Stichiometrie“ zu Grunde, der schlagenden
Rede und Gegenrede in aufeinanderfolgenden Verszeilen. Sie findet
sich bei den antiken Tragikern und ist von Schiller mit Vorliebe adoptirt
worden z. B.


Hermione.


Was will Dein Stolzsein? Was bezweckt das Wortgefecht,
Als wärst nur du verständig und ich wär' es nicht?
|#f0202 : 180|

Andromache.


Bei dem gewiß nicht, was Du jetzt gesprochen hast.

Hermione.


Der Geist, der Dir ward, wohnt mir nicht ein, o Frau!

Andromache.


Du bist so jung noch, und Du sprachst so maßlos schlecht!

Hermione.


Du aber sprichst nicht, nein, Du thust nur, was Du kannst.

Andromache.


O traure lieber schweigend, wenn Dich Kypris floh.

Hermione.


Wie? gilt den Fraun nicht Lieben als das Höchste stets?

Andromache.


Ja. ─
Wenn würdig sie es nützen, sonst entehrt es sie!

Hermione.


Nicht mit Barbarensitten wohnt man hier im Land.

Andromache.


Wie dort das Schlechte, so gebiert auch hier es Schmach!

Euripides, Andromache (nach Fritze).


Leicester.


Junger Mann, ihr seid zu rasch
Jn so gefährlich dornenvoller Sache.

Mortimer.


Jhr ─ sehr bedacht in solchem Fall der Ehre.

Leicester.


Jch seh die Netze, die uns rings umgeben.

Mortimer.


Jch fühle Muth, sie alle zu durchreißen.

Leicester.


Tollkühnheit, Raserei ist dieser Muth.

Mortimer.


Nicht Tapferkeit ist diese Klugheit, Lord.

Leicester.


Euch lüstet's wohl, wie Babington zu enden?

Mortimer.


Euch nicht, des Norfolks Großmuth nachzuahmen.

Leicester.


Norfolk hat seine Braut nicht heimgeführt.

Mortimer.


Er hat's bewiesen, daß er's würdig war.
|#f0203 : 181|

Leicester.


Wenn wir verderben, reißen wir sie nach.

Mortimer.


Wenn wir uns schonen, wird sie nicht gerettet.

Schiller, Maria Stuart.


7) Das Paradoxon, eine Redefigur, die scheinbar Unverträgliches
durch eine tiefere Einheit des Gedankens zusammenkettet. Der Reiz dieser
Figur liegt in der Kühnheit, mit welcher der Widerspruch hingestellt
wird, und der stillen Freude, daß man den Schlüssel zu seiner Lösung
in Händen hat.


Das Paradoxon ist entweder blos logisch z. B.


Du übersinnlich sinnlicher Freier.

Goethe, Faust.


Regular confusion.

Addison, Cato.


oder es ist metaphorisch z. B.


Mond meiner Tage, meiner Nächte Sonne,
Hoch über mir geh' Deinen Strahlenlauf.

Dingelstedt.


Die Vorliebe für das Zusammenfassen unverträglicher Bestimmungen,
deren tiefere Einheit oft nur eine scheinbare ist, schafft den paradoxen
Styl,
der sich auch auf die Komposition größerer Kunstwerke bezieht.
So ist Hebbel paradox im Entwurf seiner Dramen und in ihrer Charakteristik,
während Arthur Schopenhauer ein paradoxer Denker ist.


6) Die Jronie ist diejenige Redefigur, welche das Gegentheil von
dem sagt, was sie meint*). Der Widerspruch besteht hier nicht zwischen
den einzelnen, nebeneinander gestellten Gedankenbestimmungen, wie im
Paradoxon, sondern zwischen dem Gedanken und seinem Ausdruck
durch die Rede. Die Jronie ist die Heuchelei des Geistes, der das Nichtige
vernichtet, indem er's preist, und das Hohe erhebt, indem er es
herabsetzt. Jhre Stimmung beruht, wie der Reiz des Paradoxon, auf
einem Widerspruche, dessen unmittelbare Lösung die Phantasie erfreut.
Jn dieser einfachen Form war die Jronie schon den alten Klassikern
geläufig! So verhöhnt Patroklos bei Homer den Kebriones, der, von
seinem Stein getroffen, vom Wagensitz herabschießt:

*)
Ironia est alia dicentis et alia significantis dissimulatio. Cic. de Orat. 3.
|#f0204 : 182|

Wunder, wie ist er behende, der Mann! Wie leicht er hinabtaucht!
Uebt er die Kunst einmal in des Meers fischreichen Gewässern;
Viele ja sättigte wahrlich der Mann mit gefangenen Austern,
Hurtig vom Bord abspringend, wie hohl auch stürme die Brandung:
Sowie jetzt im Gefild' er behend aus dem Wagen hinabtaucht!
Traun, auch im troischen Volk sind unvergleichbare Taucher.

Homer, Jlias 16, 744─50 (Voß).


So sagt Juno zur Venus bei Virgil:


Egregiam vero laudem et spolia ampla refertis,
Tuque puerque tuus: magnum et memorabile nomen,
Una dolo divûm si foemina victa duorum est.

Aen. 4.


Und bei Terenz heißt es im „Eunuchen“:


Heus, bone vir, curasti probe.


eine Stelle, in der jedes Wort in einem seiner ursprünglichen Bedeutung
entgegengesetzten Sinne genommen wird. Durch den Reiz des Kontrastes,
der ihr zu Grunde liegt, ist die Jronie von hoher Bedeutung
für die Komik und findet hier ihren weitesten und angemessensten Spielraum.
Der größte ironische Schriftsteller ist Swift; aber auch in
Shakespeare, Jean Paul, Hippel, Platen, Prutz und Gutzkow
finden sich vortreffliche ironische Stellen z. B.


„Endlich schwenkte sich als Voressen oder Vorbericht der Suppe die rosabackige
Physikussin in die Stube herein mit 3 oder 4 Esprits oder Federstutzen, mit einer scheckigen
Hals-Schürze, in einem rothen Ballkleide, dem die Walzer die Farbe ausgezogen,
die sie ihr aufgelegt ─ und mit einem durchbroch'nen Putzfächer. Wenn ich wollte,
könnt' ich mich ihrer annehmen; denn anlangend die Esprits (da oft der Esprit, wie
bei den Embryonen das Gehirn sich auf die Gehirnschale heraussetzt und da sonnet), so
dachte sie, Weiber und Rebhühner werden am besten mit Federn auf dem Kopfe an der
Tafel servirt ─ anlangend den Fächer, so gab sie vor, sie komme von einem Morgenbesuche
(wobei sie recht deutlich voraussetzte, daß Damen so wenig ohne Fächerstäbe
als Tischler ohne Maßstab durch die Gasse dürfen) ─ anlangend den Rest, so wußte
sie, der Gast sei ein Graf.Jean Paul, Titan.


Chor.


Was hältst du, Freund! von diesem neuen Trauerspiel?

Publicum.


O zum Entsetzen meisterhaft, zum Fressen schön!

Chor.


Wie antisophokleïsch er's behandelt hat!
|#f0205 : 183|

Publicum.


Anachronismen eingestreut zu tausenden!

Chor.


So ganz unendlich tragisch! Alle sterben fast.

Platen, Romantischer Oedipus.


Hierher gehört auch die Litotes, die ironische Verkleinerung. So
sagt Mercutio:


Romeo!
Was? Grillen! Toller! Leidenschaft! Verliebter!
Erscheine du, gestaltet wie ein Seufzer,
Sprich nur ein Reimchen, so genügt mir's schon,
Ein Ach nur jamm're, paare Lieb' und Triebe u. s. f.

Shakespeare, Romeo und Julie.


Was die Romantiker aus dieser einfachen Figur gemacht, wie sie dieselbe
zum Grundgesetz aller dichterischen Produktion und zum Princip der
Lebensauffassung erhoben, das haben wir schon an einer andern Stelle
erwähnt. Ohne uns hier bei den grammatischen und syntaktischen Figuren,
der Jnversion, dem Anokalouthon, der Aposiopese und
Ellipse aufzuhalten, von denen die erstere durch kühnere Stellung der
Worte den Nachdruck verstärkt, während die andern durch Abkürzungen,
Auslassungen, Errathenlassen die Aufmerksamkeit herausfordern, erwähnen
wir noch


9) die Onamotopöie, eine sprachliche Tonmalerei, welche das
natürliche Geräusch durch den Klang der Worte nachzuahmen sucht.
Bekannt ist der Vers der Homerisch-Vossischen Odyssee:


Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor.


Auch Goethe's Faust enthält einige schöne onomatopöiische Stellen:


Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt,
Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste
Und Nachbarstämme quetschend niederstreift,
Und ihren Fall dumpf hohl der Hügel donnert.


oder:


Horch, es splittern die Säulen
Ewig grüner Paläste
Girren und Brechen der Aeste!
Der Stämme mächtiges Dröhnen,
Der Wurzeln Knarren und Gähnen!
|#f0206 : 184|

Jm fürchterlich verworrenen Falle
Ueber einander krachen sie alle,
Und durch die übertrümmerten Klüfte
Zischen und heulen die Lüfte.


Diese Figur artet, ähnlich wie die Tonmalereien der Musik, leicht in
eine Künstelei und Spielerei aus und kann daher nur selten in Anwendung
gebracht werden. ──────


Dritter Abschnitt.

Ueber den Gebrauch des bildlichen Ausdruckes.


Die meisten Rhetoriker, auch die englischen, ein Home, Priestley
und Hugo Blair nicht ausgenommen, haben das Bild zu sehr als
eine eingelegte Zierde der Rede betrachtet, nicht als einen organischen
Theil der Dichtung, nicht in seinem tieferen Zusammenhange mit dem
Genius des Dichters und seines Jahrhunderts. Aus dieser äußerlichen
Betrachtungsweise hat sich ein langes Register von Regeln ergeben, das
von Pedanten nachgebetet, von einer schulmeisterlichen Kritik auf die
Erscheinungen der Gegenwart angewendet wird, wobei ganz unbeachtet
bleibt, daß dasselbe Verfahren den Flügelstaub von den Schwingen der
größten Genien aller Zeiten abstreifen würde! Doch die moderne
Literatur ist einmal der Sündenbock für die kritischen Exercitien jener
schwachen Köpfe, die durch Arroganz, anscheinende Sicherheit der
Behauptungen und eine dem oberflächlichen Verstande der Menge
schmeichelnde Verständigkeit ersetzen, was ihnen an Phantasie, Geschmack
und tieferer ästhetischer Bildung fehlt.


Der bildliche Ausdruck ist die organische Eigenthümlichkeit einiger großen
Dichtergenien, z. B. eines Shakespeare, Calderon, Jean Paul,
ganz abgesehen von den orientalischen Poeten, von Dichtern der Neuzeit,
wie Lenau, Grün u. A. Schon diese Thatsache wird uns gegen den
Vorwurf einer Ueberladung mit Bildern vorsichtig machen müssen,
ein Vorwurf, der aus jener oberflächlichen Theorie hervorgeht, nach welcher
die Bilder in einer so äußerlichen Weise der Dichtung angehängt
werden, wie sich die Wilden metallene Zierrathen an Ohren, Nasen |#f0207 : 185|

anhängen oder sich den Leib mit bunten Farben tätowiren. Ein phantasiearmer
Dichter oder Kritiker, dem nur selten die Gunst der Musen ein
Bildchen schenkt, mag sich besinnen, an welcher Stelle er es wohl am vortheilhaftesten
anbringt; aber große Dichter, die gewohnt sind in Bildern
zu denken, wobei der dichterische Gedanke keineswegs an Schärfe
und Klarheit verliert, können nicht als Zierrath und Schmuck vertheilen,
was aus dem unerschöpften Born ihres Genius mit innerer Nothwendigkeit
hervorquillt. Deshalb wird auch der strenge Maaßstab nüchterner
Korrektheit sich nicht mit Erfolg an eine Ausdrucksweise anlegen lassen,
dessen eingeborene Bildlichkeit allen Bewegungen und Flügen der dichterischen
Gestaltungskraft folgen muß! Oder sollte man ein Recht haben,
es an Shakespeare zu tadeln, wenn in der Sprache der Leidenschaft seine
Bilder oft in sonst unerlaubten Katachresen zusammenschmelzen, wenn eine
düst're Rembrandt'sche Beleuchtung den Bildern zwar die plastische Klarheit
und Bestimmtheit nimmt, aber sie wunderbar in das Stimmungselement
des Charakters und der Situation versetzt? Sollte man es
tadeln, wenn er, nach objektiver Wahrheit strebend, albernen Charakteren
alberne, bombastischen, wie z. B. dem Laertes im Hamlet, bombastische in
den Mund legt? Man wird für den Geschmack der Gegenwart allerdings
die Grenzen schärfer ziehen müssen, als sie Shakespeare gezogen; man
wird hier nicht nur die einzelnen Dichtgattungen, sondern selbst den
Unterschied des realistischen und idealistischen Styles berücksichtigen müssen;
aber man wird bei der Beurtheilung jenes großen Genius nicht seine
einzelnen Bilder nach Art der engherzigen englischen Kritiker, besonders
eines Home, zerfasern dürfen, ohne gegen höhere Gesichtspunkte ungerecht
zu werden. Noch weniger darf man freilich vergessen, daß die Bildlichkeit
des Styles nicht blos dem Genius Shakespeare's, sondern auch
seiner ganzen Zeit angehörte, daß seine Zeitgenossen Beaumont und
Fletcher, Massinger u. A. sich derselben bildlichen Ausdrucksweise, wenn
auch minder großartig und charakteristisch, bedienten, daß ebenso Calderon
sich in jenen mehr blendenden, als schlagenden Metaphern bewegte,
welche die ganze spanische Poesie vom Orient geerbt, und die ein geistiger
Niederschlag der maurischen Eroberung blieben. Und wie weit die orientalische
Bildlichkeit selbst davon entfernt ist, äußerlicher Zierrath der Dichtung
zu sein; wie sie im Gegentheil die organische Blüthe der religiösen |#f0208 : 186|

Weltanschauung des Orients ist und mit dem ganzen Volksgeiste auf's
Jnnigste zusammenhängt: das ist allzubekannt, als daß man es den einseitigen
Kritikern vorzuhalten brauchte, die mit ihrem aufdringlichen Verstand
alle Zeitalter und Dichtergenien hofmeistern. Die Folge einer
tieferen Einsicht in das Wesen des bildlichen Ausdruckes wird dann auch
mit Nothwendigkeit eine größere Liberalität bei der Beurtheilung der
Dichtungen der Neuzeit zur Folge haben. Denn auch die Neuzeit hat
Dichter von reicher Phantasie aufzuweisen, die zu den talentvollsten und
genialsten gehören, wie z. B. Lenau, und es ist ein schlechter Kunstgriff
einer blasirten Kritik, diese Dichter auf Grund ihres Bilderreichthums,
wegen dessen sie mit Shakespeare und Calderon in einer Linie
stehen, mit Lohenstein und Hoffmannswaldau in eine Linie zu
stellen. Dieser Kunstgriff beruht auf einer wohlfeilen Erschleichung, indem
der Kritiker sich nur an die Quantität der Bilder hält und dabei ihre
Qualität unberücksichtigt läßt. Doch nicht blos die Anlage des einzelnen
Dichters, auch die Kultur unserer gegenwärtigen Epoche rechtfertigt
unmittelbar einen bilderreichen Styl. Nicht blos die Natursymbolik des
Orientes, nicht blos die maurisch=spanische Phantasie mit ihrer südlichen
Farbengluth: auch der erwachende freie Protestantismus, die junge
Nationalkraft Alt-Englands zu Shakespeare's Zeit schwelgte im Bilderreichthum
der Diktion, der erst im englischen Drama wieder verschwand,
als die Korrektheit und Armuth der französischen Muster die Tragödieen
eines Addison, Rowe, Congreve u. A. zu beherrschen anfing. Der
beginnende Weltverkehr der brittischen Nation hatte den Geistern nach
außen große Perspektiven geöffnet; die protestantische Gewissensfreiheit
ihnen die Welt der Seele in einem neuen Lichte gezeigt, das ihre verborgensten
Tiefen erhellte ─ dieser erschlossene Reichthum äußerer und innerer
Anschauungen befruchtete die Bildlichkeit des Ausdruckes; und die
Kühnheit einer jugendfrischen Phantasie zögerte nicht, sich dieser offengelegten
Schätze zu bemächtigen. Ohne Frage wird die Sprache der Dichter
bilderreicher werden, je reicher die Stoffwelt ist, aus der sie ihre
Anschauungen entnehmen, und die Bilderarmuth der alten Volksepen
hängt, abgesehen von der Eigenthümlichkeit des epischen Styles, gewiß
auch mit der Armuth der Kulturverhältnisse zusammen, aus denen heraus
sie gedichtet sind. Die religiöse Phantasie aber, die im Orient hängende |#f0209 : 187|

Gärten voll Bilderpracht zwischen Himmel und Erde trieb, schuf bei den
alten Griechen plastische Göttergestalten, so daß der Ueberschuß an Bildlichkeit
ein geringer blieb, da die religiöse Phantasie fast ganz in diesen
festen, menschgewordenen Bildern aufging!


Welche Zeit ist aber reicher an großartigen Weltperspektiven, an einer
stets neue Bilder aus dem großen und kleinen Kosmos heraufzaubernden
Kenntniß, als die unsrige? Welche Zeit hat größere Krisen menschheitlicher
Entwickelung hinter sich? Welche Zeit hat die Seele des Menschen
tiefer durchforscht? Die dichterische Stoffwelt hat außerordentlich an
Fülle gewonnen, und ein reicher Genius braucht sich nicht in den ausgefahrenen
Gleisen der hergebrachten Bildlichkeit zu bewegen; ihm ist eine
neue Welt erschlossen, die ihm bereitwillig zu neuen Vertauschungen und
Bildern ihre Schätze hergiebt. Wir sind indeß weit davon entfernt zu
behaupten, daß die Bildlichkeit des Ausdruckes eine unerläßliche Forderung
für die Schönheit des dichterischen Styles sei. Der einfache Lyriker,
der plastische Epiker kann sich ebenso mit den eigentlichen Ausdrücken
begnügen; ja es giebt dichterische Talente, welche die Klarheit der
Anschauung und Jnnigkeit der Empfindung angemessen nur ohne alle
Bildlichkeit auszudrücken vermögen. Der Dramatiker kann ebensogut
in gedankenvollen Antithesen, wie Schiller, als in schlagenden Metaphern,
wie Shakespeare, den angemessenen Ausdruck seines Pathos finden.


Doch für ein vorzugsweise phantasiereiches Talent müssen aus dem
Receptenbuch der alten Rhetorik einzelne Vorschriften ausgezogen werden,
um den Gebrauch der Bilder zu regeln, freilich nicht ohne das Bekenntniß
vorauszuschicken, daß diese gültigen Normen des Ausdrucks den
höheren Gesetzen der dichterischen Charakteristik im Kollisionsfalle nachstehen
müssen. Auch im Uebrigen muß diese Menge von Recepten verringert
werden; es sind Regeln aufgestellt, wie z. B. die sinnliche
Anschaulichkeit des Bildes,
die für die stimmungsvollen Bilder des
Gemüthes nicht passen, und denen man die schönsten Vergleichungen
Ossian's als fehlerhaft opfern müßte. Wir betrachten zuerst das Bild
an und für sich, dann das Bild in Bezug zu anderen Bildern und zuletzt
das Bild in Bezug auf seine Angemessenheit zu den einzelnen Dichtarten.



1) Zu den Fehlern des einzelnen Bildes rechnen wir:

|#f0210 : 188|


a. Die Unrichtigkeit, ein Verstoß gegen die natürliche Wahrheit
der Dinge.


Den Honig irdischer Weisheit sammeln wir nicht aus Blumen ein, sondern
aus Dornen.Bulwer.


b. Die Unangemessenheit, wenn das Bild zu groß oder zu klein
ist für den verglichenen Gegenstand. Solche Bilder finden sich häufig bei
Jean Paul, z. B.:


Natur, du ruhest vor dem nassen Auge, wie ein grünendes, abendrothes
Gebirge.Titan.


Die Natur, die gestern ein flammender Sonnenball gewesen, war heute ein
Abendstern voll Dämmerlicht.Titan.


c. Die Mattigkeit, wenn der Vergleichungspunkt nicht schlagend
genug hervortritt. Dies ist der größte Fehler des bildlichen Ausdruckes,
indem er nicht nur dem Styl einen frostigen Charakter giebt, sondern
überhaupt das Bild als einen überflüssigen Luxus erscheinen läßt. Die
Metapher besonders muß den Ausdruck abkürzen, nicht schleppend
machen; sie muß aus dem Gedanken organisch herauswachsen, nicht beiläufig
neben ihm herleuchten.


Die Metapher darf zwar ebenso das Sinnliche vergeistigen, wie
das Geistige versinnlichen. Lenau ist ein Meister in der Kunst dieser
träumerischen Naturbeseelung. Solche Metaphern aber werden leicht
frostig und matt, wenn der Vergleichungspunkt nicht schlagend genug das
Gemüth erfaßt. Noch mehr gilt dies von ausgeführten Vergleichungen, in
denen das geistige Bild zu abstrakt angedeutet oder ausgeführt wird, z. B.


Gleich dem ewigen Frieden schimmert
Ruhig, klar und grün das Meer.

Anastasius Grün.


Wie ein großer Gedanke sich losreißt
Aus dem Haupte eines Genius,
Also springt aus des Kasbek steinernem Haus
Der brausende Terekfluß.

Bodenstedt.


Matt wird auch die schlagende Metapher, wenn sie weiter ausgesponnen
wird, als der Fonds ihrer Aehnlichkeit verstattet, der für eine
Metapher, aber nicht für eine Allegorie ausreicht, z. B.

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Was sagst du? Wie gefällt dir dieser Mann?
Heut Abend sahst du ihn bei uns'rem Fest.
Dann lies im Buche seines Angesichts,
Jn das der Schönheit Griffel Wonne schrieb.
Betrachte seiner Züge Lieblichkeit,
Wie jeglicher dem andern Zierde leiht.
Was dunkel in dem holden Buch geblieben,
Das lies in seinem Aug' am Rand geschrieben,
Und dieses Freiers ungebund'ner Stand,
Dies Buch der Liebe braucht nur einen Band.
Der Fisch lebt in der See und doppelt theuer
Wird äuß'res Schön, als inn'rer Schönheit Schleier.
Das Buch glänzt allermeist im Aug' der Welt,
Das gold'ne Lehr' in gold'nen Spangen hält.

Shakespeare, Romeo und Julie.


Wer fühlt nicht heraus, wie diese breitgeschlagene Metapher durch
ihre Ausführung mit jeder Wendung matter und gezwungener wird,
abgesehen davon, daß ein eingeschobenes fremdes Bild die Allegorie
unterbricht. Shakespeare verspottet oft selbst diese ungebührlich breite
Ausführung des Bildes, die er „ein Gleichniß zu Tode hetzen“ nennt, ist
aber selbst am wenigsten frei davon.


d. Die Geschmacklosigkeit, wenn das Bild an und für sich
unziemlich und abstoßend, oder ungereimt und unsinnig (schwülstig,
bombastisch
) oder zu weit hergeholt ist, oder wenn, trotz des zutreffenden
Vergleichungspunktes, die verglichenen Gegenstände in allen anderen
Beziehungen so heterogen sind, daß die Unähnlichkeiten von selbst störend
hervortreten. Alle diese Fehler der Bildlichkeit im ernsten Style können
ebenso große Vorzüge im komischen sein. Selbst das anscheinend
zu weit hergeholte und gelehrte Bild, das eines Kommentars bedarf,
kann diesen Kommentar ungezwungen im komischen Style finden, wie
dies z. B. bei Jean Paul der Fall ist. An geschmacklosen Bildern sind
nicht nur Lohenstein und Hoffmannswaldau, sondern auch Shakespeare
und seine Zeitgenossen, die Erstlingswerke Schiller's, die alten
und neuen Kraftdramatiker, selbst Anastasius Grün und Karl Beck
reich zu nennen. Unziemlich ist z. B. folgendes Bild:

|#f0212 : 190|

When You, great duke, shrunk trembling in Your palace,
And saw Your wife, the Adriatic, ploughed
Like a lewd whore, by bolder prows than Yours.

Otway, Venice preserved.


Unziemlich und ungereimt zugleich das folgende:


„Unglückselige Schwungsucht! uralte Buhlerin! Engel küßten an deinem Halse
den Himmel hinweg und der Tod sprang aus deinem kreißenden Bauche.


Schiller, Fiesco.


Gelehrte und weit hergeholte Bilder finden sich zahlreich bei Lohenstein;
doch sind auch Schiller und Goethe, der Richtung unserer
klassischen Literaturepoche gemäß, nicht davon freigeblieben. Beispiele
für die letzte Art der Geschmacklosigkeit sind nicht selten. Man weiß sich
oft zunächst nicht Rechenschaft zu geben von dem unbefriedigenden Eindruck,
den ein solches Bild hervorruft, bis man sich davon überzeugt, daß
die Unähnlichkeiten der verglichenen Gegenstände so auffallend sind, daß
sie sich der Phantasie, der zum Dichter betonten Aehnlichkeit zum Trotz,
aufdrängen. Wenn Gruen „Gott“ eine „graue, todte Pyramide
in der einsamen Wüste eines Priesterherzens nennt: so ist die Vergleichung
des höchsten geistigen Wesens mit einem leblosen Mauerwerk gewiß störend,
wird aber zunächst durch die stimmungsvollen Beiwörter gemildert, und
dann durch das geistvolle tertium comparationis, indem „Gott“ von
diesem Priester nur als eine abstrakte todte „Spitze“ aufgefaßt wird, wie
die Pyramiden spitze am Saume der einsamen Wüste auftaucht. Wenn
aber Betty Paoli dies Bild für ihre eigene Liebesempfindung benutzt:


So wird fortan in allen künft'gen Tagen
Hoch über allem Schmerz und aller Lust
Dein Bild als ew'ge Pyramide ragen
Jn der Sahara meiner tiefsten Brust ─


so wird es im höchsten Grade geschmacklos. Die Aehnlichkeit, das
Monumentale und deshalb Unvergeßliche des Bildes im traurig einsamen
Herzen, verschwindet gegen die auffallende Unähnlichkeit der verglichenen
Gegenstände, indem der Begriff einer Pyramide, eines todten,
grauen, steinernen, spitz zulaufenden Bauwerkes, in allen seinen Bestimmungen
dem lebensvollen „Bilde des Geliebten“ so heterogen ist, daß
der Kontrast in's Komische hinüberspielt.

|#f0213 : 191|


e. Die Trivialität, wenn ein Bild durch die Ueberlieferung und
den häufigen Gebrauch stereotyp geworden. Die Sterne und Blumen,
die Rosen und Lilien, die Pfeile der Liebe, das Rad der Zeit ─ wer kennt
nicht diesen reichen Hausschatz bildlicher Wendungen, der sich von Tag
zu Tag vermehrt und mit welchem die Phantasie der geistig Armen
wuchert? Freilich muß man sogleich hinzufügen, daß auch große und
phantasiereiche Dichter sich dieser oft gebrauchten Bilder bedienen, aber
ihnen durch die Kraft ihrer Originalität einen neuen Reiz verleihn.
Dasselbe Bild wird bei Shakespeare, Schiller und Goethe eine
durchaus verschiedene Physiognomie zur Schau tragen, welche, abgesehn
von der Eigenthümlichkeit des dichterischen Genius, durch den Hauch
der Stimmung, der darüber ausgegossen, durch die Eigenthümlichkeit
der bestimmten Situation und des bestimmten Charakters hervorgerufen
wird. Dieser über dem Ganzen schwebende Duft des Talentes entzieht
sich jeder näheren Analyse; doch würde eine Zergliederung ergeben,
daß die Neuheit des scheinbar abgenützten Bildes durch die Zuthat
charakteristischer Nebenumstände, durch weitere allegorische Ausführung,
durch bildlichen Gegensatz und durch seine Verkettung mit anderen Bildern
erzeugt wird.


2) Nachdem wir das einzelne Bild an und für sich betrachtet, wollen
wir es in seiner Zusammenstellung mit andern und in seiner Beziehung
zum eigentlichen Ausdruck in's Auge fassen. Hier stoßen wir auf die
Fehler, welche man Katachresen zu nennen pflegt, deren Theorie indeß
einer Revision bedarf und zwar einer gründlicheren, als sie die Grenzen
unseres Werkes gestatten.


Die eigentliche Häufung der Bilder findet Statt, wenn mehrere
Bilder denselben Gedanken ausdrücken. Hierbei kann es nicht darauf
ankommen, die Prägnanz des Ausdruckes zu erhöhen, sondern entweder
wiegt die Freude am luxuriösen Spiel der Phantasie und dem Reichthum
der Anschauungen und Beziehungen vor, oder die Bilder dienen zum verstärkten
Ausdruck eines Gefühles, welches von seinem Gegenstande so voll
ist, daß es sich von demselben nicht losreißen kann, sondern ihn mit immer
neuen Farben schmückt. Dadurch gewinnt diese Häufung der Bilder
eine Bedeutung für den charakteristischen Ausdruck im Drama, und in
der That machen die Dramatiker aller Zeiten, Aeschylos, Calderon |#f0214 : 192|

und Shakespeare nicht selten von ihr Gebrauch. Die hebräische Poesie,
bei welcher der Parallelismus des Ausdruckes zur starren Eigenheit des
Styles geworden, häuft in der Regel zwei oder drei Bilder, schon dieser
formalen Symmetrie wegen, in welcher zugleich ihr musikalischer Rhythmus
besteht. Ebenso huldigt die indische, persische, arabische und nach
ihr die spanische Poesie diesem Luxus der Phantasie, welcher den einen
Gedanken gleichsam unter einer Bilderfülle verschüttet. Hier liegt aber
die Gefahr nahe, den Gedanken zu verwässern, statt ihn zu verstärken,
und in der That macht die spanische Lyrik und Dramatik gerade
durch die Häufung der Bilder oft einen schwächlichen Eindruck, denn
die Phantasie wird ermüdet durch den immer neuen Anlauf, der sie nicht
weiter bringt. Wenn Calderon den raschen Wechsel des Glückes und
die Vergänglichkeit des irdischen Lebens schildert und folgende Bilder
häuft:


Nicht erwägend, wie so oft
Sich des Glückes Wirkung ändert,
Wie das Leben gleicht dem Flor
Einer Blume, die sich aufzehrt,
Gift'ger Wurm im eig'nen Schooß,
Einem Mandelbaum voll Blüthen,
Der, auf seine Schönheit stolz,
Bei der Mittagswinde Säuseln
Pracht und Eitelkeit verlor;
Einem Bau, der schier ein Atlas
War der Sphärenregion,
Und im Staub, vom Blitz zerschmettert,
Auflöst seinen eiteln Pomp;
Einer Flamme, die durch's Dunkel
Strahlt ein leuchtend Meteor,
Aber Licht und Schimmer einbüßt
Bei des Windes leisem Stoß.

Calderon, die große Zenobia nach Gries.


so hat er selbst das naive Bewußtsein von der Wirkung, welche diese
Bilderfülle hervorbringen muß; denn er läßt seinen Helden Decius den
Vers hinzufügen:


Doch warum dich so ermüden?


Hiermit ist eine andere Häufung von Bildern nicht zu verwechseln,
welches keineswegs nur einen Gedanken in blumiger Wiederholung |#f0215 : 193|

umschreibt, sondern einen und denselben Gegenstand von verschiedenen
Seiten beleuchtet und jede seiner Eigenschaften durch ein neues Bild verherrlicht.
Diese Häufung ist prägnanter und nicht so ermüdend, im
Gegentheil für eine warme und farbenreiche Schilderung geeignet. Wir
erinnern an die Bilder, mit denen der Sänger des Hohen Liedes jede
Schönheit seiner gefeierten Braut preist, oder mit denen Lord Byron
den schlummernden Don Juan schildert, über den sich seine liebende
Haidee neigt. So sagt auch Ossian in seiner Darthula:


Dein Antlitz glich dem Lichte des Morgens,
Dein Haar dem Fittig des Raben!
Deine Seele war so edel und mild,
Wie die Stunde der sinkenden Sonne!
Deine Worte glichen dem Lüftchen im Schilf,
Gleich dem flüsternden Strome von Lora.
Doch wenn das Tosen der Schlacht sich erhob,
Warst du wie ein stürmisches Meer.


Unter Katachresen versteht man Verstöße gegen die Einheit des
Bildes,
indem der Dichter entweder aus einem Bild in den eigentlichen
Ausdruck oder aus einem Bild in das andere verfällt; ja man hat sogar
die Anhäufung ungleichartiger Bilder, die von einem Gegenstand in
einem oder in mehreren zusammenhängenden Sätzen gebraucht werden,
für einen solchen Verstoß erklärt. Die Katachresen sind Sünden
gegen die Korrektheit des bildlichen Ausdruckes, gegen eine Forderung
der Kunst, welche stets höheren Forderungen nachstehen muß. Einer
faden und nüchternen Verstandeskritik bieten sie die willkommensten
Handhaben, besonders um sich den Versuchen der Gegenwart gegenüber
eine säuberliche Autorität anzueignen. Jn der That beruhen die meisten
Katachresen nur auf einer kühneren Jdeeenassociation, welcher die erregte
Phantasie mit Freuden folgt; sie sind Elisionen der Phantasie, und
wie die grammatischen und syntaktischen dem kühneren Style der
Dichtung unentbehrlich. Gerade der höhere, bewegte Odenschwung, der
Ausdruck einer großen Leidenschaft in der Tragödie, kann durch solche
Katachresen eine hinreißende Wirkung erzielen! Oder sollte es ein
Zufall sein, daß die großen Dichter aller Zeiten an ihnen so reich sind?
Sollten sie nur einer mäkelnden Kritik in die Hände gearbeitet haben?
Und waren die Kritiker des humanistischen Zeitalters nicht weiser, als ihre |#f0216 : 194|

modernen Nachtreter, indem sie die Katachrese nicht zu einem Fehler
der tropischen Darstellung, sondern selbst zu einem Tropus machten?


Zunächst ist die Anhäufung ungleichartiger Bilder in Bezug auf einen
und denselben Gegenstand nicht für einen Fehler zu halten. Wie arm
müßte eine Phantasie sein, welche dem Schiller'schen Schwung in jener
oft als unrichtig angeführten Stelle der „Jdeale“ nicht folgen könnte:


Kann nichts dich, Fliehende, verweilen,
O meines Lebens gold'ne Zeit?
Vergebens, deine Wellen eilen
Hinab in's Meer der Ewigkeit.
Erloschen sind die heitern Sonnen,
Die meiner Jugend Pfad erhellt;
Die Jdeale sind zerronnen,
Die einst das trunk'ne Herz geschwellt! u. s. f.


Die eigentliche Katachrese, wenn der Dichter aus einem Bild in
das andere fällt, ist, wie wir schon gesagt, eine Elision der Phantasie.
Sie beruht auf der Auslassung eines Mittelgliedes, ohne dessen verständige
Verbindung zwei Bilder ineinander geschmolzen sind. So z. B.:


Ob's edler im Gemüth, die Pfeil' und Schleudern
Des wüthenden Geschicks ertragen, oder
Sich waffnend gegen eine See von Plagen
Durch Widerstand sie enden?

Shakespeare, Hamlet.


„Sich gegen einen See von Plagen waffnen“ ist eine Katachrese,
welche der Verurtheilung von Seiten der Verstandeskritik anheimfällt.
Nur eine ärmliche Phantasie denkt bei „sich waffnen“ an Speer und
Pfeil ─ es ist nur der lebendigere Ausdruck für die Wehr, die man einer
überschäumenden See entgegensetzt. Hier könnte man eher den Parallelismus
in den beiden Gliedern des bildlichen Gegensatzes vermissen.
Eine einfache Katachrese ist z. B.


Der Kugel Saat pfeift!


Doch ist dies kühner, als jede Metonymie oder Synekdoche? Bezieh'
ich nicht unmittelbar das „Pfeifen“ als zweites Bild auf das Subjekt
zurück und nicht auf das erste Bild, auf die Saat? Darf ich diese
Vermischung der Tropen nicht selbst zu den Figuren rechnen? Wie viele
abgeblaßte Metaphern hat die Sprache in ihren Adjectiven und Verben |#f0217 : 195|

bei deren Gebrauch selbst die Prosa sich fortwährender Katachresen schuldig
macht!


Die Grenzen sind also hier bei weitem enger zu stecken, wenn man
sich nicht die müßige Freude bereiten will, Regeln aufzustellen, welche
durch alle großen Dichter fortwährend übertreten worden sind. Wir
möchten zunächst zwischen tropischen Wendungen und ausgeführten
Bildern
unterscheiden, mögen es nun Gleichnisse oder Allegorieen
sein. Bei kurz hingeworfenen tropischen Wendungen halten wir die
Katachresen für erlaubt und den Dissonanzen in der Musik vergleichbar.
Es sind Ausweichungen der Phantasie, die aber bald wieder in die richtige
Bahn zurücklenkt und durch jene kleinen Ausschreitungen, die ebensoviele
Kühnheiten sind, angenehm erregt wird. Zu Hülfe kommt hier
jener fortdauernde Verwandlungsproceß der Sprache selbst, welche
uneigentliche Ausdrücke in eigentliche umschafft, bei denen die ursprüngliche
bildliche Bedeutung verblaßt. Der Sprachgebrauch arbeitet von
selbst auf diese Vergeistigung des Ausdruckes hin, und es bedarf oft einer
gewaltsamen Besinnung der Phantasie, um auf seine ursprüngliche Bildlichkeit
zurückzugehn und vielleicht eine durch dieselbe hervorgerufene
Katachrese zu entdecken. Dagegen hat das weiter ausgeführte Bild
den selbstständigen Reiz eines dichterischen Gemäldes; hier kommt es auf
die harmonische Zusammenstimmung der einzelnen Züge an, und hier
würde die Katachrese ein entschiedener Fehler sein, indem sie die Phantasie
gewaltsam und andauernd aus einem Bilde herausreißt und den
Rahmen des Gemäldes sprengt. So halten wir die Schlußverse in
Goethe's „Tasso“ für eine fehlerhafte Katachrese:


O edler Mann, Du stehest fest und still,
Jch schaue nur die sturmbewegte Welle,
Allein bedenk' und überhebe nicht
Dich Deiner Kraft! Die mächtige Natur,
Die diesen Felsen gründete, hat auch
Der Welle die Beweglichkeit gegeben.
Sie sendet ihren Sturm, die Welle flieht
Und schwankt und schwillt und beugt sich schäumend über.
Jn dieser Woge spiegelte so schön
Die Sonne sich, es ruhten die Gestirne
An dieser Brust, die zärtlich sich bewegte,
|#f0218 : 196|

Verschwunden ist der Glanz, entflohn die Ruhe ─
Jch kenne mich in der Gefahr nicht mehr,
Und schäme mich nicht mehr, es zu bekennen.
Zerbrochen ist das Steuer, und es kracht
Das Schiff an allen Seiten. Berstend reißt
Der Boden unter meinen Füßen auf.
Jch fasse Dich mit beiden Armen an.
So klammert sich der Schiffer endlich noch
Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.


Tasso vergleicht sich anfangs mit den sturmbewegten Wellen, und
nachdem die Phantasie sich diesem herrlich ausgemalten Bilde mit Wohlgefallen
hingegeben, verwandelt sich die Welle plötzlich in den scheiternden
Schiffer.
Diese Katachrese ist um so empfindlicher, als die
andern Elemente des Bildes unverändert bleiben, denn die Phantasie
verträgt eher einen kühnen Sprung in einen andern Kreis der Stoffwelt,
als eine Metamorphose, während sie in dem Rahmen desselben Bildes
verharren muß. Solche Katachresen sind die härtesten z. B.


Du kannst nicht klagen, daß ich Dich vergessen,
Sieh' her, in meines Herzens off'ne Wunden
So viele Stunden, als ich dich besessen,
So viele Narben werden drin gefunden.

Dingelstedt.


Der Dichter, der auf die off'nen Wunden seines Herzens zeigt und
dieselben in einem Augenblick in Narben verwandelt, muthet der Phantasie
zuviel zu, die einer solchen Eskamotage nicht folgen kann.


Unmöglich kann man indeß von Katachresen sprechen, wenn viele
selbstständige bildliche Appositionen neben dem Hauptwort stehn:


Der Königsthron hier, dies gekrönte Eiland,
Dies Land der Majestät, der Sitz des Mars,
Dies zweite Eden, halbe Paradies u. s. f.

Shakespeare.


oder wenn in einem Relativsatze ein neues Bild angeknüpft wird, da dies
einen selbstständigen grammatischen Rahmen hat: z. B.


Jn diesem Jahrhundert durfte der Mensch nicht bei sich selbst
den Keim eines Talentes suchen, dessen Quelle sinnlich ist.


Noch wird die Vermischung des bildlichen und eigentlichen Ausdruckes |#f0219 : 197|

zu den Katachresen gerechnet. Solche Katachresen sind oft eine leicht zu vermeidende
Jnkorrektheit. Wenn ich z. B. sage: die Säule des Staates
nimmt Abschied,
so ist dies eine Katachrese. Setz' ich aber das
Bild als Apposition, sag' ich: dieser Held, die Säule des Staates,
nimmt Abschied, so ist die Katachrese vermieden. Schon aus diesem
einen Beispiel sieht man, das diese Katachresen meistens nur grammatische
Licenzen sind, welche durch eine kleine Ergänzung der Phantasie gerechtfertigt
werden.


3) Wichtiger, als diese Vermischungen der Bilder, scheint uns der
Fehler in ihrer Anwendung, der gegen die bestimmten dichterischen Gattungen
verstößt. Eine kurze Metapher im Epos, ein ausgeführtes
Gleichniß, eine breit ausgesprochene Allegorie im Drama, ein allzuschwunghaftes
Bild im Liede, eine triviale Vergleichung in der Ode
scheinen uns Verstöße, welche bei häufiger Wiederkehr den ganzen Organismus
des Kunstwerkes gefährden. So sind die Bilder in Goethe's
Dramen meistens episch ausgeführt und legen mehr als alles Andere für
Goethe's vorzugsweise epischen Styl und seine geringere Befähigung für
das Drama Zeugniß ab. Man braucht sie nur mit Shakespeare's
Metaphern zu vergleichen, um sich davon zu überzeugen. Wir haben
schon oben das episch ausgeführte Schlußbild aus Tasso angeführt, wir
könnten noch mehrere Gleichnisse aus der „Jphigenie“ zum Beleg citiren.
Der Dichter kann es nicht unterlassen, Nebenbestimmungen, die episch
hemmend sind, und bei denen die dramatisch schlagende Vergleichung aufhört,
mit in das Bild aufzunehmen z. B.


Denn wie die Fluth, mit schnellem Strome wachsend,
Die Felsen überspült, die in dem Sand
Am Ufer liegen: so bedeckte ganz
Ein Freudenstrom mein Jnnerstes.


Wie charakteristisch ist nicht der Zusatz, aber wie undramatisch die
homerische Vergleichungsweise! Umgekehrt geben Ossian's oft kurze und
stimmungsvolle Metaphern seinen epischen Gedichten einen lyrischen Beigeschmack,
obgleich es ihm nicht an zahlreichen ausgeführten Gleichnissen
fehlt.

|#f0220 : 198|

Vierter Abschnitt.

Vers und Reim.


Die Dichtkunst hat die selbstständige Musik der Sprache in ihren
Dienst genommen und ausgebildet. Jm Rhythmus trägt sie auf die
Sprache, durch die Wiederkehr derselben Momente, ein ideales Zeitverhältniß
über und entbindet, unter diesem Taktschema, die Stärke und
Schwäche der Sprach-Elemente zu einem musikalischen Gange; im
Reime aber läßt sie die Klangfähigkeit der Sprache zu ihrem Rechte
kommen und erzeugt, durch die Wiederholung derselben Klänge, einen
sprachlichen Akkord, der sowohl die Grenze des einzelnen Verses schärfer
markirt, als auch das Gefühl koncentriren hilft.


Der Rhythmus wird also zunächst wie ein abstraktes Schema über
die Sprache ausgebreitet; er ist eine auf die Sprache angewendete Zeit=
Eintheilung. Es kommt nun darauf an, welche Elemente der Sprache
er zu ihrer Belebung gebrauchen kann, und in der That unterscheiden
sich hiernach die beiden Hauptsysteme der Rhythmik ─ das altklassische
und das romanisch=germanische. Die regelmäßige
Wiederkehr der Längen und Kürzen, welche den Rhythmus hervorruft,
macht es zunächst nothwendig, die Längen und Kürzen zu bestimmen.
Die Plastik der Griechen und Römer gab auch gleichsam der
Sprache einen schönen Leib; sie maß die Sylben nach ihrer Quantität
mit aller Strenge und bestimmte ihre Länge und Kürze nach feststehenden
Grundsätzen der Messung für die Poesie, abweichend von der Aussprache
des gewöhnlichen Lebens. Jede Sylbe hatte ihre kanonische Bedeutung
in der Prosodie, und nur durch die Stellung, die Position, durch welche
kurze Sylben lang werden konnten, kam eine etwas freiere Bewegung
in diese stereotype Welt des strengen Maaßes. Dabei kam es auf die
Bedeutung der Sylben im Worte oder als Wörter nicht an: die kleine
Partikel konnte lang sein, während das zweisilbige Adjectivum aus zwei
Kürzen bestand; die Stammsylbe kurz, während eine der abgeleiteten
Flexionssylben als Länge gemessen wurde. Es war, als ob die Sprache
sich einer besondern Leiblichkeit erfreute und dieser Leib, wie der plastische
Leib der olympischen Ringer und der meerentsteigenden Phrynen, seine
eigene Seele habe.

|#f0221 : 199|


Gegenüber dieser strengmessenden, quantitirenden Rhythmik steht
die altdeutsche accentuirende, welche die Längen nur nach dem
Accent, d. h. nach der Bedeutung der Sylbe im Worte oder als Wort
bestimmt. Jn diesem System der Hebung und Senkung wurden die
bedeutungslosen Sylben, die Kürzen, ihrer Zahl nach nicht einmal
beachtet; es kam in dem Verse nicht einmal auf ihre Stellung vor oder
nach der Länge an, sondern die Zahl der Längen, der Hebungen,
bestimmte den Vers, der dadurch, auf Kosten der rhythmischen Freiheit,
eine freie und charakteristische Beweglichkeit gewann. Gerade die
schwankende, hin und her wogende Rhythmik machte für diesen Vers den
Reim zu einer Nothwendigkeit, der sowohl seine Grenze fixirte, als auch
die mangelhafte Musik des Rhythmus durch seinen volltönenden Schlußakkord
ergänzte.


Mit der selbstständigen Nachbildung der antiken Metren, durch welche
sich Voß und Klopstock große Verdienste um die Entwickelung unserer
Literatur erworben, wurde indeß auch die Fähigkeit der deutschen Sprache
zu einer strengeren rhythmischen Behandlung nachgewiesen, und es kam
darauf an, eine Mitte zwischen den beiden Systemen zu suchen, welche
dem Geiste der fortentwickelten Sprache angemessen war. Voß legte in
seiner „Zeitmessung der deutschen Sprache“ die Grundlagen
unserer modernen Metrik, indem er zwar die Längen und Kürzen der
deutschen Sylben maß, aber nicht nach den Regeln der Griechen und
Römer. Die germanistische Reaktion gegen diese Zeitmessung, die Rückkehr
zum Princip der bloßen Betonung, der Hebungen und Senkungen,
kann nur für beschränkte Versformen Anerkennung finden und würde bei
konsequenter Durchführung unser musikalischgebildetes Ohr wieder an
eine rohere Rhythmik gewöhnen, welche der Fortschritt der Literatur selbst
beseitigt hat. Das einzige Ueberbleibsel dieser älteren rhythmischen Praxis
ist die „Nibelungenstrophe,“ in deren Anwendung indeß auch das allzu
Unregelmäßige in der Aufeinanderfolge der Längen und Kürzen heutzutage
beseitigt wird. Wo sonst dies System der Hebungen und Senkungen
zur Anwendung kommt, wie z. B. in Schiller's „Bürgschaft,“ Heine's
„Liedern,“ Waldau's „Cordula,“ beschränkt es sich mit Recht darauf,
daß die Zahl der Kürzen freigegeben ist, daß es gleichgiltig ist, ob und
an welcher Stelle ich eine oder zwei Kürzen in die Senkung setze, |#f0222 : 200|

während die Aufeinanderfolge der Kürzen und Längen, der entweder
jambische oder trochäische Charakter, regelmäßig festgehalten wird. Auf
der andern Seite würde das Bestreben, die deutschen Sylben nach griechischen
Regeln zu messen, eine Sylbe wegen des gedehnten Vokals, des
Doppellautes, des Begegnens mehrerer Konsonanten als lang bestimmen
zu wollen, nur eine lächerliche Pedanterie sein, die mit dem Charakter
unserer Sprache in offenbarem Widerspruch stünde.


Da wir hier keine ausführliche Prosodie und Metrik geben können*),
so wird es genügen, einige Hauptbestimmungen anzuführen. Die Sylben
der deutschen Wörter sind entweder lang, kurz oder mittelzeitig
(schwebend
). Wie schon Lachmann bemerkt, ruht der Hauptton im
Deutschen in der Regel auf der ersten Sylbe.


Lang sind alle einsylbigen Haupt- und Stammsylben, Substantive
und Adjective, alle einsylbigen Zeitwörter, Zahlwörter u. s. f.


Lang sind alle Stammsylben auch in Zusammensetzungen, selbst
wenn sie den Accent verloren haben; ferner die Endungen aller Substantive,
Adjective und Adverbien, welche von veralteten Stämmen
abgeleitet werden.


Kurz ist der bestimmte Artikel, es, er, du, sie, zu vor den Jnfinitiven,
so vor dem Nachsatz, die Präpositionen in, an, zu, die Vorsylben,
die ein e haben, die Veränderungssylben, die ein tonloses e haben, in der
Deklination und Konjugation, die Ableitungssylben, die ein e haben.


Mittelzeitig sind kurze Sylben, die durch ihre Stellung im Verse
lang werden können z. B. ein, und, ich, du, er, sie, bis, nach,
nie,
die Vorsylben mit, voll, un, die Endungen ung, niß, lig,
lich, icht, ei
und lei, die Envokale a, o, e.


Die weitere Ausführung mag man in den in der Note bezeichneten
Werken nachlesen! Diese Bestimmungen sind nicht willkürlich, und
durch ihre strenge Beobachtung, wie wir sie besonders bei Platen finden,

*)
Wir verweisen in Bezug auf die antike Metrik auf zwei gründlich eingehende
Werke: Munck, die Metrik der Griechen und Römer (1834); Freese, griechischrömische
Metrik (1842); in Bezug auf die altdeutsche besonders: Lachmann, über
althochdeutsche Betonung und Verskunst (Abhandl. der Königl. Akademie 1834); über
neue Metrik: Voß, Zeitmessung der deutschen Sprache, 2te Ausgabe 1831; besonders
Minckwitz: Lehrbuch der deutschen Prosodie und Metrik, Leipzig 1844.
|#f0223 : 201|

gewinnt die Architektonik des Versbaues eine der antiken Plastik sich
nähernde Grundlage, ohne den freieren Schwung der deutschen Gedankenlinien
einzubüßen. Es ist für die Bildung der Gegenwart unmöglich,
wie Platen's Dichter „Kind“ im „romantischen Oedipus,“ Holzklotzpflock
als Daktylus zu benutzen; und ähnliche Daktylen bei Schiller
berühren das Ohr auf das Unangenehmste.


Durch Vereinigung mehrerer Längen und Kürzen entsteht der Versfuß,
durch Verbindung mehrerer Versfüße die Versreihe, welche entweder
allein oder in Verbindung mit einer andern den Vers bildet. Die
Versfüße sind entweder gleichmäßig und bestehn nur aus Längen oder
Kürzen, oder ungleichmäßig, indem sich Längen und Kürzen vermischen.
Der einzelne Vers selbst wird sichtlich gegen den nächstfolgenden
abgegrenzt, eine Grenze, die im Hexameter der im sechsten Fuß allein
gültige Spondäus bezeichnet, während sie am schärfsten in der neuern
Dichtung durch den Reim bestimmt wird.


Das Geheimniß der Rhythmik besteht in dem Wechsel von Hebung
und Senkung, Arsis und Thesis; in der Hebung dürfen im
Deutschen nur Längen stehn; ein Lesen mit Beachtung der rhythmischen
Bewegung nennt man Skandiren. Jeder Einschnitt des Wortfußes
in den Versfuß ist eine Cäsur im weitern Sinne; Cäsur im engern
Sinne ist der Hauptabschnitt in der Mitte der größern Verse, der die
Abtheilung in zwei ganz gleiche Hälften verhindert. Häufige Cäsuren
im weitern Sinne, Verschlingungen der Wort- und Versfüße, geben
dem Vers größere Beweglichkeit und rhythmische Kraft, während das
häufige Zusammenfallen Beider dem Vers eine einschläfernde Monotonie
giebt z. B.


Deine Blumen kehren wieder
Deine Tochter kehret nicht!


Jndem der Ab- und Aufschwung des rhythmischen Taktes die Seele
in eine freiere Stimmung versetzt und den dichterischen Gedanken nicht
hemmt, sondern trägt, gewährt er zugleich das Recht zu Freiheiten der
Sprache, welche das erhöhte Bewußtsein dieser Stimmung geben. Hierher
gehören zunächst die syntaktischen Licenzen, welche dem Dichter
erlauben, zu den naiven Konstruktionen der werdenden Sprache zurückzukehren.
Er darf das Zeitwort im Deutschen vor das von ihm regierte |#f0224 : 202|

Object, das Adjectivum nach das Substantivum setzen, den Genitiv durch
Einschiebung von unbedeutenden Wörtern von seinem Subject trennen
u. s. f. Eine zweite Licenz, deren Mißbrauch allerdings verderblich werden
kann, ist die Elision, die Ausstoßung von Vokalen. Jn der Regel
findet sie statt, um den Hiatus, das Zusammentreffen zweier Vokale,
zu vermeiden; seltener darf sie vor Konsonanten eintreten. Sie ist erlaubt


1) Bei dem e des Genitivs und Dativs, wo sich auch die Prosa
ihrer bedient, z. B. des Freunds, dem Freund statt des Freundes, dem
Freunde.


2) Bei dem e im Präsens und Jmperativ, mag nun ein Vokal oder
Konsonant folgen; ich seh' ihn, ich seh' die Stadt.


3) Bei dem e des Jmperfektums, wenn ein Vokal folgt: stellt' ich,
nur nicht wenn es dann für das Ohr mit dem Präsens zusammenfällt;
wie: stellt' er.


4) Bei dem e und i in der Mitte der Adjektive und Participien
z. B. errung'ner Sieg, ros'ge Wange.


Dagegen ist die Elision störend


1) Bei dem e des Jmperfektums, wenn ein Konsonant darauf folgt
z. B. jagt' jener, macht' seine Rechnung er.


2) Bei dem e des Nominativ im Singular z. B. die Erd' ist rund, eher
schon erlaubt im Plural: die Stern' am Horizont. Oeftere Elisionen dieser
Art geben dem Style große Härte und lassen die einzelnen Wortstämme
gleichsam kahl und ihrer schützenden Aeste beraubt dastehen. Ebenso
unmöglich ist eine Elision wie „süß' Empfindungen“ obwohl der
Hiatus hier ebenso unerträglich ist. Was diesen selbst betrifft: so läßt er
sich in der deutschen Sprache nicht immer vermeiden, und seine Härte ist
oft geringer, als die einer gewaltsamen Elision. Am härtesten ist der
Zusammenstoß zweier e: z. B. seine⁀Ehe, liebte⁀er, dann der des
e und i: z. B. liebe⁀ich, hoffe⁀ich und zweier u und o: z. B.
du⁀Unsel'ge. Doch ist selbst Platen hiervon nicht ganz frei, z. B.:


und so⁀oft in erneuendem Umschwung
Jn verjüngter Gestalt aufstrebte die Welt.

Romantischer Oedipus.


Bei solchen Wendungen und Partikeln, wie: die er, die ihr, wie
ich, so oft
ist er in der That, da sie sich nicht umgehen lassen, im Deutschen |#f0225 : 203|

zu dulden, um so mehr, als das Ohr hier leichter über die einsylbigen
Wörter hinweggleitet. Doch ist Achtsamkeit auf den Hiatus unerläßlich,
da ein mit seinen Mißklängen und außerdem mit harten Elisionen
ausgestattetes Gedicht einen durchaus unkorrekten und schülerhaften Eindruck
macht.


Was nun die einzelnen Versfüße betrifft, so wollen wir nur diejenigen
herausheben, welche für die moderne deutsche Dichtung wesentlich
sind.


Einfache Versfüße.


1) Der Trochäus, aus einer Länge und einer Kürze bestehend: _ ‿


Vater, Mutter, ging er.


2) Der Jambus, aus einer Kürze und einer Länge bestehend: ‿ _


geliebt, Gebet.


3) Der Daktylus, aus einer Länge und zwei Kürzen bestehend: _ ‿ ‿


z. B. selige, süßere.


4) Der Anapästus, aus zwei Kürzen und einer Länge bestehend: ‿ ‿ _


in der Nacht, er entkam, und es traf.


5) Der Spondäus, zwei Längen: _ _


Meerschiff, urbar.


6) Der Pyrrhychius, zwei Kürzen 7) Der Tribrachys, drei Kürzen
kommen in einzelnen Wörtern
im Deutschen nicht vor.

8) Der Kretikus, _ ‿ _, eine Länge, eine Kürze, eine Länge:


heißgeliebt, Vaterland.


9) Der Molossus, drei Längen: _ _ _


schwermuthsvoll, Urweltsnacht.


10) Der Amphibrachys, eine Kürze, eine Länge, eine Kürze: ‿ _ ‿


geliebte, du kennst mich.
Mehrtheilige Versfüße.


1) Der Choriambus, eine Länge, zwei Kürzen, eine Länge: _ ‿ ‿ _


wonnebeseelt, müde der Ruh, seliges Herz.


2) Der Antispastus, eine kurze, zwei lange und noch eine kurze
Sylbe umfassend: ‿ _ _ ‿


Triumphzüge, des Herrn Wille.

|#f0226 : 204|


3) Der erste Jonikus ‿ ‿ _ _ ‧


4) Der zweite Jonikus _ _ ‿ ‿ ‧


Die vier Epitrite, aus drei Längen und einer Kürze bestehend
und je nach der Stellung der Kürze an der ersten, zweiten, dritten oder
vierten Stelle in vier Klassen getheilt, sowie die vier Päone, aus drei
Kürzen und einer Länge bestehend und ebenfalls nach dem Platz, den die
Länge nimmt, unterschieden, mögen hier nur flüchtig erwähnt werden.


Wird der Jambus und Trochäus verdoppelt, so entsteht die jambische
und trochäische Reihe, Dipodie:


‿ _ ‿ _ |
_ ‿ _ ‿ |


Ueberhaupt sind im Deutschen selbstständig Versbildend von diesen
Versfüßen nur die vier ersten, der Trochäus und Jambus, Daktylus und
Anapästus, und außerdem etwa noch der Choriambus. Wir werden den
Charakter der durch sie gebildeten Versmaaße im nächsten Kapitel näher
untersuchen. Die übrigen Versfüße dienen nur als Ersatz zur Bereicherung
des Rhythmus oder finden in den verwickelteren Zusammensetzungen
der heroischen Odenstrophe und den deutschen Nachahmungen eine Stelle. ─
Wenn auch die deutsche Metrik exakt, die deutsche Rhythmik ausdrucksvoll
genug ist, den reimlosen Versen ein charakteristisches Gepräge zu geben:
so erschließt doch in allen germanischen Zungen erst der Reim den vollen
Zauber des sprachlichen Wohlklangs. Der Reim ist keineswegs die
Erfindung eines besonderen Volkes, der Araber oder irgend eines andern;
er ist eine innere Nothwendigkeit der accentuirenden Poesie, denn er hebt
den Accent hervor und kräftigt dadurch den Rhythmus. Schon die ältesten
poetischen Denkmäler in den romanischen Sprachen, im Provençalischen,
Alt- und Nordfranzösischen sind gereimt. Jm Althochdeutschen
gelangte der Endreim in der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts
zur ausschließlichen Herrschaft, und auch in der altnordischen z. B. der
isländischen Poesie herrschte der Reim im eigentlichen Volksliede (rùnhuda).
Der Endreim ging aus der Alliteration, der Wiederholung
von gleich oder ähnlich klingenden Konsonanten am Anfang der einzelnen
Wörter und Sylben, noch mehr aber aus der Assonanz, dem
Anklange der Vokale in mehreren aufeinander folgenden Wörtern oder
in den Schlußwörtern der Verse hervor. Diese historischen Vorklänge |#f0227 : 205|

des Reimes haben für unsere Zeit keine andere Bedeutung, als daß sie
mit Glück zu onomatopöischer Malerei angewendet werden können.


Der Reim, als der volle Gleichklang der Sylben und Wörter bei
verschiedenen Anfangsbuchstaben, behauptet seine Bedeutung für die
deutsche Poesie auch, seit dieselbe in ihrer Weise die antiken Versmaaße
nachgeahmt und dem eigenen Sylbenmaaß ein festes Gesetz gegeben. Da
sie dadurch nicht zu einer quantitirenden im alten, plastischen Sinne
des Wortes geworden, sondern eine accentuirende geblieben ist: so ist der
Reim nicht zu einem luxuriösen Klange herabgesetzt, sondern der nothwendige
musikalische Schlußstein des Rhythmus geblieben. Auch ist es
eine irrige Ansicht vieler Philosophen und Aesthetiker, daß der kunstvollere
Rhythmus und der Reim sich ausschließen, daß z. B. die Architektonik der
antiken Strophe den Reim unter keiner Bedingung ertrage. Sie vergessen
dabei ganz, daß der deutsche Rhythmus vom antiken wesentlich
verschieden ist, indem bei ihm nicht die Guantität, sondern der geistige
Accent entscheidet, und daß der Reim wesentlich dazu beiträgt, ihn hervorzuheben.
So sagt Guest in seiner „history of English Rhythmus“
(London, 1838, I., 116.): „Der Reim ist nicht, wie man gewöhnlich
glaubt, eine bloße Zierde; er markirt den Accent und hebt ihn hervor
und trägt und kräftigt dadurch den Rhythmus*).“ Seine Bedeutung
für die Strophenbildung werden wir später kennen lernen. Deshalb hab'
ich in meinen „Neuen Gedichten“ gewagt, die antiken Horazischen Strophen
zu reimen, indem ich überzeugt bin, daß gerade ihr rhythmischer
Gehalt, statt dadurch abgeschwächt zu werden, weit lebhafter hervorgehoben
wird und sich dem deutschen Ohr melodischer einschmeichelt. Die
Strophen selbst sondern sich klarer; unnöthige enjambements, Worthäufungen,
pedantische Konstruktionen werden vermieden, indem der Reim
selbst auf größere Lichtung des Ausdrucks hinwirkt; der rhythmische
Gang aber prägt sich durch den volltönenden Abschluß der Zeile um so
lebhafter dem Ohre ein. Sollte es mir nicht gelungen sein, die Vorzüge
dieser Neuerung zur Geltung zu bringen: so liegt der Fehler nur an der
Schwäche meines Talentes, keineswegs an dem Princip selbst, das ein

*)
It marks and defines the accent and thereby strengthens and supports
the rhythm.
|#f0228 : 206|

glücklicher begabter Dichter nach mir gewiß mit Erfolg in Anwendung
bringen wird.


Der Reim als ein sinnlicher Vollklang ist nur dann schön, wenn
dieser Klang mit voller Harmonie ausgeprägt ist; daher ist die Reinheit
des Reimes eines der wesentlichsten Erfordernisse gereimter Dichtung.
Jede Verkürzung seiner Schönheit macht ihn eigentlich überflüssig
oder verwandelt ihn in eine Assonanz. Das Beispiel unserer klassischen
Dichter ist hierin nicht maaßgebend; wir haben in Platen einen Klassiker
der Form, welchem die jüngere Generation nachstreben soll; denn der
Fortschritt der Sprache selbst erleichtert die Erfüllung der Forderungen,
welche die strenge Technik an den Dichter stellt.


Die Reinheit des Reimes wird erreicht:


1) Durch die vollkommene Gleichartigkeit der Vokale und Konsonanten.
Hiergegen wird besonders bei den Diphthongen gefehlt. Reime, wie
höhlt und fehlt, dräun und Reihn u. dgl. m., sind fehlerhaft, wenn
sie sich auch bei Schiller finden. Höchstens kann man den Reim eines
e und eines leicht betonten ä gestatten. Ebenso müssen die Konsonanten
sowohl in ihrer Aufeinanderfolge als in ihrem harten oder weichen Charakter
entsprechend sein. Reich und Zweig, eigen und Leichen sind
unreine und fehlerhafte Reime. Auch darf man nicht einen langen und
einen kurzen Vokal aufeinanderreimen z. B. Straßen und lassen,
Bahn
und heran.


2) Durch die Gleichartigkeit in Bezug auf den Accent. Man
darf nur Sylben reimen, auf denen der gleiche Accent ruht z. B. nicht:
Gĕbēt und lēbĕt, vĕrblīch und ērblĭch.


Man theilt die Reime in Bezug auf die Sylbenzahl in männliche
(einsilbige) z. B. Reim, Keim, weibliche (zweisylbige) z. B.
Wasser, Prasser, gleitende (dreisylbige) z. B. gleitende, schreitende.
Außerdem erwähnt man noch den zweisylbigen schwebenden
Reim, der, wie der gleitende aus Daktylen, so aus Spondäen besteht z. B.
ehrlos, wehrlos. Der sogenannte reiche Reim d. h. die vollständige
Wiederholung desselben Wortes in einer anderen oder gar in derselben
Bedeutung, ein Reim, der von der französischen Poesie in erste
Reihe gestellt wird, ist im Deutschen wohl ganz zu verwerfen und verdient
in unserer Sprache eher ein armer genannt zu werden; denn der |#f0229 : 207|

Reim verlangt außer dem Reiz der Wiederholung auch den leise angedeuteten
Reiz des Kontrastes, der durch die Verschiedenheit der Anfangs=
Konsonanten erzeugt wird.


Die eben angeführte Eintheilung der Reime ist keineswegs blos von
formalem Werth. Abgesehn davon, daß sie bei der Bildung der Strophen
durch den Wechsel längerer und kürzerer Verszeilen in's Gewicht fällt, hat
jeder dieser Reime seinen bestimmten Charakter. Der männliche giebt
dem Vers Ernst, Würde, Festigkeit, Energie; der weibliche Weichheit,
Milde, sanftes Hinschmelzen; der gleitende höchste Beweglichkeit und
Munterkeit, der schwebende eine gewichtvolle Hemmung und Besinnung.
Die beiden letzten werden indeß nur ausnahmsweise gebraucht,
sowie sich auch in den deutschen Gaselen hin und wieder ein gereimter
Kretikus findet. ─ Wenn die Reinheit des Reimes für seine sinnliche
Schönheit unumgänglich ist: so kann seine geistige nur durch die volle
Bedeutung des Wortes gewahrt werden, das sein Träger ist. Der
Reim ist der volltönende Schlußaccent des Verses ─ setzt man
ein bedeutungsloses Nebenwort an diese doppelt hervorgehobene Stelle,
so erhält der ganze Vers einen matten und nichtssagenden Charakter.
Gereimte Partikeln und beiläufige Bezeichnungen jeder Art sind in der
That unleidlich. Wenn dagegen der Reim das geistig entscheidende
Wort des Verses trägt, wenn die beiden gereimten Verszeilen mit ihrer
geistigen Quintessenz sich im Reim begegnen: so erhalten die Verse jenen
Zauber und jene Energie, welche das echte Gepräge des dichterischen
Genius sind.


Ebenso wie die Bedeutungslosigkeit der Reime ist ihre Trivialität zu
vermeiden, die stereotype Wiederkehr beliebter Klänge, besonders der
Minnelyrik. Nichts giebt einer Dichtung einen so blassen und fadenscheinigen
Charakter, als dieses Schaugepränge abgetragener Reime, wie
Herzen, Schmerzen, Liebe, Triebe. Jn neuer Zeit hat man
hierin Fortschritte gemacht und dem Reim mehr Neuheit und Arom
zu geben verstanden, wenn auch vielleicht Freiligrath mit seinen exotischen
Reimen und gereimten Fremdwörtern zu weit gegangen ist. Ein
Beispiel von ebenso gedankenkräftigen, wie neuen und aromatischen,
den Charakter der Dichtung selbst spiegelnden Reimen giebt folgende
Stelle aus Hermann Lingg'sSpartakus.

|#f0230 : 208|

Versammelt hielt sein Sclavenheer
Der Tracier Spartacus am Meer,
Und auf zum rauchenden Vesuv
Erklang der wilde Freiheitsruf:
Von nun an Männer, nicht mehr Sclaven,
Erheben wir das Schwert und strafen
Der Unterdrücker Uebermuth.
Du Berg dort blitz' in uns're Rache,
Der Menschheit ganzes Herz erwache
Jn uns, um ihr verlornes Gut.
Germanen, Skythen, Perser, Parther,
Jllyrier, Gallier, Dacier, Sparter,
Jetzt treffet, daß die Wunde klafft.
Wir waren lang genug die Schlächter
Für dieses Volkes Blutge lächter,
Genug die Mörder uns'rer Kraft.
Ein Tiger lauert in der Schlucht,
Auf, Nubier, jagt ihn in die Flucht.
Ein Wolf ist's, Cimbern, der euch droht,
Schwingt eure Keulen, schlagt ihn todt!
Beweist die Kraft der erz'nen Sehnen,
Die ihr so oft in den Arenen
Beim lauten Beifallruf erprobt;
Doch diesmal, wenn der Sand zerstoben,
Soll euch der todte Römer loben,
Wie lebend er euch nie gelobt.
Erhebt die Schwerter, schwingt die Sensen.
Gebt ihnen Feste, gebt Circensen,
Gebt einen Gladiatorenkampf!
Kämpft! Kämpft, bis über Leichen wogen
Das Roß der Ritter Purpurtogen
Jn Staub und Fetzen niederstampf'.


Mit Ausnahme der letzten etwas harten Elision, die im Reim zu vermeiden
ist, und der nicht ganz reinen Reime: Vesuv und Ruf, Sclaven
und Strafen, die indeß für das Ohr erträglich sind und mehr das
Auge beleidigen, haben wir hier eine Reihenfolge reiner, gedankenkräftiger
und neuer Reime, welche die Energie des ganzen Gedichtes außerordentlich
stützen. Durch die in den Reim gestellten Wörter: Circensen,
Arenen, Togen
wird das römische Kolorit des Gedichtes und |#f0231 : 209|

selbst der Charakter des Sclavenaufstandes kräftig hervorgehoben, während
diese Reime dabei durch ihre ungesuchte Neuheit einen frischlebendigen
Eindruck machen. ──────


Fünfter Abschnitt.

Die vorzüglichsten Versmaaße.


Jedes Versmaaß hat seine rhythmische Bedeutung, seinen bestimmten
Charakter. Dieser Charakter erleidet wesentliche Modifikationen durch
die Zahl der Füße, welche den einzelnen Vers bilden, durch die volle
Beendigung der rhythmischen Reihe oder den Abbruch mitten im Takte
(Katalexis), durch die Art und Weise, wie katalektische und akatalektische
Verse
verknüpft werden, und durch die Bildung der Verse zu
Strophen, welche meistens durch den Reim bestimmt wird.


1. Das trochäische Versmaaß.


Man nimmt als kleinste Einheit in der Regel die trochäische
Dipodie
(_ ‿ _ ‿ an, in welcher sich schon kleinere Gedichte bilden
lassen. Wie das Vorausgehn der Kürze vor der Länge in der Regel
dem Vers einen andringenden, hinausstürmenden, thatkräftigen Charakter
giebt: so erhält der Vers durch die Stellung der Länge vor der Kürze
einen mehr nach innen gewandten, reflektirenden Zug. Der Vers beginnt
gleichsam mit dem vollen, beruhigten, selbstgewissen Klang und breitet
sich aus in einem gemäßigten Hin- und Herwogen! Die Emphase der
Seele geht voraus und trägt den Vers; sie nimmt die äußere Welt in
sich hinein, wie die Kürze während des ganzen Verses bis zum Schluß
zwischen den Längen steht. Besteht der trochäische Vers aus sehr wenigen
oder aus sehr vielen Füßen: so erhält dieser Zug der Betrachtung
einen mehr heitern und schwunghaften Charakter, während die mittlere
Zahl der Füße ihn für das Elegische und Sentenziöse geeignet macht.


Der längere trochäische Vers kann durch Daktylen, nur nicht im ersten
und letzten Fuße, weil dadurch im An- und Austönen der Charakter des
Trochäus überhört werden würde, lebendiger, durch Spondäen im
zweiten Fuße jeder Dipodie gewichtiger gemacht werden. Doch ist besonders |#f0232 : 210|

der Daktylus nur sehr selten und mit großer Vorsicht anzuwenden,
weil der aufdringliche Tonfall dieses Versfußes leicht dem Ganzen einen
hüpfenden Charakter verleiht. Die deutsche Sprache ist sehr reich an
Trochäen; aber indem selbstständige Wörter sehr oft diesen Versfuß bilden,
ist hier das Zusammenfallen des Vers- und Wortfußes eine schwer
zu vermeidende Gefahr.


a. Die trochäische Dipodie.

_ ‿ _ ‿ |


Der einzelne Doppelfuß bildet schon eine Verszeile, abwechselnd mit
dem Kretikus, der eben eine katalektische, trochäische Dipodie ist.
Doch werden beide am besten nicht regelmäßig wechselnd neben einandergestellt,
sondern der Kretikus erst nach mehreren Dipodieen als
Ruhepunkt.


Dieser Vers eignet sich für die leichtere Betrachtung:


Was ich thue
Und vollbringe,
Jch erringe
Nie die Ruhe.

Platen.


oder für das anmuthige Naturbild:


Jn die Blüthen,
Jn die Blätter
Rauscht das erste
Frühlingswetter,
Ruft die erste
Nachtigall,
Aller Blumen
Kelche füllend,
Himmlisch, himmlisch
Zu den Wolken
Aus dem Thal.

Leopold Schefer.


b. Dreifüßige Trochäen.

_ ‿ _ ‿ _ ‿
_ ‿ _ ‿ _


Dies Versmaß, in welchem der katalektische und akatalektische Vers,
der männliche und weibliche Reim mannichfach wechseln können, hat einen |#f0233 : 211|

ernsteren Charakter. Lauter katalektische Dreifüßler eignen sich für eine
scharf abgerissene, blitzartig hingeworfene Schilderung:


Sonnenuntergang,
Schwarze Wolken ziehn,
O wie schwül und bang
Alle Winde fliehn!

Durch den Himmel wild
Jagen Blitze bleich;
Jhr vergänglich Bild
Wandelt durch den Teich.

Lenau.


c. Vierfüßige Trochäen.

_ ‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿
_ ‿ _ ‿ _ ‿ _


Sie können auch mit dreifüßigen wechseln nach folgendem Schema:


_ ‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿
_ ‿ _ ‿ _


Dein gedenkend irr' ich einsam
Diesen Strom entlang,
Könnten lauschen wir gemeinsam
Seinem Wogenklang.

Lenau.


Am gebräuchlichsten ist die folgende Strophenbildung:


Wenn des Gottes letzter milder
Schimmer sich vom See verlor,
Steigen mir Gedächtnißbilder
Aus der Welle Nacht empor.

Platen.


Die vierfüßigen Trochäen prägen den Charakter dieses Versmaßes
am reinsten aus und werden daher auch vorzugsweise angewendet.
Dieser Vers hat einen ernst beschaulichen Charakter; er eignet sich für
Sentenzen, für Antithesen, für ein träumerisches und glänzendes Gedankenspiel.
Er hat gerade das Maaß zu einer knappen, scharfzugespitzten
Sentenz, welche der nächste Vierfüßler antistrophisch ausführen oder
erwiedern kann. Dabei ladet er zu Parallelismen der Bilder und zu
Anaphoren ein, z. B.


Träumet, wer beginnt zu steigen;
Träumet, wer da sorgt und rennt;
|#f0234 : 212|

Träumet, wer von Haß entbrennt,
Kurz, auf diesem Erdenballe
Träumen, was sie leben, alle,
Ob es Keiner gleich erkennt.

Calderon (nach Gries).


Das folgende Beispiel zeigt dagegen seinen für die Sentenzenfülle
geeigneten Charakter:


Was ist Leben? Raserei!
Was ist Leben? Hohler Schaum!
Ein Gedicht, ein Schatten kaum!
Wenig kann das Glück uns geben,
Denn ein Traum ist alles Leben,
Und die Träume selbst sind Traum.

Calderon (nach Gries).


Jn der That ist dies die Art und Weise, in welcher die spanischen
Dramatiker diesen Vers behandelt haben. Jhre Eigenthümlichkeit, das
blendende und schlagende Phantasiespiel, die Dialektik der Begriffe, der
Pomp der Schilderung, die Häufung der Sentenzen und Bilder, hängt
wesentlich mit dem Gebrauche dieses Verses zusammen. Doch da gerade
diese Eigenschaften keine Vorzüge des dramatischen Styles sind, der im
Gegentheile Energie des Ausdrucks und die Vermeidung alles überflüssigen
Pompes in weithingezogenen Schilderungen und Betrachtungen verlangt:
so kann die Anwendung des vierfüßigen Trochäus im deutschen Drama
nicht gebilligt und anempfohlen werden. Nach dem Vorgang der
Romantiker haben die deutschen Schicksalstragöden Müllner in der
„Schuld,“ Grillparzer in der „Ahnfrau,“ Houwald im „Leuchtthurm,“
außerdem Schenk im „Belisar,“ Beer im „Paria,“ Auffenberg
in der „Alhambra,“ Raupach, Zedlitz u. A. in einigen Dramen
den vierfüßigen Trochäus in Anwendung gebracht; aber nicht ohne damit
ein ebenso spitzfindiges wie weitschweifiges Pathos, eine an Wiederholungen
reiche Redseligkeit zu verbinden und die lyrische Reflexion über die
dramatisch=straffe Motivirung überwiegen zu lassen, Fehler, zu denen dieser
reflektirende Vers von selbst verführt. Auch die spanische Romanze
hat ihn für ihre epische Lyrik gebraucht; der „Cid“ von Herder giebt
uns ihre Klänge anmuthig wieder. Für die Epik sind die Anaphoren
und Epistrophen dieses Vierfüßlers emphatische Mittelglieder zur Fortführung
der Erzählung, z. B.

|#f0235 : 213|

Jn dem Dome zu Korduva
Stehen Säulen dreizehnhundert,
Dreizehnhundert Riesensäulen
Tragen die gewalt'ge Kuppel.

Heine.


oder:


Jn dem Schloß zu Alkolea
Tanzen zwölf geschmückte Damen,
Tanzen zwölf geschmückte Ritter,
Doch am schönsten tanzt Alonzo.

Heine.


Jm letzten Gesange meines „Carlo Zeno“ hab' ich den vierfüßigen
Trochäus gebraucht, weil er mir zum elegisch reflektirenden Charakter,
den hier die Dichtung annimmt, zu stimmen schien.


d. Fünffüßige Trochäen.

_ ‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿
_ ‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿ _


Schwermuthsvoll und dumpfig hallt Geläute
Vom bemoosten Kirchenthurm herab.

Hölty.


Schweigend in der Abenddämm'rung Schleier
Ruht die Flur, das Lied der Haine stirbt;
Nur daß hier im alternden Gemäuer
Melancholisch noch ein Heimchen zirpt.

Matthisson.


Man hat, wie diese Beispiele zeigen, den Vers früher zum vollen
und schweren Austönen einer melancholischen Stimmung, zu Elegieen im
engeren Sinne des Wortes benutzt, und in der That eignet er sich hierzu,
besonders wenn Spondäen noch seinen hinsterbenden Tonfall schwerer
und schmerzlicher machen. Jn neuer Zeit dagegen hat man, erregt durch
die serbische Volksepik, den Fünffüßler zum Träger von Balladen,
Sagen, Märchen gemacht, ihm aber durch hineinverwebte Daktylen
mehr Abwechslung und Lebendigkeit gegeben. Dies Versmaß finden
wir in Platen's „Abassiden.“ Ohne solchen daktylischen Wechsel ist „die
weiße Schlange“ von Geibel gedichtet, der dafür mit Vorliebe Spondäen
anwendet:


Auf der Burg in reichgeschmückter Halle
Schweigsam brütend sitzt der greise Stojan,
Sitzt bei'm vollen Silberkrug und trinkt nicht,
|#f0236 : 214|

Starrt empor bei'm Balkenwerk der Decke,
Das von gold'nen Drachenköpfen funkelt;
Hell in's Fenster lacht die Spätherbstsonne.

e. Sechs- und siebenfüßige Trochäen.

α) _ ‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿
β) _ ‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿


Diese Verse haben einen etwas schwerfälligen und schleppenden Gang
und werden daher nur bei Nachdichtungen und ausnahmsweise in
Anwendung gebracht. Rückert hat seine „Frühlingshymne“ in trochäischen
Siebenfüßlern gedichtet.


f. Der trochäische Tetrameter

_ ‿ _ ‿ | _ ‿ _ ‿ ‖ _ ‿ _ ‿ | _ ‿ _ ‿ |


oder katalektisch _ ‿ _ ‿ | _ ‿ _ ‿ ‖ _ ‿ _ ‿ | _ ‿ _ |


Dieser trochäische Achtfüßler entsteht dadurch, daß vier trochäische
Dipodieen nebeneinander gestellt werden, und zwar trennt eine Cäsur
nach dem Schlusse der zweiten Dipodie den Vers in zwei Abschnitte.


Dieser Vers hat einen lebendigen, aber doch dabei würdigen Gang.
Er eignet sich daher für eine lebendig gedankenvolle Poesie. Wie die
Vierfüßler hat auch der Achtfüßler einen antithetischen Charakter und ist
eine passende rhythmische Waffe für scharfen Spott. Nach dem Vorgange
des Aristophanes hat sie Platen in den Parabasen, auch im
Dialog seiner Lustspiele benutzt:


Weltgeheimniß ist die Schönheit, das uns lockt in Bild und Wort,
Wollt ihr sie dem Leben rauben, zieht mit ihr die Liebe fort:
Was noch athmet, zuckt und schaudert, Alles sinkt in Nacht und Graus,
Und des Himmels Lampen löschen mit dem letzten Dichter aus.


Antithetisch spottend sind folgende Tetrameter Platen's:


Mittelmäß'gem klatscht ihr Beifall, duldet das Erhab'ne blos,
Und verbanntet fast schon alles, was nicht ganz gedankenlos.
Ja in einer Stadt des Nordens, die so manches Uebels Quell,
Preist man Clauren's Albernheiten und verbietet Schiller's Tell.

2. Das jambische Versmaaß.


Der Jambus (‿ _, ein Versfuß, bei welchem die kurze Sylbe der
langen vorausgeht, hat, im Gegensatz zum Trochäus, einen energischen, |#f0237 : 215|

anspringenden, hinausdrängenden Gang. Er ist der Vers des dramatischen
Pathos, der auf die Zukunft wirkenden Handlung, der auf sie hinausweisenden
Spannung. Schon die Jamben der Griechen hatten einen
angreifenden Charakter, und so heftig war der in sie ergossene Spott des
Archilochos, des ersten Jambendichters, daß die davon Betroffenen sich
selbst das Leben nahmen. Wie der Trochäus für das über seinen Tiefen
brütende Gemüth, für den über den Räthseln des Lebens grübelnden
Geist der willkommene rhythmische Träger ist: so der Jambus für das
Gemüth, das den Eindruck der Welt erfaßt, für den Geist, der sich in
kühner Selbstständigkeit ihr gegenüberstellt. Der Trochäus ist subjektiver,
der Jambus objektiver. Der Trochäus beginnt mit dem vollen Klange,
der Jambus muß ihn erst erringen. Die Länge im Trochäus ist die
ruhige Basis des Verses, von welchem er ruhig absinkt; die Länge des
Jambus ein immer neues Hinderniß, gegen welches er stets von neuem
anstürmt. Darum ist der Jambus der Vers des unruhigen Strebens,
des sehnsüchtigen Gefühles, des ringenden Gedankens, des kämpfenden
Willens. Er ist der Vers frischer Liebeslyrik, welche die Schranken zu
durchbrechen trachtet, der Vers der Gedankenpoesie; denn auch der Gedanke
ringt mit der Welt und sucht sie zu überwinden, der Vers des Drama's,
denn das Drama zeigt uns den Kampf des menschlichen Willens, die
energische Spannung des Menschen gegen den Menschen. Auch für eine
nicht allzu schwunghafte Schilderung, welche dem Objekt Zug für Zug
ablauscht, gleichsam in immer neuem Anlaufe auf dasselbe andringt,
ist er geeignet, und die epische Poesie hat ihn in kunstvolle Strophen
gegliedert.


Die Vielseitigkeit des Jambus, seine Anwendung in allen Zweigen
der Dichtkunst hat im Deutschen ihren tieferen Grund. Unsere Sprache
hat wenig Wörter, welche den Jambus selbstständig ausprägen z. B.
Gebet. Dadurch wird im jambischen Versmaaß das Zusammenfallen
der Wort- und Versfüße, die Gefahr des Trochäus, vermieden und im
Gegentheile durch fortwährende Einschnitte eine große rhythmische Lebendigkeit
hervorgerufen, welche dem an und für sich frischeren Charakter des
Verses noch mehr zugute kommt.


Der Jambus kann mit dem Spondäus und Anapästus wechseln,
welche eigentlich nur im ersten Fuße jeder Dipodie Platz greifen. |#f0238 : 216|

Doch da z. B. der fünffüßige Jambus nicht nach antiken Dipodieen zu
messen ist, so kann auch der Spondäus in ihm seine Stelle wechseln
und ist nur im fünften Fuß zu vermeiden, weil er dort dem Vers einen
hinkenden, choliambischen Charakter geben würde. Jm ersten Fuß wird
er stets am wirksamsten stehen.


a. Die jambische Dipodie.

‿ _ ‿ _


Sie wechselt in der Regel mit einem hyperkatalektischen Jambus
‿ _ ‿ _ ‿. Sie eignet sich zu leichten, anmuthigen, tändelnden Gedichten:


Jch lobe mir
Mein Dörfchen hier.
Denn schön're Auen
Als rings umher
Die Blicke schauen
Sind nirgends mehr.

Bürger.


b. Der drei- und vierfüßige Jambus

‿ _ ‿ _ ‿ _ | ‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿ _
‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿ | ‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿


oder beide vereinigt


‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿ _
‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿


z. B.:


O Fluß, mein Fluß im Morgenstrahl
Empfange nun, empfange
Den sehnsuchtsvollen Leib einmal
Und küsse Brust und Wange.

Mörike.


Der dreifüßige Jambus, wenn er ganz rein gehalten ist, hat einen
sanften Charakter; er bezeichnet ein nicht weitgreifendes Streben, das sich
rasch beruhigt:


Das heiße Herz vergißt,
Woran sich's müd' gekämpft,
Und jeder Wehruf ist
Zur Melodie gedämpft.

Meißner.


Der drei- und vierfüßige Jambus, mit abwechselndem männlichen
und weiblichen Reim und strophischen Verschlingungen, welche durch die |#f0239 : 217|

Stellung der Reime bedingt sind, eignet sich zu mannichfachen Ergüssen
des Gefühles und Gedankens, welche indeß eine gewisse Mitte gedämpfter
Stimmung
nicht überschreiten dürfen. Denn das Streben dieser
Jamben ist nicht weit hinausgreifend, der Anprall nicht stark genug, um
eine größere Energie wirksam auszudrücken. Das Naturbild, die einfache
innige Empfindung, der Jnhalt des sangbaren Liedes, besonders in
künstlerisch geadelter Form, lassen sich in diesen Drei- und Vierfüßlern,
in den mannichfachen Kombinationen ihrer Vereinigung angemessen darstellen.
Ebenso eignen sie sich zu Trägern einer ruhigen Reflexion, einer
beschaulichen Lebensweisheit ─ Schiller hat die meisten Parabeln und
Räthsel, Hebbel, Feuchtersleben, Kinkel, Bodenstedt, Rückert
mancherlei Sinngedichte voll abend- und morgenländischer Lebensweisheit
in diesen Jamben gedichtet. Z. B.:


Von Perlen baut sich eine Brücke
Hoch über einen grauen See;
Sie baut sich auf im Augenblicke
Und schwindelnd steigt sie in die Höh'.

Schiller.


Schilt nimmermehr die Stunde hart,
Die fort von dir was theures reißt.
Sie schreitet durch die Gegenwart
Als ferner Zukunft dunkler Geist.

Hebbel.


Auch hat Schiller in mehreren seiner „Balladen,“ z. B. „die Kraniche
des Jbykus
“ und „der Kampf mit dem Drachen,“ sich der vierfüßigen
Jamben bedient, deren Ernst und Würde er dadurch zu erhöhen
suchte, daß er sie in große Strophen vereinigte.


Verse mit drei und vier Hebungen und Senkungen waren im Altdeutschen
bräuchlich, und in der That ist der drei- und vierfüßige Jambus
vaterländischen und nicht antik=klassischen Ursprunges. Er verträgt
daher auch eine freiere Behandlung und erhält durch die Beimischung
zahlreicher Anapäste einen bewegteren und malerischen Charakter. Diesen
Vers hat Goethe vorzugsweise in den Monologen und im Dialog seines
Faust angewendet, indem er freilich seine Energie durch zahlreiche Fünffüßler
verstärkte. Den Vers mit drei Hebungen und Senkungen finden
wir in Heine's reizenden „Liedern“ wieder.

|#f0240 : 218|

Die Geisterinsel, die schöne,
Lag dämmernd im Mondenglanz,
Dort klangen liebe Töne
Und wogte der Nebeltanz.


Nach dem Vorgange mittelalterlicher Muster, welche für die epische
Erzählung diesen Vers gewählt, wie Gottfried von Straßburg in
„Tristan und Jsolde,“ hat man auch in neuer Zeit seine Anwendbarkeit
für größere epische Dichtungen versucht, so z. B. Max Waldau in seiner
Cordula“:


Graubündtner Land, du Netzgestrick
Von Kamm und Thal, von Grat und Schlucht,
Sehtrunken bestaunt des Pilgers Blick
Der Matten Frische, der Felsen Wucht,
Der Wasser Blitz in der Klemmen Spalt
Und greiser Arven Riesengestalt.


Natürlich würde er für ein Epos mit großen Kulturperspektiven und
ernstem Völkerkampfe unangemessen sein, weil dazu seine tragende Kraft
nicht ausreicht, während die poetische Erzählung, die nur ein persönliches
Lebensschicksal behandelt, an diesem beweglichen Rhythmus eine genügende
Stütze findet.


c. Der fünffüßige Jambus.

_ ‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿ _
_ ‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿


Die Verehrer der antiken Metrik sind sehr geneigt, diesem Vers jede
Berechtigung abzusprechen, während die dichterische Praxis der Neuzeit
ihn zu ihrem Liebling erwählt hat. Jn der That tritt das Charakteristische
des jambischen Metrums in ihm am schlagendsten hervor. Für
das lyrische Empfindungselement hat er nicht genug Koncentration ─
dagegen ist er für das Drama, das Epos und das didaktische Gedicht
gleichmäßig geeignet. Er hat Lebendigkeit, Spannung und Energie und
ist geräumig genug, um größere objektive Ausführungen in sich aufzunehmen,
jene bestimmter eingehenden Motivirungen, die für Tragödie und
Epos unerläßlich sind. Dabei besitzt er eine hinlängliche Elasticität und
Frische, um durch seinen immer neuen Anlauf nicht zu ermüden. Freilich
hat man sich nicht mit Unrecht über die Monotonie seines Tonfalls, den
sogenannten Jambentrab, besonders in den zahlreichen deklamatorischen |#f0241 : 219|

Tragödieen der Neuzeit beklagt. Diese Monotonie wird aber nur durch
eine einförmige Behandlung des Verses hervorgerufen und liegt nicht in
seinem Wesen. Der dramatische Jambus verträgt nicht nur häufige
Einschnitte, enjambements, die Abwechslung mit Anapästen und Spondäen,
sondern er erfordert sie, und wenn der Dichter diese Belebung
seines Rhythmus nicht aus Nothbehelf, sondern mit künstlerischem Takt
in einer dem Sinne der Verse entsprechenden Weise ausführt, so gewinnt
der Vers dadurch einen malerischen Charakter, der ihn zum Ausdrucke
des dramatischen Affektes, zur Begleitung der ruhigen Motivirung, der
energischen Spannung, der bewegteren Leidenschaft vorzugsweise befähigt.
Es ist nicht zu leugnen, daß die fünffüßigen Jamben sich fast nie einer
solchen künstlerischen Behandlung erfreut haben, indem theils ihre Korrektheit
in Einförmigkeit ausartete, theils ihre freiere Bewegung nur aus
Unkorrektheit und Nachlässigkeit hervorging. Shakespeare hat oft mit
genialem Jnstinkt den Jambus in einer dem Pathos, das er ausdrücken
soll, entsprechenden Weise behandelt, während er ebenso oft ohne Grund
ihm einen lässigen und unregelmäßigen Gang gab. Malerisch sind
z. B. die Jamben in König Lear's Monolog auf der wetterdurchtobten
Haide:


Blow, wind and crack your cheeks! rage! blew!


Diesem Jambus fehlt ein Fuß, aber er tönt gleichsam in kräftigen Donnerschlägen
aus. Den Zickzack der Blitze zu schildern wählen die Verse
eine geflügeltere Gangart: You sulphurous and thought-executing
fires u. s. f. Schiller hat den Jambus am dramatisch lebendigsten in
seinem ersten und in seinem letzten jambischen Trauerspiele, im „Don
Carlos“ und „Wilhelm Tell“ behandelt. Jm „Carlos“ ist der Dialog
durch die Ausbrüche des Affektes mannichfach durchschnitten; die Satzenden
fallen nicht mit den Enden der Verse zusammen, was dem Ganzen einen
minder getragenen, aber für die Konversation, wie z. B. in der Scene
zwischen „Carlos“ und der „Eboli,“ ausdrucksvolleren Charakter giebt;
im „Tell“ aber verleiht die volksthümliche Lebendigkeit, die überall eingreifende
Thätigkeit der Massen dem Jambus größere Beweglichkeit.


Der fünffüßige Jambus läßt sich sowohl reimlos anwenden, als
auch er gerade die volltönendsten und am häufigsten wiederkehrenden |#f0242 : 220|

Reime verträgt und den mannichfachen italienischen Strophenbildungen
zu Grunde liegt.


Den reimlosen Fünffüßler (blanc-vers) haben wir von den englischen
Epikern und Dramatikern überkommen. Milton's „verlorenes Paradies,“
Glover's „Leonidas“ sind in derselben Form gedichtet, in welcher
Shakespeare, Massinger, Beaumont und Fletcher, Otway,
mit größerer Elasticität, Addison, Rowe, Congreve u. A. mit
stereotyper Korrektheit ihre Tragödieen abfaßten. Der fünffüßige, reimlose
Jambus verdrängte in Deutschland den Alexandriner. Nach Schiller's
und Goethe's Vorbild haben ihn fast alle Dramatiker der Neuzeit:
Körner, Kleist, Grillparzer in den meisten Dramen, Raupach,
Uhland, Grabbe
und zwar mit den kühnsten Licenzen, Jmmermann,
Hebbel, Gutzkow, Prutz, Mosen,
ich selbst angewendet.
Für das Epos dagegen ist der reimlose Jambus in Deutschland nicht
gebräuchlich geworden, und der gereimte nur in bestimmten Strophen.
Jn der That erscheint der reimlose Jambus für die epische Dichtung zu
kahl und nüchtern. Den gereimten Fünffüßler hab' ich in der zweiten
Abtheilung meines „Carlo Zeno“ für die epische Darstellung in
Anwendung gebracht.


Der fünffüßige Jambus bildet die Grundlage für die kunstvoll verschlungenen
italienischen Strophen, welche die deutsche Dichtkunst mit
ebenso wohllautenden wie zu anmuthiger Gedankenverkettung geeigneten
Formen bereichert haben.


α) Das Sonett.


Das Sonett besteht aus vierzehn fünffüßigen Jamben, von denen die
je vier ersten und die je drei letzten eine Strophe bilden. Die erste, vierte,
fünfte und achte Zeile, die zweite, dritte, sechste und siebente reimen mit
einander, während die Reimverknüpfung der sechs letzten Zeilen eine
beliebige ist. Das Sonett ist eine ebenso kunstvolle wie schöne Form für
die reflektirende Lyrik. Wie das antike Distichon im Hexameter den
Gedanken episch ausbreitet, im Pentameter innerlich zusammenfaßt: so
liegt derselbe Formgedanke der strophischen Architektonik des Sonetts zu
Grunde. Das Sonett ist das in ein romanisches Reimgebäude
verwandelte antike Distichon. Jn den beiden ersten Strophen breitet |#f0243 : 221|

sich das Gefühl melodisch aus, diese Ausbreitung ist voll und ungehemmt;
sie braucht nicht bei dem zweiten Reim in der vierten Zeile zu stocken; sie
geht mit einem, sich in den Klängen wiegenden Behagen bis zur fünften
Zeile weiter und ruht erst in der achten aus, wo sie den vierten wiederkehrenden
Reim der ersten Zeile als willkommenen Schlußstein begrüßt.


Dann beginnt aber die Rückkehr des Gefühles und des Gedankens
zu einem melodischen Abschluß, wie ihn der Pentameter des Distichon's
ausdrückt, und sowie dieser Fünffüßler einen Fuß weniger hat, als der
Sechsfüßler, so hat die zweite Abtheilung des Sonettes einen Reim
weniger, als die erste, wodurch die Form als solche befähigt wird, diesen
melodischen Fall des springquellartig aufsteigenden Gedankens auszudrücken.
Das Sonett giebt dem Ausdruck der Empfindung nicht blos
Vollklang, sondern auch Präcision, den Gedanken Ebenmaaß und Symmetrie
und bedeutsamen Abschluß. Denn erst dann wird es einen wahrhaft
künstlerischen Eindruck machen, wenn der Schlußgedanke nicht äußerlich
angehängt ist, sondern alle Fäden des Ganzen in schöner Einheit
zusammenfaßt.


Der Hauptabschnitt des Sonetts ist, seiner ganzen Architektonik nach,
ein so scharfer, daß alle Herüberziehungen der Sätze aus der achten in
die neunte Zeile, als den Bau und Sinn des Ganzen umwerfende Fehler
zu verdammen sind. Auch Hinüberziehungen aus der ersten in die
zweite Strophe sind nicht zu billigen, indem sie den strophischen Charakter
umwerfen und die klare Sonderung des Ganzen unterbrechen. Selbst
von Enjambements aus der ersten dreizeiligen Strophe in die zweite halten
sich die besseren Sonettendichter frei, wenn hier auch der nach dem
Schluß hindrängende Fall eher eine kleine Ueberstürzung entschuldigt.


Das Sonett ist ein Prokrustesbett des Gedankens für den Stümper,
für den Meister ein himmlisches Grahamsbett voll Leben weckenden
Zaubers. Wie überall die Form den Künstler trägt und nicht hemmt:
so trägt auch das Sonett den Dichter, indem es dem Strom seiner
Empfindung von Hause aus ein bestimmtes Bett anweist, dem Gedanken
eine feste und maaßvolle Gliederung giebt und zugleich ein volles
Austönen und einen prägnanten Abschluß gewährt. Es ist die geeignete
Form für die Liebesempfindung, welche sich immer neuen Beziehungen
der Liebe in hin- und herrollendem Gedankenspiele hingiebt, für die Sätze |#f0244 : 222|

einer harmonischen Lebensweisheit, die sich nicht epigrammatisch zusammenfaßt,
sondern die wärmer und voller austönt, für harmonische Lebensbilder,
ästhetische Reflexionen u. s. f. Einen kriegerischen Klang hat
Rückert in seinen „geharnischten Sonetten“ dieser Form gegeben. Da
dieser Jnhalt aber mit ihr in offenbarem Widerspruch steht, so haben
Rückert's patriotische Sonette einen paradoxen Charakter. Petrarca
und Camoëns sind von den ältern romanischen, Platen, Herwegh,
Geibel, Strachwitz
von den neuen Sonettendichtern die besten,
während die romantischen Sonette zu vielen Klingklang, zu wenig geistige
Bedeutung hatten. Wir nehmen das folgende aus, das zugleich die
Form des Sonettes trefflich charakterisirt:


Zwei Reime heiß' ich viermal kehren wieder,
Und stelle sie, getheilt, in gleiche Reihen,
Daß hier und dort zwei eingefaßt von zweien
Jm Doppelchore schweben auf und nieder.

Dann schlingt des Gleichlauts Kette durch zwei Glieder
Sich freier wechselnd, jegliches von dreien.
Jn solcher Ordnung, solcher Zahl gedeihen
Die zartesten und stolzesten der Lieder.

Den werd' ich nie mit meinen Zeilen kränzen,
Dem eitle Spielerei mein Wesen dünket,
Und Eigensinn die künstlichen Gesetze;

Doch wem in mir geheimer Zauber winket,
Dem leih' ich Hoheit, Füll' in engen Grenzen,
Und reines Ebenmaaß der Gegensätze.

A. W. Schlegel.


β. Die Stanzen, die ottave rime.


Die ottave rime bilden eine achtzeilige Strophe, in welcher der
erste, dritte und fünfte, der zweite, vierte und sechste Vers reimen und
zum Schlusse der siebente und achte ein Reimpaar bilden:


Jhr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.
Versuch' ich wohl euch diesmal festzuhalten?
Find' ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?
Jhr drängt euch zu ─ nun gut, so mögt ihr walten,
Wie ihr aus Dunst und Nebel um mich steigt.
Mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert
Vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert.

Goethe.

|#f0245 : 223|


Diese Strophe hat, durch die sich suchenden und fliehenden Reime
einen anmuthigen Wogenschlag, der sich durch den zusammentönenden
Akkord der letzten Verse beruhigt. Der voll heraus blühende Reimstrauß
hat etwas Luxuriöses, das sie im Deutschen wohl zu Widmungsversen,
Prologen, gedankenvollen Apostrophen, aber nicht zu größeren epischen
Gedichten geeignet macht. Anders verhält es sich in den romanischen
Sprachen, wo die Reimfülle der Sprache selbst in diesen Strophen ausschäumt.
Hier liegt ihr epischer Charakter darin, daß die sechs ersten
Zeilen mit den verschlungenen Reimen eine hinundhergehende, behagliche
Schilderung gestatten, welche durch die beiden letzten wieder in dem
strophischen Rahmen festgehalten wird. Bekanntlich hat Tasso sein
„befreites Jerusalem,“ Ariosto seinen „rasenden Roland,“ Camoëns
seine „Lusiade“ in diesen Strophen gedichtet; von neueren deutschen
Dichtern Ernst Schulze sein kleines, zartes, aber auch phantastisch verschwimmendes
Epos: die bezauberte Rose. Die Ueberzeugung, daß
die ottave rime der deutschen Originaldichtung bei längerer epischer
Ausdehnung eine allzugroße Monotonie geben würden, hat Wieland
zum Bau einer Strophe angeregt, welche wir, nach seinem „Oberon,“
in dem sie angewendet ist, wohl die Oberonsstrophe nennen dürfen.
Sie besteht ebenfalls aus acht jambischen Zeilen, aber die Zahl der Versfüße
schwankt beliebig zwischen vier, fünf und sechs, die Reime können
einmal oder zweimal wiederkehren und dabei willkürlich verschlungen
sein. Die strengen ottave rime sind daher nur eine mögliche Form
ihrer zahlreichen Kombinationen, welche in der That unter der Hand
eines großen Talentes einen außerordentlichen malerischen Reichthum
entfalten können. Diese Strophe scheint uns in der neuern Zeit mit
Unrecht mißachtet zu sein. Sie ist für eine größere epische Dichtung
durch ihre anschmiegende Vielseitigkeit sehr angemessen. Außer Wieland
hat sie von unsern großen Dichtern auch Schiller bei seiner
Uebersetzung des Virgil benützt:


Still war's und jedes Ohr hing an Aeneens Munde,
Der also anhub vom erhab'nen Pfühl:
O Königin, du weckst der alten Wunde
Unnennbar schmerzliches Gefühl!
Von Trojas kläglichem Geschick verlangst du Kunde,
Wie durch der Griechen Hand die Thränenwerthe fiel.
|#f0246 : 224|

Die Drangsal' alle soll ich offenbaren,
Die ich gesehn und meistens selbst erfahren.

γ. Die Terzine.


Die Terzine besteht aus drei immer wiederkehrenden Zeilen mit je
drei sich kreuzenden Reimen. Jede Terzine weist durch den einen oder
die beiden ihr fehlenden Reime über sich hinaus in die nächste. Es fehlt
ihr der sichere Abschluß des Sonettes und der Stanze; sie bildet eine in's
Unendliche fortgehende Kette:


Durch Trümmer drang ich in des Traums Bethörung,
Bang ringend, unbewußt nach welchem Ziele;
Ringsum zu Bergen thürmte sich Zerstörung.

Denn stolze Riesenbauten sah ich viele
Zu Staub zermorscht, die manch Jahrhundert ragten,
Gesunken, wie die Blume fällt vom Stiele.

Und stumme Säulen sahn mich an und klagten,
Jnschriften dran, verlöscht, mühvoller Lesung,
Die halbes Wort verscholl'ner That mir sagten.

Sallet.


Die Terzine ist eine vorzugsweise epische Form, indem sie sich
gleichsam ohne bestimmten Damm in die Weltweite ergießt. Auch
eignet sie sich für Reflexionen, für weit ausgesponnene Gedanken, die
ohne scharfe Einschnitte dem freien Zuge der Jdeeenassociation folgen.
Dante hat bekanntlich seine divina commedia in Terzinen geschrieben,
und in der That passen sie zur Darstellung einer Wanderung durch die
drei Reiche der Ewigkeit, indem sie sowohl in den drei zusammentönenden
Reimen für ein schilderndes und grübelndes Verweilen einen Halt
geben, als auch, da jede Strophe durch den fehlenden Reim unfertig
über sich hinausweist, die immer weiter eilende Wanderschaft treffend
charakterisiren. Einen „Ahasver“ muß man in Terzinen schreiben.
Für größere epische Gedichte eignen sie sich im Deutschen nicht, ihres
allzu üppigen Reimes und schleppenden Ganges wegen. Rückert hat
ein mehr reflektirendes, als episches Gedicht in diesen Versen geschrieben.
Außerdem haben Platen, Herwegh und Sallet einige wohltönende
Terzinen verfaßt.


Der Raum unsers Werkes erlaubt uns nicht, auf andere italienische
Strophenformen, die Ritornelle, in denen zwei gereimte Jamben |#f0247 : 225|

einen assonirenden einschließen, auf die Kanzone, eine größere, mit
freier Architektonik gebaute Strophe, welche in zwei Hälften zerfällt, in
welcher mit den fünffüßigen Jamben dreifüßige wechseln können, die
Reimverschlingung und Verszahl indeß freigegeben ist, aber die zweite
Kanzone der ersten so treu nachgebildet sein muß, wie die Antistrophe
der griechischen Tragiker der Strophe, näher einzugehn*). Wir erwähnen
nur noch, daß in Sonett und Stanze der deutsche Vers mit männlichem
oder weiblichem Reim schließen kann, in der Terzine indeß der nur
weibliche Reim besser beibehalten wird.


d. Der sechsfüßige Jambus.

_ ‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿ _


Er besteht aus drei Doppeljamben, welche mit Anapästen und Spondäen
wechseln können. Spondäen dürfen in den ersten Fuß jeder
Dipodie gestellt werden, während der zweite rein austönen muß, um den
jambischen Charakter nicht zu verwischen. Anapäste können an jede
Stelle dieses Sechsfüßlers gesetzt werden, nur nicht an die sechste; denn
der Anlauf zweier Kürzen gegen die letzte Länge würde ebenfalls den
jambischen Charakter des Verses aufheben. Je nach der Cäsur zerfällt
der Sechsfüßler (senavius) in zwei verschiedene Verse: den griechischen
Sechsfüßler (Trimeter) und den französischen Sechsfüßler
(Alexandriner).


α. Der Trimeter.


Bei dem Trimeter liegt die Cäsur so, daß sie den Vers nicht in zwei
gleiche
Hälften theilt. Da der griechische Trimeter sich aus Trochäen
mit einer Vorschlagssylbe gebildet, so fällt sie hinter das Ende der ersten
trochäischen Dipodie, wo also jedesmal das Wort zu Ende sein muß:


| _ ‿ _ ‿ ‖ _ ‿ _ ‿ _ ‿ _


Bewundert viel und ‖ viel gescholten Helena,
Vom Strande komm' ich, ‖ wo wir erst gelandet sind.
Noch immer trunken ‖ von des Gewoges regsamen
*)
Die Kanzone stammt von den provençalischen Troubadours her. Zur
Mustergültigkeit haben sie Dante und Petrarca ausgebildet; doch verkünstelte man
später in Jtalien wieder das überlieferte Schema. Abgesehen von den Kanzonen der
Romantiker hat in neuester Zeit Max Waldau einige vortreffliche Kanzonen gedichtet.
|#f0248 : 226|

Geschaukel, das vom ‖ phrygischen Blachgefild uns her
Auf sträubig hohem ‖ Rücken durch Poseidon's Gunst
Und Euros Kraft in ‖ vaterländische Buchten trug.

Goethe, Faust.


Die Anapäste in der dritten und vierten Zeile geben dem Vers einen
malerischen, das Gewoge des Meeres nachahmenden Charakter. Sonst
wird er vorzugsweise dann angewendet, wenn der Vers als Lustspielvers
einen leichteren hüpfenden Charakter annehmen soll, wie bei Aristophanes
und Platen:


Der langen Weile ‖ nie versiechender Quell entspringt,
Wo nur den Boden ‖ stampfen mag dein Pegasus.

Romantischer Oedipus.


Der Trimeter ist bekanntlich der Vers der griechischen Tragiker.
Er hat Ernst, Würde, feierlichen Gang, welcher durch die erlaubten
Spondäen noch würdevoller gemacht wird. Jn neuerer Zeit haben ihn
Goethe in der „Helena,“ Schiller in einigen Scenen der „Jungfrau“
angewendet. Die Versuche von Minckwitz, Märker u. A., ihn für
größere Tragödieen in Anwendung zu bringen, müssen indeß für mißlungen
gelten. Denn der Vers gehört zum Kothurn und zur Maske der
alten Tragödie; er paßt zu ihrer feierlichen Plastik; aber ihm fehlt alle
individualisirende Kraft. Der charaktervolle Dialog des modernen
Drama's würde sein sprühendes Arom verlieren, wenn man ihn in die
spanischen Stiefel des alten Trimeters einschnüren wollte.


β. Der Alexandriner.


Der Alexandriner ist ein jambischer gereimter Sechsfüßler,
dessen Cäsur den Vers in zwei gleiche Hälften abtheilt, und der am
Schlusse den Wechsel männlicher und weiblicher Reime verträgt.


_ ‿ _ | ‿ _ ‖ ‿ _ | ‿ _ ‿ _ | (‿)


Die du mit ew'ger Gluth ‖ mich Tag und Nacht begleitest,
Mir die Gedanken füllst ‖ und meine Schritte leitest,
O Rache, wende nicht ‖ im letzten Augenblick
Die Hand von deinem Knecht! ‖ Es wägt sich mein Geschick.

Goethe.


Die Cäsur des Trimeters ist trochäisch; die des Alexandriners, dessen
Schema nicht nach trochäischen Dipodieen entworfen werden darf, jambisch.
Da sie aber den Vers gleichmäßig abtheilt, so erhält er dadurch |#f0249 : 227|

etwas Einförmiges und Klapperndes. Der Alexandriner ist der Vers
der französischen Tragödie und des französischen Lustspieles; von
ihnen hat ihn das deutsche Trauer- und Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts
überkommen. Auch die didaktischen und satyrischen Gedichte
jener Zeit bedienten sich dieses eben so korrekten, wie monotonen Sechsfüßlers.
Jn unserer klassischen Epoche galt er für eine Reminiscenz des
Zopfstyles und wurde gänzlich mißachtet. Erst in neuer Zeit haben
Freiligrath, Geibel und einige andere Dichter ihn wieder zu Ehren
gebracht, indem sie ihm eine freiere Behandlung angedeihn ließen. Sie
suchten seine Einförmigkeit zu umgehen, theils indem sie neben der Hauptcäsur
noch andere ebenso scharfe Verseinschnitte, die ihre einschläfernde
Wirkung neutralisirten, anbrachten, und Spondäen und Daktylen
wechselvoll einstreuten, theils indem sie alexandrinische Strophen bildeten,
in denen der Alexandriner mit dem vierfüßigen Jambus wechselt, wie
es schon Uz in einigen seiner trefflichsten Gedichte, Ramler in einigen
Oden versucht. Jn dieser Gestalt hat der Vers einen malerischen und
beweglichen Charakter, der ihn zu lebendiger Schilderung überaus
tauglich macht:


Spring an, mein Wüstenroß aus Alexandria!
Mein Wildling! ─ solch ein Thier bewältiget kein Schah,
Kein Emir, und was sonst in jenen
Oestlichen Ländern sich in Fürstensätteln wiegt; ─
Wo donnert durch den Sand ein solcher Huf? wo fliegt
Ein solcher Schweif? wo solche Mähnen?

Wie es geschrieben steht, so ist dein Wiehern: Ha!
Ausschlagend, das Gebiß verachtend stehst du da;
Mit deinem losen Stirnhaar buhlet
Der Wind; dein Auge blitzt, und deine Flanke schäumt ─
Das ist der Renner nicht, den Boileau gezäumt
Und mit Franzosenwitz geschulet!

Freiligrath.


e. Der achtfüßige Jambus. (Tetrameter).

‿ _ | ‿ _ | ‿ _ | ‿ _ ‖ ‿ _ | ‿ _ | ‿ _ | ‿ _ (‿)


Sonst wird noch eure Poesie so frei, so burschikos und flott,
Bis endlich ganz Europa ruft: Jhr Deutschen seid ein Kinderspott.

Platen.

|#f0250 : 228|

Sie reiten in gedrängtem Troß, wo sich vermengen Sand und Luft.
Sieh da, verschlungen hat sie schon der Ferne schwefelfarb'ner Duft.

Freiligrath.


3. Das daktylische Versmaaß.


Der Daktylus (_ ‿ ‿) hat einen geflügelten, hüpfenden Charakter,
der sich am schärfsten im gleitenden Reim ausprägt. Es ist durchaus
erforderlich, daß seine beiden Kürzen rein gehalten und nicht Längen
statt ihrer gesetzt werden; sonst erlahmt der beschwingte Gang des Verses
augenblicklich. Selbstständig und rein kann er nur in kleineren Gedichten
benutzt werden. Jm Wechsel mit dem Spondäus bildet er das größere
epische und elegische Versmaaß.


α. Zwei- und mehrfüßige Daktylen.

_ ‿ ‿ _ ‿ (_ ‿ ‿)


Christ ist erstanden!
Freude den Sterblichen,
Den die verderblichen,
Schleichenden, erblichen
Mängel umwanden.

Goethe.


_ ‿ ‿ | _ ‿ ‿ | _ ‿ ‿ | _ ‿


Ehret die Frauen, sie flechten und weben
Himmlische Rosen in's irdische Leben.

Schiller.


Jn der Regel werden Strophen gebildet, in denen Verse von verschiedener
Länge sich ablösen. Die reinen Daktylen eignen sich zur Schilderung
eines bewegten Naturlebens, einer jubelnden Freude, wie in jenem
Engelschor des Goethischen Faust. Das „Lüfteleben“ schildert Rückert
malerisch in Daktylen:


Wär' ich die Luft, um die Flügel zu schlagen,
Wolken zu jagen,
Ueber die Gipfel der Berge zu streben,
Das wär' ein Leben!

Tannen zu wiegen und Eichen zu schaukeln,
Weiter zu gaukeln,
Seele den flüsternden Schatten zu geben,
Das wär' ein Leben!
|#f0251 : 229|


Ebenso ertönt Platen's Matrosenchor auf dem von Fluthen gewiegten
Schiffe:


Löst mir in Eile,
Brüder, die Seile,
Weil wir nach langer, nach drückender Weile
Wieder der prächtigen
Aber verdächtigen
Fluth uns bemächtigen,
Spannt mir die Segel und löst mir die Seile!


Oft bilden die reinen Daktylen mit Trochäen Strophe und Antistrophe,
wie in Schiller's „Frauenwürde,“ oft bilden sie bei trochäischen
Versen eine Art zweizeiligen Refrains.


β. Der Hexameter.

_ ‿ | _ ‿ | _ ‖ ‿ | _ ‿ | _ ‿ ‿ | _ _


Der Hexameter bestand ursprünglich aus sechs Daktylen:


_ ‿ ‿ | _ ‿ ‿ | _ ‿ ‿ | _ ‿ ‿ | _ ‿ ‿ | _ ‿ ‿


ein in's Weite ergossenes Schema, aus welchem er sich zu künstlerischer
Gliederung emporraffte. Zunächst vertauschte er den letzten Daktylus,
der in's Unbegrenzte fortzuhüpfen drohte, mit einem Spondäus, um
einen festen Schlußstein für die Verszeile zu gewinnen. Dann stellte er
überhaupt diese Spondäen als Hemmsteine dem herunterrollenden
Taumel der Daktylen entgegen, und zwar an allen Stellen, nur nicht an
der vorletzten, wo der Charakter des Verses am schärfsten hervortritt, um
nicht seine freie Bewegung ganz zu lähmen. Ausnahmen sind nur zu
Gunsten der rhythmischen Malerei gestattet; z. B.


Wie oft | Seefahrt | kaum vor|rückt, müh|volleres | Rudern
Fortar|beitet das | Schiff, wenn | plötzlich der | Wōg' Āb|gründe
Sturm auf|wühlt und den Kiel | in den | Wallungen | schaukelnd da hinreißt.

Schlegel.


Hier steht der Spondäus: „Wōg' Āb“ an der fünften Stelle; aber
dieser und der vorhergehende Hexameter malen durch schwergehäufte
Spondäen den mühevoll arbeitenden Gang des Schiffes, eine Malerei,
welche durch den ausnahmsweisen Spondäus des fünften Fußes am
ausdrucksvollsten hervortritt.


Der letzte Schritt, die sechsfüßigen Daktylen künstlerisch zu gliedern, |#f0252 : 230|

war die Cäsur, welche männlich heißt, wenn sie nach der ersten Sylbe
des dritten Daktylus und Spondäus eintritt:


Stolberg über der Stadt ‖ am besegelten Busen der Ostsee.

Voß.


weiblich dagegen, wenn sie nach der zweiten Sylbe des dritten Daktylus
steht:


Horcht' ich der lockenden Wachtel ‖ im grünlichen Rauche der Aehren.

Voß.


Ohne die Cäsur hat der Hexameter einen unorganischen, stolpernden
Gang. Doch kann statt dieser Cäsur auch eine Doppelcäsur nach der
ersten Sylbe des zweiten und der ersten des vierten Daktylus oder
Spondäus stehn:


Ob er zum Kampf ‖ des heroischen Lieds ‖ unermüdlich sich gürtet.


Klopstock, Goethe, Schiller haben im Deutschen die Spondäen
mit Trochäen vertauscht, in neuester Zeit ist man, nach dem
Vorgang von Voß, darin gewissenhafter und strenger geworden.


Der Hexameter hat, besonders in den alten Sprachen, einen vollwogenden,
majestätischen Gang. Wir fahren auf ihm gleichsam hinaus
in das weite Meer des Lebens mit bald beschleunigter, bald verlangsamter
Fahrt. Dieser Vers des klassischen Volks- und Kunstepos, des
Homer und Virgil, wurde von Klopstock zuerst in Deutschland eingebürgert,
obwohl er den oratorischen Hymnenklängen der Messiade nur
mit Widerstreben sich fügte. Goethe in „Hermann und Dorothea,“ dem
„Reineke Fuchs“ und der „Achillëis,“ Schiller in einzelnen Distichen
brauchten ihn mit größerer Freiheit; strenger und kunstmäßiger behandelt
ihn in seiner „Louise“ und seinen epischen Uebersetzungen der griechischen
und römischen Epiker Voß, der Luther der Homerischen Bibel,
dessen Uebersetzungen so leicht kein Nachfolger verdrängen wird. Am
reinsten haben Schlegel und Platen den Hexameter durchgeführt; und
in der That darf man vom neuen Hexameter den ausschließlichen Wechsel
von Spondäen und Daktylen verlangen, um so mehr, als sein Reich ein
beschränkteres geworden ist. Denn für den epischen Vers der Neuzeit
kann er nicht mehr gelten; die letzten Versuche, ihn wieder einzuführen,
wie das idyllische Epos von Moritz Hartmann „Adam und Eva,“
sind ohne Zweifel gescheitert. Der Hexameter hat für uns durchaus |#f0253 : 231|

nicht die Bedeutung, die er für die streng quantitirende Sprache der
Griechen und Römer hatte, gereimt würde er monoton und klappernd
klingen ─ das moderne Epos aber verlangt die Strophe und den Reim.
Die rhythmische Malerei des Hexameters, die vorzugsweise im Wechsel
der Spondäen und Daktylen besteht, läßt sich auch in anderen Versmaaßen
erreichen. So bleibt sein Wirkungskreis heut zu Tage auf die
kürzere Jdylle und vorzugsweise auf das Distichon beschränkt.


γ. Der Pentameter.

_ ‿ | _ ‿ | _ ‖ _ ‿ ‿ | _ ‿ ‿ | _


Der Pentameter ist ein um einen Fuß verkürzter Hexameter, der
gegenüber dem expansiven Charakter des hinausstrebenden Sechsfüßlers
einen mehr koncentrirten Charakter hat. Der Hexameter ist centrifugal,
der Pentameter centripetal. Zwei Daktylen prallen gegen eine Länge
an und prallen wieder von ihr zurück. Hinter dieser Länge ruht die streng
zu beobachtende Cäsur. Da der Pentameter indeß durch die einsame
Länge der Cäsur und des Schlusses einen verstümmelten Charakter hat:
so wird er nie allein, sondern immer mit dem Hexameter zusammen
gebraucht, mit welchem er das antike Distichon bildet:


Jm Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule,
Jm Pentameter drauf fällt sie melodisch herab.


Für die beiden ersten Daktylen des Pentameters können Spondäen
stehn; für die beiden letzten aber nicht, indem sie an dieser Stelle den
melodischen Fall des Verses hemmen würden.


Das Distichon, das elegische Versmaaß der Griechen, bildete sich
aus dem Hexameter und bezeichnete den Uebergang der Epik in eine
Lyrik, welche noch epische Elemente in sich enthält. Aus der Breite der
äußern Welt kehrte das sinnige Gemüth in sich selbst zurück. Wegen
dieser künstlerischen Bedeutung verdient das Distichon, in welchem
Mimnermos, Tyrtäos, Theognis, Ovid, Tibull, Properz,
Goethe
die römischen Elegieen, Schiller den Spaziergang, beide
zusammen die Xenien gedichtet, für das größere und kleinere Sinngedicht,
die Elegie und das Epigramm, beibehalten zu werden. Es
eignet sich vortrefflich für die epigrammatische Antithese. Jn neuer Zeit hat
besonders Hebbel scharfe und schlagende Xenien in dieser Form gedichtet.

|#f0254 : 232|

4. Das anapästische Versmaaß.


Der Anapästus (‿ ‿ _) ist gleichsam der beschleunigte Jambus;
der einfache Anprall des Jambus wird hier ein verdoppelter, und dadurch
der Vers lebhaft und stürmisch bewegt. Jm Auftakt kann statt des
Anapästus ein Jambus stehn, doch nicht durchweg, in einzelnen Zeilen
muß der strengere Rhythmus immer angedeutet sein. Ebenso kann statt
des letzten Anapästus ein Jambus stehn, wodurch der heftige Anlauf
etwas beruhigter austönt. Auch der Spondäus, dessen zweite Sylbe
einen höhern Ton erhalten muß, kann statt des Anapästus gesetzt werden.
Jn kleineren anapästischen Strophen wird man Zwei=, Drei- und Vierfüßler
wechseln lassen und dadurch die verschiedenste Struktur des Verses
erreichen. Am gebräuchlichsten ist der Zwei=, Vier- und Achtfüßler.


a. Die anapästische Dipodie.

‿ ‾ ‿ _ ‿ ‾ ‿ _


Dieser Vers hat Kraft, kurz abgestoßene Energie:


Er keuche dem Stier
Dem verachteten gleich:
Jhr pflanzt das Panier
Jn der Freiheit Reich.

Platen.


b. Der vierfüßige Anapästus.

‿ ‾ ‿ _ ‿ ‾ ‿ _ ‿ ‾ ‿ _ ‿ ‾ ‿ _


Ein rhythmisch bewegter Vers, der wie der vorige auch mit weiblichen
Endungen austönen, gereimt und reimlos angewendet werden
kann. Platen hat ihn zu den Chorstrophen in seinen Lustspielen
benutzt und ihm dadurch einen strophischen Charakter gegeben, daß er
auf fünf Verszeilen eine sechste folgen läßt, die aus drei Versfüßen mit
weiblicher Endung besteht.


Auf, auf, o Genossen! Er wandelt heran
Lichtschön wie Apoll, der Köcher und Pfeil
Jm Gebüsch ablegt, und die Leier bezieht
Mit Saiten! Es spühlt der kastalische Quell
An die Knöchel des Gotts und es schleicht Sehnsucht
Jn die liebliche Seele der Musen!

Romantischer Oedipus.

|#f0255 : 233|


Ebenso läßt er einen zwei- oder dreifüßigen in der zweiten und vierten
Zeile mit dem fünffüßigen wechseln.


c. Der achtfüßige Anapästus (Tetrameter).

‾ ‿ _ ‿ ‿ _ ‿ ‿ _ ‿ ‿ _ ‖ ‿ ‾ ‿ _ ‿ ‾ ‿ _ ‿ ‿ _ ‿ ‿ _ (‿)


Dieser Vers des Aristophanes, den nach seinem Vorbilde Platen und
Prutz für die Chorstrophen ihrer satyrischen Komödieen angewendet, hat
einen prächtig wogenden Gang, der ihn nicht blos für behaglich ausgeführte
Gemälde der komischen Muse, sondern auch für die Bilder üppiger
Schilderung und Empfindung, selbst für einen majestätischen Ernst geeignet
macht. Er verlangt nach jeder Dipodie einen scharfen Einschnitt; die
Hauptcäsur des Verses aber fällt nach der zweiten Dipodie. Der Spondäus
macht seinen Gang würdevoller. Dieser Vers kann ebenfalls eine
weibliche Endung haben und reimlos, wie gereimt angewendet werden:
z. B.


Keusch lehnt Klopstock an den Lilienstab, und um Goethe's erleuchtete Stirne
Glüh'n Rosen im Kranz! Kühn wäre der Wunsch zu ersingen verwandte Belohnung!

Platen.


Und gereimt:


Sein Abschiedswort thut euch durch mich der Komödienschreiber zu wissen,
Der oftmals schon, im Laufe des Stücks, vortrat aus seinen Coulissen!

Platen.


Jch habe in meinem „Carlo Zeno“ die dritte Abtheilung, die Darstellung
einer südlich glühenden Liebe, die zugleich mit siegender Heiterkeit
die klösterliche Beschränkung durchbricht, in gereimten anapästischen Tetrametern
gedichtet:


Wie duftet da rings ein gefangener Lenz aus Vasen, von Nischen, Konsolen
So würzigen Hauch! Der Abend blickt durch schwere Gardinen verstohlen.
Es hängt an der Wand im Blumengewind die Harfe mit schlummernden Liedern;
Der Papagei im Käfig frägt ─ und die Nachtigallen erwiedern.
Das Pergament auf dem zierlichen Schrein ─ das ist die Hölle des Dante,
Die alles Gezücht, Jtaliens Schmach, in den ewigen Rhythmen verbrannte!
|#f0256 : 234|

Sechster Abschnitt.

Altdeutsche, antike, orientalische Strophen.


Außer den erwähnten, gebräuchlichsten Versmaaßen haben wir noch
theils durch den Rhythmus, theils durch den Reim bedingte Strophenbildungen
zu besprechen, welche, ererbt von dem deutschen und griechischrömischen
Alterthum, für unsere neue Dichtung Bedeutung gewonnen
haben.


1. Die Nibelungenstrophe.


Wie der Hexameter hat der Vers der Nibelungenstrophe sechs Füße,
wenn man auf die sechs Hebungen und Senkungen einen Begriff der
antiken Metrik anwenden will. Die Strophe selbst besteht aus vier paarweise
gereimten Verszeilen, von denen jede wieder in zwei ungleichartige
Hälften zerfällt, indem die erste Hälfte einen weiblichen (klingenden), die
zweite einen männlichen (stumpfen) Schluß hat. Der zweite Halbvers
der vierten Zeile markirt das Ende der Strophe durch ein volleres Austönen,
indem er statt drei Hebungen vier, ja in der Gudrunstrophe sogar
fünf Hebungen hat.


Jm Auftakt können zwei Kürzen stehn ─ ebenso kann aber die Senkung
ganz fehlen, wodurch zwei Hebungen nebeneinander einen spondäischen
Charakter annehmen. Jn dieser Strophe ist bekanntlich das
Nibelungenlied und mit wenigen Modifikationen die Gudrun
gedichtet. Außer den schon erwähnten fünf Hebungen hat die Gudrunstrophe
noch in den beiden letzten Verszeilen weibliche Endungen.


Demnach ist das Schema der Nibelungenstrophe:


‿ _ ‿ _ ‿ _ ‿ | ‿ _ ‿ _ ‿ _
_ ‿ _ ‿ _ ‿ | _ ‿ _ ‿ _
‿ ‿ _ ‿ ‿ _ ‿ ‿ _ ‿ | _ ‿ ‿ _ ‿ ‿ _ ‿ ‿ _
_ ‿ _ _ ‿ | ‿ _ ‿ _ _


Zwischen diesen Vershälften sind die mannichfachsten Kombinationen
möglich:


Da klangen seine Saiten, daß all' das Haus ertost,
Seine Kunst und seine Stärke, die waren beide groß.
Süßer immer süßer zu geigen er begann;
Da spielet er in den Schlummer so manchen sorgenden Mann.
|#f0257 : 235|


Die Gudrunstrophe dagegen lautet:


Es war in den Tagen, da der Winter Abschied nimmt,
Und der Vogel mit Zagen die Kehle wieder stimmt,
Daß er singe seine Weise, wenn der März entschwunden,
Jn Schnee und im Eise wurden die armen Waisen gefunden.


Ohne Frage hat die Nibelungenstrophe sowohl die nöthige epische
Geräumigkeit, als auch eine malerische Mannichfaltigkeit des Rhythmus.
Sie kann trochäisch, jambisch, anapästisch erklingen; sie kann durch das
Fortlassen der Senkung, durch das Zusammenprallen zweier Längen scharf
und charakteristisch markiren! Dennoch entspricht ihre Anwendung in der
alten Gestalt nicht mehr den Gesetzen des modernen deutschen Versbaues,
seit er sich nach antikem Vorbilde fortentwickelt. Ein Ohr, das blos an
Hebungen und Senkungen gewöhnt ist, wird in der Nibelungenstrophe
jene Gleichmäßigkeit des Rhythmus heraushören, welche ein feiner gebildetes
Ohr vermißt, das an den jambischen oder trochäischen Tonfall
gewöhnt ist. Die Mannichfaltigkeit der alten Nibelungenstrophe hat
etwas zu Buntscheckiges, wenn sie nicht am rhythmischen Spalier der
Neuzeit in die Höhe gerankt wird.


Zunächst wird der neue Nibelungenvers den jambischen Charakter
festhalten müssen, indem er erst durch ihn ein einheitliches Gepräge erhält.
Der Jambus darf aber auch mit dem Anapäst wechseln. Die weibliche
Cäsur der Mitte unterscheidet die moderne Nibelungenstrophe hinlänglich
vom Alexandriner.


Es stand in alten Zeiten ‖ ein Schloß so hoch und hehr,
Weit glänzt' es über die Lande ‖ bis an das blaue Meer,
Und rings von duft'gen Gärten ‖ ein blüthenreicher Kranz,
Drin sprangen frische Bronnen ‖ im Regenbogenglanz.

Uhland.


Eine größere Beweglichkeit erhält die Strophe, wenn man nach ihrem
altgermanischen Vorbilde der zweiten Hälfte der vierten Verszeile vier
Füße giebt. So hat sie Strachwitz meisterhaft in: „Hie Welf
behandelt:


Fürwahr, ihr Longobarden, das war ein schwerer Tritt,
Den Friedrich Barbarossa durch Mailands Bresche ritt,
Licht war das Roß des Kaisers, ein Schimmel von Geburt,
Das war mit welschem Blute gescheckt bis über den Sattelgurt.
|#f0258 : 236|

2. Antike Strophen.


Mit dem Hexameter sind auch die antiken Odenstrophen der Griechen
und des Horaz in Deutschland eingeführt worden, Strophen, deren
schöne rhythmische Gliederung voll melodischen Wohllautes ihre Aneignung
zu einem Gewinn für die deutsche Dichtkunst macht. Ramler,
Klopstock, Platen
u. A. haben diese Strophen nur reimlos angewendet;
ich habe in meinen „Neuen Gedichten“ sie zu reimen versucht
und glaube jene Neuerung, ganz abgesehen davon, wie ihre Ausführung
mir gelungen, gegenüber der bisherigen kritischen Ansicht vollkommen
rechtfertigen zu können.


Hegel erklärt in seiner „Aesthetik“ (Bd. 3 S. 318) die Anwendung
des Reimes bei den alcäischen und sapphischen Strophen für einen
„unaufgelösten Widerspruch. Denn beide Systeme beruhen auf entgegengesetzten
Principien, und der Versuch, sie in der angeführten Weise
zu vereinigen, könnte sie nur in dieser Entgegensetzung selbst verbinden,
was Nichts als einen unaufgehobenen und deshalb unstatthaften Widerspruch
hervorbringen würde.“ Diese Ansicht Hegel's beruht auf irrthümlichen
Voraussetzungen. Der Reim mag einer nach dem Sylbengewicht
quantitirenden Sprache überflüssig und entgegengesetzt sein ─ die deutsche
Sprache aber ist und bleibt accentuirend, wenn auch ihre Zeitmessung
jetzt schärfer bestimmt ist. Eine quantitirende Sprache verträgt den
Reim nicht, weil ihre Längen oft auf bedeutungslose Flexionssylben
fallen; dagegen ist er für eine nach dem logischen Sinne messende Sprache
ein Hauptregulator des Rhythmus. Und da die deutsche Sprache ihrer
Rhythmik niemals das streng plastische Gepräge der griechischen und
römischen geben kann, selbst wo sie die metrischen Formen derselben nachahmt,
so kann auch der Reim, der gewöhnliche Begleiter der accentuirenden
Rhythmik, sich nicht im Gegensatze gegen diese Formen befinden.
Wenn er nun bei einem Versmaaß, das aus einer stets wiederkehrenden
Zeile besteht, wie der Hexameter, einen monotonen und klappernden Eindruck
machen würde: so scheint dagegen die Strophe nach den Gesetzen
des modernen Versbaues den Reim zu fordern ─ mindestens würde
sich weder für das äußere Gehör noch für den inneren Sinn der Reim
als eine störende oder nur üppige Zuthat erweisen. Dies scheint Carrière
anzunehmen, wenn er sagt: (Das Wesen und die Formen der Poesie |#f0259 : 237|

S. 118.) „Jn der gereimten Strophe muß das Versmaaß einfach sein,
sonst wird unsere Aufmerksamkeit getheilt und hin- und hergezerrt, sonst
wird entweder der Reim überhört oder das Metrum kommt nicht zur
Anerkennung.“ Jm Gegentheil, wie wir schon oben nachwiesen, es gehört
nur eine aufmerksame Beobachtung dazu, um sich zu überzeugen, daß der
Reim den Rhythmus nicht verdeckt, sondern schärfer hervorhebt, daß der
Rhythmus durch den Reim den schlagendsten Accent erhält. Jeder Reim
zwingt zu einem klareren, sprachlichen Ausdruck, zur Vermeidung der
verwickelten Syntax, der scholastischen Pedanterie, die sich durch
gesuchte Worthäufungen und Wortfügungen gerade in den reimlosen
antiken Strophen ein möglichst unvolksthümliches Ansehn zu geben
suchte. Die vollkommene Melodie der antiken Strophen tritt im
Deutschen erst hervor, wenn sie gereimt sind. Und wenn Minckwitz in
seinem Lehrbuch der deutschen Prosodie und Metrik behauptet, daß eine
Anzahl Versmaaße, die ihren ersten Ursprung den Alten verdanken,
„wegen ihres besonderen Klanges nicht wohl gereimt werden dürfen,“
so bleibt er doch die nähere Begründung dieser Behauptung schuldig.
Wir aber glauben, daß gerade das Ziel, das er selbst aufstellt, „die Vereinigung
einer strengen Rhythmik und des eingewohnten Reimes“ durch
die gereimten antiken Strophen zuerst erreicht werden dürfte, und stimmen
ihm vollkommen bei, wenn er in Bezug auf diese Vereinigung fortfährt:
„Und zwar in dem Grade, daß nicht mehr, wie so lange Zeit geschehn, an
eine mangelhafte Reihe von Sylben endlich als deutsche Ohrenweide ein
Gleichklang gehängt werde, sondern daß der Vers durch richtig abgewogene
Füße zu einem Ziel hinlaufe, welches der Reim gleichsam wie durch
eine Krone verziere.“ Den Anfang hat Graf Platen gemacht: „Künftige
Dichter werden auf der Stufe fortfahren, wo Platen stehen geblieben ist.
Es kann nicht fehlen, daß jedes deutsche Ohr durch Kunstwerke, die aus
solcher Verbindung hervorwachsen, angezogen und hingerissen wird.“


Wir können hier nur die hauptsächlichsten antiken Odenstrophen
berücksichtigen. Platen, Klopstock u. A. haben eine Menge neuer metrischer
Reihen und Strophen gebildet. Reimt man die antiken Strophen, so
giebt der Reim neben dem Rhythmus für neue Bildungen einen festen
Halt. So hab' ich auf alcäischer und sapphischer Grundlage einige neue
gereimte antike Strophen zu bilden gesucht.

|#f0260 : 238|

a. Die alcäische Strophe.

_ ‿ _ ‿ ‖ _ ‿ ‿ _ ‿ _̆
_ ‿ _ ‿ ‖ _ ‿ ‿ _ ‿ _
_ ‿ _ ‿ ‖ _ ‿ _ ‿
_ ‿ ‿ _ ‿ ‿ _ ‿ _ ‿


Diese Strophe, von dem Griechen Alkäos erfunden, hat in ihrem
Auf- und Abwogen einen majestätischen Gang. Die beiden ersten Zeilen
bestehn aus zwei Jamben mit einer Nachschlagsylbe und zwei Daktylen,
von denen sich der zweite in der Regel in einen Kretikus verwandelt, um
dem Vers durch die letzte Länge einen festen Halt zu geben. Der dritte
und vierte Vers sind gleichsam eine weitere Ausführung der beiden Vershälften
des ersten: der dritte ein vierfüßiger Jambus mit einer Nachschlagsylbe,
der vierte aus zwei Daktylen und einer trochäischen Dipodie
bestehend. So tritt die schöne Symmetrie dieses Verses zu Tage. Wir
haben in den beiden ersten Zeilen einen kühn vordringenden zweifüßigen
Jambus, der dann in Daktylen zurückwogt. Voller, mächtiger strömt
er in der dritten Zeile noch einmal an, um dann in der vierten in zwei
Daktylen zurückzuwogen und in zwei Trochäen beruhigter auszutönen.
Die Cäsur nach der Nachschlagsylbe der jambischen Dipodie in den ersten
Zeilen ist unerläßlich, weil auf ihr die Symmetrie der ganzen Strophe
beruht. Die alcäische Strophe eignet sich für schwunghafte Gedankendichtung
über die höchsten Probleme des Lebens, die der Dichter mit
mächtiger Begeisterung erfaßt. Schon ihr Erfinder hat in ihr den
gewaltigen Umschwung des Staatslebens gefeiert, Horaz Lehren ernster
Lebensweisheit und den Preis des Jmperators, Klopstock einige religiöse
Hymnen und seine politischen Revolutionsoden, Platen ebenfalls
manche politische Ode gedichtet. Auch ich habe die gereimte Strophe in
den „Neuen Gedichten“ zur Darstellung ernster und schwunghafter Gedanken
angewendet.


Beispiele:


Rinn' unterdeß, o Leben! Sie kommt gewiß,
Die Stunde, die uns nach der Cypresse ruft!
Jhr andern seid der schwermuthsvollen
Liebe geweiht, und umweht uns dunkel.

Klopstock.

|#f0261 : 239|


Gereimt:


Und sinken Völker in des Verderbens Schlund,
Der Satz des Elends bleibt auf des Bechers Grund,
So oft ihn auch im Strafgerichte
Schmettert in Scherben die Weltgeschichte.

Gottschall.


b. Die sapphische Strophe.

_ ‿ _ ‿ _ ‖ ‿ ‿ _ ‿ _ ‿
_ ‿ _ ‿ _ ‖ ‿ ‿ _ ‿ _ ‿
_ ‿ _ ‿ _ ‖ ‿ ‿ _ ‿ _ ‿
_ ‿ ‿ _ ‿


Wie in der älcäischen Strophe der jambische, so überwiegt in der
sapphischen der trochäische Gang. Die drei ersten Zeilen sind ganz gleich.
Eine trochäische Dipodie beginnt den Vers, die in einer männlichen Länge
vor der Cäsur austönt; dann tritt ein Anapäst und ein Jambus ein;
der jambische Gang wird aber wieder durch die Nachschlagsylbe gemildert
und dem trochäischen genähert. Die vierte Zeile, welche die Strophe abrundend
austönen läßt, besteht aus einem Daktylus und einem Trochäus.


Horaz hat die Cäsur stets streng beobachtet! Läßt man sie außer
Acht, wie es die meisten andern Dichter gethan, so wird der Charakter
des Verses wesentlich verändert. Wir erhalten zwei trochäische Dipodieen,
zwischen denen ein Daktylus steht. Dadurch wird aber der Vers bei
weitem einförmiger, während er durch die Cäsur, wie die alcäische
Strophe, in zwei Hälften von entgegengesetztem Gange abgetheilt wird,
als deren höhere Einheit der Vers einen charakteristisch bewegten Charakter
erhält. Gerade der Anapäst nach der Cäsur giebt dem Vers, der in
Trochäen sinnig anfängt, eine heitere Beweglichkeit. So eignet sich die
Strophe, welche die Dichterin Sappho in ihren liebeglühenden Gedichten
vorzugsweise angewendet, für getragene Heiterkeit'oder innige Gluth. Sie
ist subjektiver, als die alcäische, durch ihren Trochäenfall mehr nach innen
gewendet, in der letzten Zeile, dem adonischen Vers, mit anmuthigem
Schmerze austönend. Allzuhäufige Spondäen, wenn sie auch in der
zweiten Stelle der Dipodie verstattet sind, machen den Gang der Strophe |#f0262 : 240|

zu schwermüthig oder zu schwerfällig. Außer Sappho und Alkäos
haben Horaz, Klopstock, Hölty, Salis und Platen sapphische
Oden gedichtet:


Beispiel: (gereimt)


Hier im stillen Thal an der Bergeshalde,
Friedlich rings umkränzt vom verschwieg'nen Walde,
Wo der Schilf im Teich, wenn der Abend düstert,
Träumerisch flüstert.

Gottschall.


c. Die asklepiadäischen Verse.

_ ‿ _ ‿ ‿ _ | _ ‿ ‿ _ ‿ _̆


Dieser kleinere asklepiadäische Vers besteht aus zwei, durch eine scharfe
Cäsur geschiedene Choriamben, denen ein Spondäus oder Trochäus
vorausgeht und ein Jambus folgt. Dieser Vers wird entweder einfach
wiederholt, wie in der bekannten Ode des Horaz:


Maecenas, atavis edite regibus,


oder es wird ihm ein glykonischer Vers (_ ‿ _ ‿ ‿ _ ‿ _) vorgesetzt:


_ ‿ _ ‿ ‿ _ ‿ _
_ ‿ _ ‿ ‿ _ | _ ‿ ‿ _ ‿ _̆


Jsis, Mutter Natur allein,
Darf die schöpf'rische Gunst ihrem Gebieter weihn.

Gottschall.


oder es folgt auf drei asklepiadäische Verse ein glykonischer:


_ ‿ _ ‿ ‿ _ | _ ‿ ‿ _ ‿ _̆
_ ‿ _ ‿ ‿ _ | _ ‿ ‿ _ ‿ _̆
_ ‿ _ ‿ ‿ _ | _ ‿ ‿ _ ‿ _̆
_ ‿ _ ‿ ‿ _ ‿ _


Welchen König der Gott über die Könige
Mit einweihendem Blick, als er geboren ward,
Sah vom hohen Olymp, dieser wird Menschenfreund
Sein und Vater des Vaterlands,


oder drei asklepiadäische Verse werden durch den pherekratischen
(_ ‿ _ ‿ ‿ _ ‿) unterbrochen:

|#f0263 : 241|

_ ‿ _ ‿ ‿ _ | _ ‿ ‿ _ ‿ _̆
_ ‿ _ ‿ ‿ _ | _ ‿ ‿ _ ‿ _̆
_ ‿ _ ‿ ‿ _ ‿
_ ‿ _ ‿ ‿ _ ‿ _


Schön ist Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht
Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gemüth,
Das den großen Gedanken
Deiner Schöpfung noch einmal denkt.

Klopstock.


Die choriambische Grundlage giebt allen diesen Strophen einen
geflügelten Gang, der aber bedeutend durch die vorn und hinten angehängten
Gewichte ermäßigt wird. Nur die glykonischen Verse, einzeln
gebraucht, eignen sich zum leichthinhüpfenden Ausdruck eines heitern
Jnhaltes. Durch die zwei Choriamben wird der Gedanke immer wieder
mit einem gewissen Schwung auf sich selbst zurückgeworfen, so daß sich
die asklepiadäischen Verse eben so für einen schwunghaften, ernsten, ja
melancholischen Jnhalt eignen. Jch habe auch diese Verse in ihrer verschiedenen
Form zu reimen versucht, zugleich auf ihrer Grundlage neue
Strophen aufgebaut, für deren Architektonik der Reim ein willkommener
Schlußstein ist. Das Festhalten des choriambischen Grundtones ist bei
dieser Strophenbildung wesentlich:


Um die Wipfel des Parks dämmert des Mondes Strahl,
Tief in Schweigen gehüllt schlummert das Schattenthal.
Längst ist mit Blüthen und Liedern der Lenz entflohn,
Gelbliche Blätter verstreuen die Winde schon,
Saat der Vergänglichkeit, welkes Laub
Raschelt im Staub.

Gottschall.


Der größere asklepiadäische Vers erhält einen ernsteren Charakter
durch das Hinzukommen eines Choriambus:


_ ‿ _ ‿ ‿ _ _ ‿ ‿ _ _ ‿ ‿ _ ‿ _‧


d. Die großen Odenstrophen.


Pindar und die chorische Lyrik der attischen Tragödie bildeten die
Plastik des griechischen Rhythmus zu langen und wechselnden Reihen
aus, deren Gang eine höchst kunstvolle Zusammensetzung der Versfüße
enthält. Der daktylische und choriambische Gang wird durch Spondäen |#f0264 : 242|

gehemmt oder tönt durch Trochäen und den Kretikus in leichterem
Schwung aus. Für eine streng quantitirende Sprache waren diese großen
Versmaaße der schönste Gipfel rhythmischer Entwickelung, der Triumph
des Dichters und des Hörers, der diesen verwickelten Sätzen der metrischen
Komposition mit geübtem Ohr folgte. Jedem Schwung des Gedankens
konnte sich diese freie Pindarische Rhythmik anschmiegen. Anders verhält
es sich in unserer Sprache, welche keine so ausgeprägte, schöne Leiblichkeit
hat, welche durch vier aufeinander folgende Längen bereits einen
schwerfälligen Anstrich gewinnt und schon bei drei Kürzen auffordert, den
Ton auf eine derselben zu legen und sie dadurch in eine Länge zu verwandeln.
Einem verwickelten Schema metrischer Komposition wird das
Ohr nicht folgen können, ohne zu ermüden und den Faden zu verlieren,
und so können wir auch die Platen'schen Versuche, trotz aller Kunst und
Sprachgewandtheit, nicht für gelungen halten, sondern für vergebliche
Bemühungen, eine todte Form zu galvanisiren. Es sind metrische
Zuckungen, aber kein metrisches Leben.


Für die größere strophische Architektonik ist der Reim im Deutschen
unentbehrlich; er ist der Karyatide unserer deutschen Rhythmik. Oden,
Hymnen, Dithyramben erfordern einen freien Schwung ─ er hat im
Deutschen am Reime den besten Halt!


Entweder mögen daher unsere Dichter gereimte Jamben, Trochäen,
Daktylen von verschiedenen Füßen, in diesen größeren Gedichten abwechseln
lassen, wodurch sie, bei richtigem Takte und Formensinn, eine stets
angemessene, malerische Drapirung des Gedankens erzielen;


Oder sie mögen der chorischen Lyrik der Griechen darin folgen, daß sie
ein solches Gedicht in Strophe, Antistrophe und Schlußstrophe
gliedern, indem die Antistrophe das Schema der Strophe auf's Strengste
wiederholt, die Schlußstrophe aber beide in einer höheren Einheit zusammenfaßt.
Dabei mögen sie die verwickelteren und für das deutsche Ohr
immer unverständlichen chorischen Vers- und Strophenbildungen aufgeben
und was ihnen dadurch entgeht, durch den Reim ersetzen, der die einfachere,
aber korrekte Rhythmik melodisch gliedern hilft. Schon Carrière
bemerkt mit Recht, „was Pindar und die Tragiker in dem Gebäude
von Strophe, Antistrophe und Epode erreichen, die Verbindung zweier
gleichen und eines dritten, ihnen ungleichen Bestandstückes, das erzielen |#f0265 : 243|

Alkäos so gut wie Walther von der Vogelweide, deutsche Volkslieder so
gut wie Petrarkische Kanzonen innerhalb einer Strophe, die dann regelmäßig
wiederkehrt. Die gleichen Theile heißen in Deutschland Stollen,
der ungleiche Abgesang.“ Ein solcher großartiger, dreigliedriger strophischer
Organismus mit reimendem Versabschluß erscheint uns für die
höchste Gattung der Lyrik im Deutschen als die angemessenste Form, die
bis jetzt noch nicht versucht ist, die aber unfehlbar wird versucht werden,
wenn der Sinn für die höhere Lyrik wieder lebendiger zum Durchbruch
kommt.


3. Brientalische Versarten.

a. Die Gaselen.


Die Gaselen (Lobgedichte) sind eine persische Dichtform, welche
Rückert und Platen in die deutsche Literatur eingeführt haben. Jhre
charakteristische Eigenthümlichkeit besteht in der Wiederkehr desselben
Endreimes, der in zwei ersten auf einander folgenden Zeilen sich ankündigt,
dessen spätere Wiederholungen aber durch eine reimlose Zeile zur
Vermeidung der Monotonie unterbrochen werden. Dabei ist es gleichgültig,
ob das Metrum ein jambisches, daktylisches und trochäisches und
wie groß die Zahl der Füße ist ─ nur muß derselbe Rhythmus streng
durch das Ganze durchgeführt werden. Außer dem Reime selbst wird,
in den entsprechenden Zeilen, noch ein einzelnes oder mehrere einzelne
Wörter wiederholt, oder vielmehr ─ die Gaselen lieben es, einen Kretikus
zu reimen:


Es liegt an eines Menschen Schmerz, an eines Menschen Wunde Nichts,
Es kehrt an das, was Kranke quält, sich ewig der Gesunde Nichts!
Und wäre nicht das Leben kurz, das stets der Mensch vom Menschen erbt,
So gäb's Beklagenswertheres auf diesem weiten Runde Nichts.

Platen.


Die Form der „Gasele“ hat etwas Kindliches und Unreifes; sie eignet
sich nur als Band für an einander gereihte Spruchperlen, für Parallelismen
des Gedankens und des Bildes. Bei größeren „Gaselen“ wirkt
der immer wiederkehrende Reim ermüdend und hält die Seele in dem
gleichen Gedankenbann. Eine Anwendung der „Gaselen“ für andere,
als kleine sententiöse Gedichte, muß in der deutschen Poesie als unangemessen
erscheinen.

|#f0266 : 244|

b. Die Makâmen.


Die Form der arabischen Makâme (Unterhaltungsaal, Salon,
Gespräch) ist noch kindlicher. Diese „gereimten Gespräche,“ die Rückert
dem Hariri zuerst nachgedichtet, machen von den Licenzen des gesprächlichen
Tones einen ausgedehnten Gebrauch, bei welchem alles Kunstmäßige
des Rhythmus verloren geht. Die Zeilen sind bald kurz, bald
zu großer Länge ausgedehnt; Jamben, Trochäen, Anapäste wechseln; die
Reime klappen oft zwei- und dreifach auf einander und lösen sich mit
Alliterationen ab. Gaselen wechseln mit den Makâmen ab, wie Arien
mit Recitativen:


Als der Kadhi das angehört,
Ward er ganz verstört,
Und als wie bethört,
Warf er ihnen hin einen Denar,
Den schnappte der Alte wie ein Aar.

Rückert.


Diese Verse werden nicht wie hier gesondert, sondern wie die Jean
Paul'schen Streckverse hinter einander fortgeschrieben, so daß der Eindruck
eines rhythmischen Urbreies, aus dem der Reim irrlichterartig aufzuckt, ein
vollkommener wird. Die Einführung der orientalischen Knittelverse ist
für die deutsche Poesie nur ein geringer Gewinn. Wir könnten hier noch
die gaselenartigen Vierzeilen, das Metrum der indischen „Slokas


_̆ _̆ _̆ _̆ | ‿ ─́ ─́ ‿ ‖ _̆ _̆ _̆ _̆ | ‿ _ ‿ _


des Heldenverses, in welchem die erste Dipodie jeder Hälfte beliebig
zwischen langen und kurzen Sylben wählen kann, während die zweite
Dipodie feststeht, so daß der Vers zugleich Wechsel und Halt gewinnt und
im jambischen Doppelfuß ruhiger austönt; wir könnten das schwunghafte
Metrum des Firdusi:


‿ _ _ ‿ _ _ ‿ _ _ ‿ _


in welchem das große persische Schahnameh gedichtet ist, hier noch ausführlicher
besprechen; aber diese Versarten haben bis jetzt in Deutschland
wenig Anklang gefunden und werden auch ihrem ganzen Charakter nach,
der mit dem Genius unserer Sprache nicht harmonirt, kaum eine größere
Geltung gewinnen können.


[Abbildung]

|#f0267 : E245|

Zweite Abtheilung.

Die Formen der Dichtkunst.

[Abbildung]

|#f0268 : E246|
|#f0269 : E247|

Eintheilung. ──────


Der Dichter geht entweder von der gegenwärtigen Empfindung
aus, die er zum Centrum der Welt macht, in die er die Welt
hineinnimmt; er läßt diese Empfindung in der ganzen Musik der Sprache
austönen und dichtet so wieder für die Empfindung ─ das ist die
musikalische Poesie, die Poesie der Empfindung, die Lyrik;


Oder der Dichter läßt der äußern Welt ihr volles Recht, indem er die
Bilder vergangener Thaten und Ereignisse und den ganzen Hintergrund
der Weltbühne für die Anschauung auferweckt und alle Gestalten,
Gruppen, Scenen, Bilder mit plastischer Bestimmtheit ausprägt ─
das ist die plastische Poesie, die Poesie der Anschauung, die Epik;


Oder er vereinigt das subjektive Element der Lyrik und das objektive
der Epik in einer höheren Einheit, indem er eine Handlung darstellt,
welche sich unmittelbar gegenwärtig vor unsern Augen mit wachsender
Spannung nach der Zukunft hin entwickelt, die Poesie der Anschauung
und Empfindung ─ die Dramatik.


Man hat noch als vierten Zweig der Dichtkunst die lehrhafte, die
Didaktik, unterschieden! Doch diese ist entweder eine mißlungene Gedankenlyrik,
oder sie läßt sich, als nur halb entwickelter Nebenschößling, in
der Epik unterbringen.


Man kann zwar nachweisen, daß historisch die Epik der Lyrik vorausgegangen,
mindestens in ihrer entwickelten Form; denn selbst die
einzelnen Gesänge der Rhapsoden, welche in den alten Heldengedichten
erwähnt werden, hatten meistens einen epischen Jnhalt und waren daher
ein noch unentfalteter episch=lyrischer Keim ─ aber die eigene Empfindung
ist doch der Urquell aller Poesie, selbst wo sie nur wie ein unsichtbarer
Aether um die plastische Gestaltung zittert; die Lyrik ist die einfachste
Dichtgattung, die Jedem unmittelbar am nächsten liegt; wir glauben
daher, besonders in Berücksichtigung der praktischen Zwecke unseres
Werkes, mit der Lyrik beginnen zu müssen.

|#f0270 : E248|

Erstes Hauptstück.

Die Lyrik. ──────

Erster Abschnitt.

Wesen der Lyrik.


Die dichtende Phantasie stellt sich zunächst auf den Boden der
Empfindung und ihrer unmittelbaren Gegenwart; sie macht die
empfindende Seele zum Mittelpunkt des Universums und giebt dem
Augenblick einen unendlichen Werth. Die Lyrik erschließt die Poesie
des Gemüthes und seiner wechselnden Stimmungen, die reiche, vielbewegte
Jnnerlichkeit, welche gleichsam die ganze äußere Welt in ihrem
Feuer aufzehrt. Sie spricht diese Stimmungen mit der Wärme und Frische
momentaner, aber doch künstlerisch geläuterter Erregtheit aus und leiht
ihnen den ganzen melodischen und rhythmischen Zauber der Sprache.


Da die Lyrik das Reich der Stimmungen beherrscht: so entspricht sie
der Musik und scheint in ihre Domaine überzugreifen. Jn der That
kommt in ihr ebenfalls das unbestimmte Weben des Gemüths zu seinem
Recht und seinem Ausdruck, und in der Form gebietet sie über die ganze
Musik der Sprache. Doch schon aus dem Wesen der Dichtkunst geht
hervor, daß auch die Lyrik nicht, wie die Musik, in der Welt der Töne
das alleinige Medium finden kann, in welchem sich der Ausdruck der
Seele offenbart, sondern daß sie den bestimmteren Aether der Vorstellung,
das geistige Bild, zum Ausdruck der Empfindung wählt. Freilich hat
das Wort, außer seiner Bedeutung, auch seine tönende Saite, und auch
diese kommt in der Lyrik, der musikalischen Poesie, zu ihrem Rechte. |#f0271 : 249|

Wo sie sich indeß zur Herrschaft erheben, Bild und Bedeutung in den
Hintergrund drängen will: da erhalten wir entweder der Dichtkunst
unwürdige musikalische Trällereien, wie sie sich häufig in der Volkspoesie
finden, oder die Musik der Sprache, die sich selbst Zweck geworden, verführt
zu gekünstelten Tongemälden, zu koketten und spielerischen Reimereien,
von denen die italienischen Strophenbildungen in den Händen der
deutschen Romantiker schlagende Proben geben.


Da das Wort stets der Träger der Vorstellung ist: so malt auch
die Lyrik, wie die Poesie überhaupt, für das innere Auge der Seele.
Doch hierin darf sie sich nicht dem epischen Behagen überlassen, nicht
das beschreibende Element in den Vordergrund drängen, sondern bei der
Schilderung nie vergessen, daß die äußere Welt ihr nur als Spiegel der
innern gilt. Die beschreibende Poesie als solche ist ein losgelöster
Bestandtheil der epischen; ihre Selbstständigkeit hat nur eine zweifelhafte
Berechtigung; aber aus dem Bereich der Lyrik fällt sie gänzlich
heraus. Auch würde sie dadurch nicht lyrisch werden, daß sie
Zustände des Seelenlebens selbst in den Kreis ihrer Darstellung zu ziehn
versuchte; denn das Verhalten des beschreibenden Dichters zu seinem
Objekt ist ein äußerliches, wie es dem stimmungsvollen Charakter der
Lyrik nicht entspricht. Das Bild des Lyrikers hat keinen festen plastischen
Halt; es schwebt gleichsam nur auf den Wogen der Empfindung; und
selbst in denjenigen Gattungen der Lyrik, in denen ein reicheres mehr verweilendes
Ausmalen gestattet ist, müssen die Farben des Kolorits der
Stimmung der Seele entsprechen, aus der das Bild geboren ist, in die es
wieder zurückgenommen wird. Aehnlich verhält es sich mit dem Gedanken.
Es ist thöricht, die Lyrik auf das Element der Stimmung, das sich
nicht geist- und lebensvoll bewegt und ausbreitet, beschränken zu wollen
─ eine Ansicht, die von den großen Lyrikern aller Nationen thatsächlich
widerlegt, dennoch ihre Vertreter findet. Jm Gegentheil, gerade eine
gedankenvolle Lyrik nimmt den höchsten Rang ein; ihr verdanken wir die
hervorragendsten Schöpfungen auf diesem Gebiete. Doch ihre nothwendige
Voraussetzung ist eine dichterische Kraft, welche diesem Stoffe
gewachsen, Adel, Würde und Größe der Seele, welche sich nicht nur in
jede Gedankenwelt hineinzuempfinden vermag, sondern von Hause aus so
in ihr lebt und webt, daß ihre eigenste Stimmung gleichsam nur ein |#f0272 : 250|

Erzittern dieser erhabenen Welt ist. So finden wir es z. B. bei Klopstock
und Schiller. Ohne diese Energie geistiger Begabung wird freilich der
Gedanke oder die Reflexion nur äußerlich angeeignet erscheinen; die Dichtung
erhält einen lehrhaften Charakter oder wird künstlerisch ganz verfehlt,
indem der ästhetische Proceß einen Niederschlag lebloser Abstraktionen
zurückläßt.


Von der Epik und Dramatik unterscheidet sich die Lyrik wesentlich
durch die Bestimmung der unmittelbaren Gegenwart, die ihren
Schöpfungen unentbehrlich ist. Die Epik erzählt die Vergangenheit als
solche, die Dramatik führt uns eine gegenwärtige Handlung vor, die sich
aber vor unsern Augen nach der Zukunft hin entwickelt und gestaltet; nur
die Lyrik sucht den gegenwärtigen Augenblick festzubannen und seinen
Gehalt zu erschöpfen. Sie mag wehmüthig der Vergangenheit, sehnsüchtig
der Zukunft gedenken; aber nicht Vergangenheit und Zukunft gelten
hier, sondern nur die gegenwärtige Wehmuth und Sehnsucht der
Seele; ja man kann sagen, erst der Lyriker schafft eine Gegenwart. Die
Dialektik der Zeit läßt den Augenblick schon im Entstehen verschwinden;
das „Jetzt“ wird ein unfaßbares, undenkbares Atom ─ der Dichter aber
hebt aus dem abstrakten Fluß der Zeit ein konkretes Moment heraus und
drückt ihm den Stempel der Gegenwart, der eigenen und einer ewigen,
auf. Das „Jetzt“ wird ein empfundenes, ein beseeltes! Der Lyriker sagt
nicht nur zum Augenblicke: „Verweile doch, du bist so schön!“ sondern er
verleiht ihm die Schönheit der eigenen Seele und hebt ihn so aus den
verschwebenden Stimmungen der Zeit heraus. Man hat in der Lyrik
eine thatkräftige Wendung nach der Zukunft hin getadelt; man hat sie als
rhetorisch, tendenziös verworfen ─ und doch trifft die lyrische Muse,
wenn sie wie „Trompetenruf im Morgengrau'n“ ertönt, den Ton einer
durchaus poetischen Seelenstimmung. Der muthige Thatendrang hat
sein gutes Recht in der Lyrik; Tyrtäos, Körner und Herwegh sind
echte Dichter. Die Lyrik ist aus dem Bedürfniß des Gemüths hervorgegangen,
sich selbst in künstlerischer Verklärung gegenwärtig zu werden.
Die Musik, die geschichtlich der Dichtkunst vorausging, konnte dies, ohne
das lösende Wort, nur unvollkommen erreichen, da sie wohl den dunkeln
Grund des Gemüthes erregt und in einen Wechsel von Stimmungen
hineinzieht, aber in ihrem unbestimmten Element die Seele nicht von der |#f0273 : 251|

Dumpfheit befreien kann, die auf ihr lastet. Erst als sich zur Lyra, Cither
und Flöte das melodische Wort gesellte, wurde der Zauber der Stimmung
gelöst; denn erst die ausgesprochene Stimmung befreit die Seele.
Jst dies schon bei der einfachen Aussprache der Fall, um wievielmehr
bei der künstlerischen, in welcher wir uns einer Stimmung nicht blos entäußern,
sondern sie in ein ideales Gebiet, in das der Schönheit, versetzen,
wo sie sich in einer höheren Harmonie auflöst. Das menschliche Gemüth
hat seine dunkeln, unergründlichen Regionen; es steht in unleugbarem
Zusammenhang mit den Zuständen des Körpers. Oft ist seine Stimmung
nur ein krankhaftes Vibriren der Nervensaiten, und die Rembrandtschen
Schatten, die über die Erde fallen, kommen oft nur von Stockungen
des Blutumlaufs. Es ist nicht ohne Bedeutung, daß die Alten die
Melancholie von der schwarzen Galle herleiteten und den Herd der dichterischen
Begeisterung, des Vaticiniums, in der Leber suchten. Die
Stimmung des Gemüthes als solche wurzelt daher in verhüllten Naturtiefen,
sie ist an und für sich unfrei und ungeläutert, und auch da, wo sie
von den Höhen kommt, und nicht aus der Tiefe, wo sie sich an einer
Berührung der geistigen Welt, der Natur, des Herzens entzündet, noch
allen Zufälligkeiten und wechselnden Einflüssen der Körperwelt unterworfen.
Erst wenn sie künstlerische Gestalt gewonnen, wenn gleichsam
die Nabelschnur der Materie gelöst ist, und sie freien Pulsschlag, freien
Athemzug, eigenthümliches Leben im Reiche der Dichtung erlangt: dann
ist das Gemüth nicht nur von ihr befreit, steht ihr nicht nur als einer
fremden gegenüber, sondern es findet sich selbst in ungeahnter Verklärung
wieder, sieht seine Empfindungen der Erdschwere entnommen und in einen
freieren Aether gebannt, und dem flüchtigen Spiel eine schöne Dauer
gegeben. Das ist die Bedeutung der Lyrik überhaupt nicht nur für den
Dichter, sondern auch für den Hörer, der diese Befreiung der Seele mitempfindet.
Die innere Gemüthswelt wird mit ihren Störungen und
Trübungen in ein ideales Licht gerückt, in welchem selbst ihre Schatten zu
einem harmonischen Ganzen verschmelzen. So reich nun der Jnhalt der
Empfindung ist, so reich ist der Jnhalt der Lyrik. Je vielseitiger
gebildet der Geist, je zarter besaitet das Gemüth: desto reicher wird die
Welt sein, die in der dichterischen Empfindung aufgeht. Von den Naturlauten
der Volkspoesie bis zu den gedankenvollen Rhythmen eines auf |#f0274 : 252|

der Höhe seiner Zeit stehenden modernen Dichters erstreckt sich eine ausgedehnte
Skala von Stoffen, welche die Empfindung erfassen, die Lyrik sich
aneignen kann. Die höchsten metaphysischen Gedanken, Religion und
Philosophie, sind keinesweges ausgeschlossen, wenn sie auch oft durch die
Wucht ihres Jnhaltes die Poesie zu formlosen Gedankendichtungen
zwingen, in denen die Grenzen der Lyrik, Epik und Dramatik zerfließen.
Die Einwände, die man einer dichterischen Philosophie, welche nur die
Fühlfäden der Empfindung in das Universum ausstreckt, entgegenstellt,
können die philosophische Dichtung nur dann treffen, wenn sie die Vermittelungen
und Wendungen der Spekulation unverarbeitet in sich aufnimmt,
eine Prosa des Ausdruckes, die sich häufig bei Sallet findet, und
von der auch Schefer und Rückert nicht freizusprechen sind. Vom
Philosophen erwarten wir in Bezug auf die höchsten Probleme logische
und systematische Entwickelungen, vom Dichter aber Jntuition, jenen
unsagbaren Tiefblick, der gleichsam in's Herz der Dinge schaut, und
welcher Denken und Empfinden unmittelbar verschwistert. Nächst diesen
höchsten Gedanken des Lebens sind es Staat und Gesellschaft, die Entwickelung
der Menschheit überhaupt, welche die Phantasie des Lyrikers
anregen und befruchten können. Es versteht sich von selbst, daß hierbei
nicht vom Vortrage bestimmter Theorieen, von staatsrechtlichen Allgemeinheiten
die Rede sein kann, daß nicht todte, ruhende Begriffe, sondern
nur bewegte, lebensvolle Kräfte die Stimmung des Dichters
beherrschen können. Er verherrlicht die Persönlichkeiten, in denen das
Staatsleben in Frieden und Krieg sich verkörpert und eine markirte Physiognomie
erhält, die Fürsten, Staatsmänner und Feldherrn, wie Horaz,
Victor Hugo u. A.; er feiert die Märtyrer der Jdee, die unterliegenden
oder siegenden Helden der Freiheit; er stimmt seine Trauerklage am
Grabe untergegangener Nationen an, wie Platen und Lenau in ihren
Polenliedern; er begleitet mit seinen Akkorden große Umwälzungen der
Staaten, wie Klopstock, der die französische Revolution anfangs mit
begeistertem Jubel begrüßt, bis er sich später mit Abscheu von ihren
Gräueln abwendete. Er läßt Kriegslieder, ermuthigende Schlachtgesänge
ertönen, wie Tyrtäos und Körner; er giebt der dumpfen Stimmung
jugendlichen Thatendrangs einen begeisterten Ausdruck, wie Herwegh;
er wendet sich gegen bestehende Einrichtungen des Staates und der |#f0275 : 253|

Gesellschaft, nicht mit abstraktem Pathos, sondern mit warmer Empfindung,
wie Freiligrath, Prutz, Béranger. Er klagt mit den
Armen, mit den Enterbten, wie Beck und Meißner; ja er kann die
äußersten Grenzen des socialen Elends berühren, das Reich der verlornen
Seelen, wenn auch nicht mit jener wüsten Verherrlichung, wie Alfred
de Musset.
Das alles kann die Seele des Dichters in ihrer innerlichen
Gluth zu Momenten der eigenen Stimmung umschmelzen. Noch näher
liegen der Empfindung freilich die Vorgänge des umgebenden bürgerlichen
Lebens und die eigenen Vorgänge des Gemüthes selbst. Die
Geselligkeit mit ihren Freuden, die Begebnisse der Familie und ihre Feier
geben bequemen Stoff, der aber allzu leicht von der trivialen heitern
oder rührenden Seite aufgefaßt wird. Den reichsten Stoff für die Lyrik
bietet das Gemüth selbst mit seinen Stimmungen, Leidenschaften, all'
seinen inneren Begebenheiten. Der Wechsel der Tages- und Jahreszeiten,
die Beleuchtung, Färbung und Stimmung der Natur rufen im empfänglichen
Gemüth eine verwandte Stimmung der Seele hervor, die sich im
lyrischen Naturbild ausprägt. Doch ist diese landschaftliche Empfindung
dem klassischen Alterthum fremd, das wohl Sinn für die idyllische
Beschränkung des Daseins, für die Thätigkeit und die Freuden des Landlebens
hatte, aber den Zusammenklang der Natur und der Seele nicht
mit jener Jnnigkeit empfand, welche zum vollströmenden Quell der Liederpoesie
wird. Selbst bei unsern klassischen Dichtern tönte die antike Weltanschauung
hierin in maaßgebender Weise nach. Klopstock läßt sich
zwar durch den Züricher See zu Betrachtungen über die Schönheit der
„Mutter Natur“ und ihrer Erfindung Pracht begeistern; Schiller malt
wohl in seinen Balladen die Tiefe des Meeres und ihre Ungeheuer, die
in der Sonne Gold leuchtenden Dardanellen und besonders im „Spaziergang“
manches anmuthige Landschaftsbild; aber es fehlt diesen Bildern
der Hauch der Stimmung, der eigenthümliche Duft der Seele. Mehr
verschmilzt schon bei Matthisson und verwandten sentimentalen Dichtern
das Naturbild mit der Seelenstimmung. Dagegen bietet die
moderne Lyrik zahlreiche und schöne Beispiele ihrer innigen Vermählung.
Jn Victor Hugo'sDämmerungsliedern“ ist das Dämmerlicht
der Natur träumerisch über das Seelenleben und das geschichtliche Bild
ausgebreitet; Ludwig Uhland feiert in den mildbesonnten Tagen |#f0276 : 254|

des Lenzes die kindlich spielende Heiterkeit, in denen des Herbstes die
wehmüthige, sich nach dem Grab sehnende Erinnerung; Emanuel
Geibel
sucht für den feuchten Frühlingsabend nach einem verwandten,
dunkeln, milden und weichen Klang; Nicolaus Lenau wandert voll
Todessehnsucht durch die Wetternacht oder empfindet den trennungsschaurigen
Hauch des Herbstes; Heinrich Heine läßt die vom Mond
geküßte Lotosblume im Liebesweh erzittern. Auch die unberühmte Tageslyrik
beutet das Naturleben für die Empfindung unermüdlich aus; doch
nur ein origineller Dichtergenius vermag auf diesem Gebiete neue und
tiefe Beziehungen zu entdecken. Die Blumenlyrik, welche in jede Blume
eine beliebige Seele hineinzwängt, um die zierlichen Sträußchen für die
modischen Toilettentische der Damen zu Stande zu bringen, ist einer
grenzenlosen Verwässerung anheimgefallen. Statt Natur und Seele mit
dichterischem Tiefblicke in Eins zu schauen, heftet sie ein Verslein gleichsam
als Etiquette an die Pflanzen. Diese lyrische Botanik wird von einzelnen
Dichterfirmen geradezu handwerksmäßig betrieben.


Die Liebe, als die bewegende Macht des Gemüthes, spiegelt sich in
einer Fülle von Stimmungen, welche für die Lyrik außerordentlich ergiebig
sind. Jn der That ist dies in der Lyrik aller Zeiten der vorwiegende
Stoff, der durch die wechselnde Sitte der Völker, durch die verschiedenen
Persönlichkeiten der Dichter und die immer neue Behandlungsweise vor
ermüdender Einförmigkeit geschützt bleibt. Doch ist den Dichtern der
Gegenwart anzurathen, nicht in allen diesen geschichtlich verbrauchten
Formen, bald antik, bald persisch und türkisch, bald minniglich oder
petrarchisch, Gott Amor fesseln zu wollen, sondern ihr Streben darauf zu
richten, daß sie einen Ton treffen, welcher den Sitten und der Bildung
unserer Zeit entspricht. Die Liebeslyrik, die sich in ausgetretenen Gleisen
bewegt, wird unerträglich, und nirgends mehr als hier verlangen wir
eine scharf ausgeprägte und bedeutende Persönlichkeit, die uns für ihre
Neigung und Leidenschaft zu interessiren vermag. Von Anakreon's
erotischen Genrebildchen bis zu Hafisen's polemischer, trunkener Lebens=
und Liebeslust, von Sappho's leidenschaftlicher Gluth bis zu Properzen's
kühnerem Feuer, von den ritterlichen Huldigungen der Troubadours
und Minnesänger bis zur gelehrt schmachtenden Weise des Petrarca
und der ihm nachfolgenden Sonettisten ─ welch' eine Fülle von Tönen, |#f0277 : 255|

welch' ein Wechsel der Behandlungsweise, welch' eine Unerschöpflichkeit
des einen großen Themas der Liebe! Nehmen wir noch hierzu Klopstock's
theils erhabene, theils familiaire Liebesoden, Goethe's einfache,
gefällig innige Lieder, Byron's stolz leidenschaftliche Gesänge, Geibel's
blonde, keusche, ätherische Minne, Lenau's nach düstern Bildern haschende
Gluth, Heine's blasirte, schalkhafte, aromatisch duftige Erotik, Dingelstedt's
schönempfundene, von geistigen Kontrasten tiefbewegte Liebeselegieen
─ so gewinnen wir die Ueberzeugung, daß jeder wahrhafte Dichter
einen neuen Ton trifft, um die Liebe zu feiern, daß diese Skala nicht
erschöpft ist und nie erschöpft werden kann. Schon die Liebes- und Naturlyrik
konnte die leiseste Anregung, die flüchtigste Stimmung verwerthen,
und in der That kann die Lyrik überhaupt noch dort ihre Stoffe suchen
und finden, wo ein die Dinge messender und wägender Verstand nur
imponderable Größen erblickt. Wie die Stimmung des Gemüths oft
aus unerkennbaren Atomen zusammengeweht wird: so auch das Gedicht,
das aus ihr hervorgeht. Kleinigkeiten, Tändeleien, Nichtigkeiten des
Daseins sind vollkommen am Platz, sobald die Seele ihre Regungen an
sie anzuknüpfen vermag. Eine reiche Seele schaut im Kleinsten das All
und lebt mit gleicher Gedankentiefe und Fülle im mikroskopischen, wie
im teleskopischen Universum. Doch darf die Harmlosigkeit des Stoffs
nie die künstlerische Form, die eben das Kleinste adeln soll, ankränkeln ─
ein bloßes Austrällern der Gefühle findet sich wohl in der Volkspoesie,
doch bleibt es künstlerisch verwerflich. Auf der andern Seite soll das
Gemüth des Dichters, wenn es auch berechtigt ist, die vergänglichste
Stimmung festzuhalten, nie unklaren Launen oder tollen Marotten die
Ehre dichterischer Verherrlichung angedeihn lassen, sondern stets im Auge
behalten, daß es sich in der Poesie um ein Aussingen der Seele handelt,
welches allgemeinen Anklang erweckt, nicht um ein Aushusten oder
Ausniesen, das nur zur persönlichen Erleichterung dient.


Wir haben den Kreis des Jnhaltes durchmessen, über den die Lyrik
verfügen kann; es gilt jetzt die Kunstform der Lyrik in's Auge zu fassen.
Da das lyrische Gedicht aus der Stimmung des Augenblickes hervorgeht:
so kann es nicht so langathmig sein, wie das epische oder dramatische,
welche eine gestaltenvolle Welt spiegeln; es ist schon dadurch auf die
Kürze hingewiesen. Eine umfangreichere lyrische Dichtung wird sich |#f0278 : 256|

daher nur in der Weise eines Cyklus zusammensetzen können, in welchem
sich an einen Grundton eine ganze Skala von Stimmungen anreiht, in
denen jeder Ton wieder der Grundton einer neuen Skala werden kann.
Man kann lyrische Blumen zum Kranz winden, aber jede Blume hat ihr
eigenes Recht, und der Accent ruht weniger auf dem Kranz, als auf der
einzelnen Blume. Diese Vereinzelung gehört zum Wesen der
Lyrik. Platen feiert Venedig in einem Sonettenkranz; der Grundton
der Stimmung geht durch alle; aber es ist bald dieses, bald jenes Bild
der Lagunenstadt, an das er seine dichterischen Reflexionen knüpft. Grün
hat im „Schutt“ vier Cyklen zu einem großen Cyklus vereint; aber in
jedem ist es eine Reihenfolge einzelner Stimmungen und Bilder, die alle
wieder eine selbstständige Bedeutung haben. Ein lyrischer Cyklus ist kein
Organismus, den man seiner einzelnen Glieder nicht ohne Gefahr für
das Ganze berauben könnte; im Gegentheil, gleich den niederen Klassen
der Natur, hat jedes losgetrennte Glied des Ganzen sein eigenes Leben.


Die Einheit des lyrischen Gedichts ist von der des epischen und
dramatischen wesentlich verschieden; der Begriff der Episode findet hier
keinen Platz. Die Einheit ist nur eine Einheit der Stimmung und
des Tons, welche die verschiedenartigsten Vorstellungen beherrschen kann.
Ein Herausfallen aus dem Grundton wäre nicht episodisch, sondern ein
Fehler, während auf der anderen Seite auch die entlegenste Kette von
Vorstellungen keinen episodischen Charakter annimmt, wenn sie mit der
Grundstimmung des Dichters zusammenhängt und auf sie zurückgeführt
werden kann. Um das Räthsel der lyrischen Produktion zu lösen, muß
man sich auf den psychologischen Standpunkt stellen. Man beobachte das
eigene Gemüth, wenn es von einer Empfindung erregt und beherrscht
wird! Welchen Träumereien giebt es sich hin! Welche Reihen von Vorstellungen
gaukeln an ihm vorüber! Wie zufällig ist der Uebergang von
der einen zur andern, wie locker ihre Verknüpfung! Wie verweilt es bei
der einen mit ausmalender Geschäftigkeit, während es über die andere im
Fluge hinwegeilt! Je reicher und lebendiger die Phantasie, desto glänzender,
unerschöpflicher wird die Menge der Vorstellungen sein, welche sie
der Empfindung zuführt; doch diese Empfindung selbst bleibt immer der
Kern, an den die krystallinischen Gebilde der Phantasie anschießen. Jn
diesen Träumereien des erregten Gemüthes finden wir das Vorbild des |#f0279 : 257|

lyrischen Schaffens, wie überhaupt den Quell der lyrischen Dichtung.
Ganz entgegengesetzt dieser willkürlichen Verknüpfung der Vorstellungen
ist der logische Gedankengang, die Methode des entwickelnden Denkens,
das aus bestimmten Prämissen mit Nothwendigkeit bestimmte Schlüsse
zieht. Auf dem künstlerischen Gebiet offenbart sich diese logische Präcision
als Besonnenheit, welche mit Bewußtsein auf innere Folgerichtigkeit
und harmonische Gestaltung des Ganzen hinarbeitet. Ein lyrisches
Gedicht, welches die logische Anordnung nach Art einer homiletischen
Disposition offen zur Schau trüge, würde durch seine Nüchternheit aus
aller Poesie herausfallen, während auf der andern Seite ein Gedicht,
welches das willkürliche Spiel der Vorstellungen in's Unbegrenzte ausdehnt,
zuletzt auch von der Grundstimmung abirren und in's Phantastische
und Bodenlose verfallen müßte. Denn für die Träumereien der
unkünstlerischen Phantasie giebt es keinen Anfang und kein Ende, keine
Grenze, wo die eine Stimmung in die andere umschlägt! Hier beherrschen
die Vorstellungen die Seele; in der Lyrik soll die Seele die Vorstellungen
beherrschen! Das Geheimniß der lyrischen Komposition
besteht nun eben darin, jenes willkürliche Spiel der träumenden Seele
im reichsten Wechsel der Vorstellungen nachzuahmen, aber so, daß in
allen diesen kühnen und täuschenden Verschlingungen doch eine innere, mit
Bewußtsein angestrebte Harmonie waltet. Der elektrische Funke der
Empfindung, der an der Kette der Vorstellungen hinläuft, muß am
Schlusse, Allen sichtbar, wieder aus ihr herausspringen. Je labyrinthischer
die Komposition, je mehr wir den Faden zu verlieren glauben: desto
größer unsere Freude ihn wiederzufinden, desto größer die Kunst des Dichters,
die sich freilich nur in den höheren lyrischen Gattungen bewähren
kann. Von den Dichtern des Alterthums ist Pindar wegen der Kühnheit
seiner Komposition gefeiert. Er verschlingt die Gedankenreihen so
künstlich, daß erst am Schlusse in überraschender Weise ihre innere Einheit
und Harmonie hervortritt. So feiert er in seiner ersten pythischen Siegeshymne
den Hieron, den Gründer und Bürger der Stadt Aetna. Er
beginnt mit einem Preise der Musik, welche die Götter im Olymp erfreue
und beselige und nur die Qual des unter dem Aetna gefesselten Giganten
Typhon vermehre. Dann springt er plötzlich zur neugegründeten Stadt
Aetna über, die Hieron im Kriege beschützt, und der er eine weise |#f0280 : 258|

Verfassung gegeben. Er wünscht ihr eine Fortdauer dieses friedlichen,
glücklichen Zustandes. Jetzt erst wendet sich der Sänger an Hieron selbst
und wünscht ihm eine von den Künsten des Friedens, der Musik und
Poesie verschönte Ruhe und Heiterkeit des Gemüthes. So verknüpft er
künstlerisch die beiden disparaten Vorstellungsreihen, deren Zusammenhang
sich vorher nicht überschauen läßt. Die Grundstimmung des
Dichters ist eben hier eine innere Harmonie der Seele, welche nach entsprechenden
Vorstellungen greift, sich in der Harmonie der Kunst und des
Staatslebens spiegelt und dem gefeierten Helden des Tages das Glück
ihrer eigenen Beruhigung zu erstreben anräth. Das Bild des Typhon
hat dem Dichter überdies der lokale Zusammenhang eingegeben. Von
ähnlicher Kühnheit in der Verknüpfung der dichterischen Bilder ist der
römische Elegiker Tibull. Bei Horaz wiegt schon die Absichtlichkeit im
kunstvollen Zusammenrücken des Entlegenen vor, ebenso bei Ramler
und oft bei Klopstock. Doch auch in jenen Arten der Lyrik, in denen
die kühneren Sprünge schwunghafter Begeisterung fehlen, kann die Komposition
durch eine Reihe von Bildern hindurchgehn, ohne die innere
Einheit vermissen zu lassen. Jn Lenau's Gedicht: der schwarze See
ist es der tiefe, finst're Ernst der Weltanschauung, der, an das Naturbild
anknüpfend, sich durch das Ganze hindurch bewegt. Auf diesem Rembrandt'schen
Grunde der Seele spielen dann wechselnde Vorstellungen, die
durch die wechselnden Vorgänge der umgebenden Natur bedingt werden.
Jn den tiefen schwarzen See versenkt der Dichter anfangs seine Liebe
und seine Hoffnungen. Da stürzt sich ein stürmisches Wetter in die düst're
Fluth; das schnellverzitternde Bild wilder Blitze durchglüht sie, wie
Erinnerungen aus beglückten Tagen sein verfinstert Herz:


Sie rufen mir: o Thor! Was hat dein Wahn beschlossen!
Die Hoffnung kannst und sollst du in das Grab hier stoßen.
Doch willst in diesem See die Liebe du ertränken,
So mußt du selber dich in seine Fluth versenken.


Hier ist ein Fortgang der inneren Bewegung bis zur Einschränkung
der früheren Empfindung; doch bleibt dadurch die Grundstimmung unverändert.
Das Gefühl des Dichters, daß die Liebe mit seinem innersten
Leben untrennbar verwachsen ist, löst sich, wie auch die Schlußwendung
zeigt, nicht von jenem tiefdunklen Hintergrunde der Seele los.

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Die Entfaltung der lyrischen Komposition ist nach den Gattungen
wesentlich verschieden. Es giebt Lieder, die wie unerschlossene Knospen
sind, deren Duft und Reiz gerade in der halbverhüllten, ahnungsvoll
durchbrechenden Seele, im Mangel der Entfaltung besteht, wogegen
andere wieder weitreichende Ketten von Vorstellungen und Empfindungen
bilden. Der Lyriker muß uns noch mehr als der Epiker gleich am Anfang
in medias res
führen; den Mittelpunkt der Empfindung darf
er nie verlassen. Wenn Pindar in der erwähnten Ode mit der die
Olympier beseligenden Musik beginnt, so sind wir vollkommen im Mittelpunkte
des Gedichtes, denn dort ist der vollste, göttliche Akkord der Harmonie,
den er feiert. Der Lyriker kann entweder gleich am Anfang die
Stimmung aussprechen, die ihn beseelt, wie Goethe:


Herz, mein Herz, was soll es geben?
Was bedränget dich so sehr?
Welch' ein reges, neues Leben,
Jch erkenne dich nicht mehr.


oder er verschleiert diese Stimmung zunächst in der Schilderung eines
Naturbildes, das sie spiegelt, einer Situation, an die er anknüpft; doch
muß er in Ton und Färbung des Gemäldes bereits die Färbung des
Gemüthes durchschimmern lassen. Die Sehnsucht des Dichters malt sich
trefflich in Lenau's Gedicht: „meine Braut“ in der ersten Strophe:


An der duftverlornen Grenze
Jener Berge tanzen hold
Abendwolken ihre Tänze,
Leichtgeschürzt im Strahlengold.


ebenso die Unruhe und Spannung des Gemüths in Schiller's Erwartung:


Hör' ich das Pförtchen nicht gehen?
Hat nicht der Riegel geklirrt?
Nein, es ist des Windes Wehen,
Der durch diese Pappeln schwirrt.


Ebenso kann der Anfang in einer Anrede bestehn, welche uns den
besungenen Gegenstand lebensvoll näher rückt, wie z. B. Schiller in
den „Jdealen“ die gold'ne Zeit seines Lebens anruft:


So willst du ewig von mir scheiden
Mit deinen holden Phantasie'n,
Mit deinen Schmerzen, deinen Freuden,
Mit Allem unerbittlich fliehn?
|#f0282 : 260|


Für alle ansingenden Formen der Lyrik wird sich dieser Eingang als
unentbehrlich erweisen. Auch kann der Anfang bereits im Keime den
ganzen Jnhalt des Gedichtes enthalten, das nur in einer Evolution der
bereits ganz enthüllten Stimmung besteht, wie Lenau's „nächtige
Wanderung:


Die Nacht ist finster, schwül und bang,
Der Wind im Walde tost;
Jch wandre fort die Nacht entlang
Und finde keinen Trost.


oder Meißner's „Einsamkeit:


Daß ich dein auf ewig bliebe,
Tiefes, felsumschloss'nes Thal,
Traurig schön wie uns'rer Liebe
Tiefe hoffnungsvolle Qual.


Aehnlich „Schiller“ in „den Göttern Griechenlands,“ wo der Dichter
in der ersten Strophe bereits den ganzen Jnhalt des Gedichtes angiebt.
Es ist indeß nicht empfehlenswerth, alle Trümpfe der Empfindung am
Anfang auszuspielen; ihr allmähliches Anschwellen und Durchbrechen
ist künstlerischer. Die Entfaltung des Gedichtes bildet nun seine
Mitte; hier ist der Empfindung und Phantasie der weiteste Spielraum
gegeben. Sie kann in innig koncentrirten Klängen fast unausgeprägt
vom Anfang zum Schlusse hinüberleiten, sie kann von Bild zu Bild, von
Vorstellung zu Vorstellung in kühnen Sprüngen eilen oder ein Gewebe
von Bildern und Reflexionen ausbreiten, in welchen der rothe durchgehende
Faden sichtbar ist, der Anfang und Schluß verknüpft. Sie kann
im Refrain immer wieder den Grundton der Stimmung wiederholen,
in dem wiederkehrenden Verse gleichsam äußerlich, plastisch die innere
Einheit
des Gedichtes andeuten. Solche Wiederholungen finden sich
besonders im „Volksliede,“ welches noch ein äußerliches Hilfsmittel
braucht, um nicht über den Kreis der Empfindung, den es beschreiben
will, hinauszufliegen. Der Refrain kann in der Wiederholung derselben
Worte bestehn, oder nur dieselbe Figuration des Verses und der
Wortstellung wiederholen, sonst aber der veränderten Situation durch den
veränderten Ausdruck Rechnung tragen.


Der Schluß des lyrischen Gedichtes soll nicht blos ein harmonisches
Austönen der Stimmung sein; er soll sie noch einmal prägnant zusammenfassen; |#f0283 : 261|

gleichsam bereichert durch das freie Spiel, durch die Auslassungen
der Mitte zum Anfange zurückkehren. Diese dreigliedrige Rhythmik der
Komposition wird sich nicht immer wie Satz, Gegensatz und Schlußsatz
verhalten, der Schluß nicht immer, wie Vischer will, eine Beruhigung des
Gefühls enthalten. Die Prägnanz des Schlusses kann zur lyrischen
Pointe
führen, deren allzufeine Zuspitzung in's Epigrammatische hinübergleitet.
Jn der modernen deutschen Poesie ist seit Heine die forcirte
Schlußpointirung Mode geworden. Ein Dichter, der wie Heine mit
weichen, elegischen Klängen beginnt und mit ihrer oft cynischen Verspottung
abbricht, scheint überhaupt die Einheit und Harmonie des Kunstwerkes
aufzuheben. Doch ist in Heine's meisten Gedichten die Grundstimmung
eine schalkhafte oder blasirte, die sich nur anfangs vermummt
und erst am Schluß mit kicherndem Lachen ihre Vermummung abwirft.
Heine's eigenthümliche Genialität schafft auch in diesen widerspruchsvollen,
kecken, pikanten Liederchen aus dem Ganzen. Daß sich bei seinen
meisten Nachahmern diese lyrische Pointensucht höchst unkünstlerisch und
albern ausnimmt, ist nicht seine Schuld. Die lyrische Ausdrucksweise
gebietet über den ganzen dichterischen Schmuck der Tropen, aber
sie kann ihn auch verschmähn und muß ihn verschmähn, wo es sich um
den innigen koncentrirten Ausdruck der Empfindung handelt. Ueberhaupt
besteht der Hauptreiz der Lyrik im Halbverhüllten, im Duft der Stimmung;
selbst wo sie in's Einzelne malt, muß sie die Verbindungsglieder
zwischen den Bildern mehr herausfühlen, der empfangenden Phantasie
und Empfindung durch den Reiz des Unausgesprochenen eine Ergänzung
übrig lassen. Daher ist jede Ausdrucksweise verfehlt, welche den
logischen Zusammenhang nackt an den Tag legt. Alle Wendungen der
Sprache, welche das grammatische oder syntaktische Gerippe bloßlegen,
müssen vermieden werden. Die Lyrik kann sich nicht zu kunstvollen
Perioden ausbreiten; sie liebt die kurzen Sätze, die naturwüchsigen Verbindungen,
das Asyndeton und Polysyndeton, die träumerischen Lakonismen
des Ausdrucks; sie drängt immer hinweg zum Subjekt und Prädikat
und ihren schmückenden Beiwörtern, um rasch ein festes Bild zu gewinnen.
Vor Allem sind ihr ausgeführte Relativsätze, Satzverbindungen, in denen
das Zeitverhältniß sich durch ein „als, nachdem“ als Neben= oder
Zwischensatz weitschweifig ausdrückt, oder jener abhängige, von „daß, |#f0284 : 262|

damit“ u. s. w. regierte Schweif von Sätzen ein Gräuel. Dagegen
wählt sie mit Vorliebe die Apostrophe, die Ausrufung, die Frage und
alle stylistischen Verkürzungen. Freilich kann man auch hierin zu weit
gehn; die Jnversionen, Stylverrenkungen, die seltsam gebildeten dichtgehäuften
Wortkomposita z. B. in den antikisirenden „Oden“ sind nur
eine Art grammatischen und syntaktischen Schwulstes, der den erhabenen
Ausdruck, den er erreichen will, vollkommen verfehlt. Schon aus
Rücksicht auf diese gedrängte Syntax der Lyrik kann die epische Vergleichung,
welche in ihrer Ausführung ein weitverzweigtes Satzsystem
erfordert, hier nicht Platz finden. Dagegen ist der Metapher mit allen
ihren Unterarten der weiteste Spielraum gegeben. Die Magie des
lyrischen Styls beruht auf der Metapher. Natürlich darf sie nicht locker
angeheftet werden, nicht neben der Empfindung herleuchten; sie muß mit
ihr verschmelzen, ihr schlagendster Ausdruck sein; sie verwebt erst Bild
und Stimmung in Eins. Die Naturanschauung in Lenau's „Mondlicht
wird erst dann beseelt, als der Dichter sein Mädchen das süße
Mondlicht seiner Nächte nennt und allen Zauber der Natur metaphorisch
auf seine Liebe überträgt. Wenn Hermann Lingg im „Mondaufgang
den Mondschein „ein schlafendes Sonnenlicht“ nennt, so ergießt
diese eine Metapher über die ganze weltgeschichtliche Elegie den träumerischen
Reiz der Stimmung. Jn den gedankenvollen Gattungen der Lyrik
wächst ihre Bedeutung, da hier nur die kühne, schlagende Metapher dem
Ausdrucke eine Kraft giebt, welche ihn über das Gebiet der Prosa erhebt.
Dagegen ist sie im „Lied“ entbehrlich, da der Zauber des Liedes auch
schon durch den Klang der Sprache, durch den eigenthümlichen Duft, der
über sinnig gewählten Worten schwebt, hervorgerufen werden kann. An die
Metapher anstreifende Ausdrücke bringen hier die genügende Wirkung hervor
z. B. die stimmungsvollen Verba in Goethe's Lied „an den Mond:“


Füllest wieder Busch und Thal
Still mit Nebelglanz,
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz.


die stimmungsvollen Adjectiva in vielen Heine'schen Gedichten, z. B.:


Jch stand in dunkeln Träumen,
Und starrte ihr Bildniß an,
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Und das geliebte Antlitz
Heimlich zu leben begann.


Auch kann der Lyriker ein Bild allegorisch ausspinnen und den Vergleichungspunkt
unausgesprochen nur durch die Stimmung ausdrücken.
Meisterhaft ist in dieser Weise Heine's kleine Elegie vom „Fichtenbaum
und der Palme,“ ein lyrischer Rebus! Weiter ausgeführt hat dieser
Dichter das Bild des Sarges, in welchem er seine alten Lieder und
Träume begraben will, und der so schwer wird durch seinen Schmerz
und seine Liebe. Gottfried Kinkel personificirt „die Windsbraut,“
Geibel „den Dampf“ ─ beide Allegorieen sind sogar weit ausgesponnen,
aber es sind lebensvolle, bewegte Bilder, nicht nüchterne Gestalten mit
hölzernen Attributen. Für die schwunghaftere Gattung der Lyrik wird
die Hyperbel in ihre vollen Rechte treten, natürlich ohne in das
geschmacklos Schwülstige überzugehen. Jm Allgemeinen trägt der lyrische
Styl das Gepräge der bestimmten dichterischen Eigenthümlichkeit. Jeder
Poet von Gottes Gnaden bringt seinen Styl mit auf die Welt ─ und
an diesem Styl erkennt man ihn mit derselben Leichtigkeit im kleinsten
Fragment, mit welcher ein Cuvier aus einzelnen Knochen das ganze
Gerippe eines vorsündfluthlichen Thieres erkennt. Diese „Blume“ des
individuellen Styles entzieht sich der Analyse. An der „Blume“ erkennt
man den Wein; aber sie selbst ist unbestimmbar. Bei jeder Zergliederung
würde sich der Goethe'sche Spruch bewähren:


Behalten die Theile in ihrer Hand,
Fehlt leider! nur das geistige Band.


Goethe's Lyrik ist „klarer echter Rheinwein in geschliffener Flasche,“
kredenzt in den grünlichen Römern; Schiller's Lyrik feuriger, schwerer
Burgunder in reichen Pokalen; die Lenau's heißblütiger Tokaier, die
Herwegh's moussirender Champagner. Platen's Lyrik erinnert an den
Falerner des Horaz und die Heine's an den Chier des Anakreon. Jn
der That, wer fühlte nicht den weichen, milden, wohligen Klang der
Goethe'schen Lieder, den fortwährend durch die Schleussen der Antithese
brausenden Gedankenstrom Schiller's, Lenau's in düstern Bildern schwelgende
Gluth, Herwegh's sprudelnde, Bahn brechende Rhythmen, Platen's
kunstvolle Gemessenheit, Heine's schalkhaft schäkernden Ton aus jedem
einzelnen Verse dieser Dichter heraus? Der Styl des echten Lyrikers ist |#f0286 : 264|

einzig und, weil er einzig ist, unerklärbar. Hier beginnt das Jrrationale,
das sich in keine Formel bringen läßt ─ das Geheimniß des
Genius.


Da die Lyrik das Austönen der Empfindung ist: so braucht sie die
ganze Musik der Sprache, ihre Melodie, den Rhythmus und ihre Harmonie,
den Reim. Trochäische, jambische, daktylische, anapästische
Versmaaße, von unendlicher Verschiedenheit durch die Zahl der Füße,
durch die Anordnung längerer und kürzerer Verszeilen stehn ihr zu
Gebote; sie eignet sich die antiken Strophen, die orientalischen Gaselen
und Kassiden an. Die Kunst des Lyrikers besteht in der passenden Wahl
des Metrums ─ eine Wahl, die in den meisten Fällen Sache der
Jnspiration ist. Der Lyriker muß den Geist jedes Metrums kennen ─
hierin wird das Talent schon vom Jnstinkt geleitet. Es wird keine
leidenschaftliche steeple-chase auf einem schwerfälligen Alexandriner
veranstalten oder auf einem adonischen Pony; es wird keinen muntern
Spazierritt auf einem harttrabigen, feierlichen Trimeter machen; es wird
keinen heroischen Buccephalus, keine Nibelungenstrophe, in die elegische
Schwemme reiten! Die deutsche Lyrik gebietet über den größten Reichthum
an metrischen Formen; aber da ihr trotz dessen die metrische
Plastik
fehlt, so verlangt sie den Reim als nothwendige Ergänzung.
Wir stellen diese Behauptung unbedingt hin als eine Einsicht der Neuzeit,
die sich von den einseitigen klassischen Studien und Traditionen emancipirt
hat. Als einzige Ausnahme für die Lyrik würden wir das elegische
Distichon gelten lassen. Alle die kunstvollen Reimformen und Strophenbildungen,
Sonett, Sestine, Kanzone können in der Lyrik verwerthet
werden. Die Stanze schwebt in der Mitte zwischen Lyrik und
Epik; die Terzine hat einen entschieden epischen Charakter.


Nachdem wir so das Gewebe des lyrischen Kunstwerkes ausgebreitet
und in Stoff und Form untersucht, wollen wir noch einen Blick
auf den lyrischen Dichter werfen, dessen Seele es aus ihren eigensten
Fäden spinnt. Die Lyrik ist die Seele aller Poesie, das Auge der Dichtung;
denn die Begeisterung, die in der epischen und dramatischen Poesie
durch mancherlei Kanäle geleitet wird, quillt in der Lyrik frisch und
unmittelbar hervor. Ein epischer oder dramatischer Dichter ohne eine
lyrische Ader wird stets an einer bedenklichen Nüchternheit leiden. |#f0287 : 265|

Dante hat seine vita nuova gedichtet, und wie lyrisch sind Shakespeare
und Schiller! Dagegen kann es einem sehr begabten Lyriker nicht gelingen,
der epischen Plastik Herr zu werden oder den straffen Bogen der
dramatischen Form zu spannen ─ man denke z. B. an Byron,
Uhland, Rückert.
Die Begabung des Lyrikers besteht nun in der
Lebendigkeit der phantasievollen Anschauung, der Jnnigkeit und Wärme
des Gefühles und dem Sinn für die Melodie der Sprache, vor Allem
aber in der Begeisterung, welche diese drei Momente in Eins setzt. Die
Lebendigkeit der Phantasie erfaßt jeden Stoff sogleich von der Seite, wo
er ein lebensvolles Bild gewährt; die Jnnigkeit des Gefühles versetzt ihn
sogleich auf den Boden der Stimmung, deren inneres Erzittern sich in
der rhythmischen Melodie der Sprache spiegelt. Je weniger der Stoff selbst
im Kreise des alltäglichen Empfindens liegt, desto größer ist die Energie
des Lyrikers, der ihn zu beherrschen, in das Fleisch und Blut der eigenen
Stimmung zu verwandeln weiß. Es ist dies ein chemischer Proceß, der
durch das elektrische Fluidum der Begeisterung blitzartig vollzogen wird.
Darum sind nicht diejenigen Lyriker, welche Freud' und Leid des eigenen
Herzens, die Jnteressen eines beschränkten Lebenskreises aussingen, die
Begabtesten, sondern die, welche die Angelegenheiten der Menschheit so
zu ihren eigenen gemacht haben, daß bei ihrer begeisterten Feier das
eigene Gemüth in seinen Tiefen ertönt. Der Flug hoher lyrischer Begabungen
geht weit über den Dichterwald hinaus, in welchem „es von
allen Zweigen tönt.“ Das Aussingen der eigenen trivialen Stimmung
ist das gute Recht eines Jeden, das man ihm nicht verleiden soll, wenn
es nur nicht Anspruch auf künstlerische Geltung macht. Gerade in der
Lyrik ist bei den ausgeprägten Formen einer Sprache, „die für uns dichtet
und denkt,“ die Grenze zwischen Talent und Dilettantismus schwer
zu ziehn. Eine Kritik, welche mit abstrakten Maaßstäben an die Gedichte
geht, wird hierin meistens fehlgreifen; nur die freie Empfindung für
„Duft“ und „Blume“ der Poesie kann hier das Richtige treffen. Das
Talent hat ein unbeschreibliches „Arom,“ das auch dem glattesten und
korrektesten Dilettantismus fehlt. Das Talent kann große Fehler machen,
der Dilettantismus fehlerfreie Werke erzeugen ─ und doch ist die Kluft
zwischen beiden unübersteiglich. Es giebt dilettantische Richtungen, welche
im Gefühl ihrer Ohnmacht von einem wahren Hasse gegen das Talent |#f0288 : 266|

beseelt sind ─ und es sind die traurigsten Epochen der Literatur, wo es
ihnen gelingt, einen tonangebenden Einfluß zu gewinnen. Auch unsere
Epoche ist von jener „akademischen“ Lyrik nicht verschont geblieben,
welche ihre Studienmappe gern für ein Nationalmuseum ausgeben möchte.


Die Gefahr lyrischer Begabungen ist nicht gering. Jndem sie die
höchsten Formen und Aufgaben nicht nur zu ihren eigenen machen, sondern
sie mit der ganzen Gluth der Empfindung durchdringen, indem sie sich fortwährend
auf den hochgehenden Wogen des Seelenlebens schaukeln, können
sie leicht die Harmonie der Seele und des Geistes verlieren. Nur Wenigen
war es vergönnt, wie Goethe, alle Saiten der Lyra bis in das späteste
Alter zu ungetrübtem Vollklang zu stimmen, die Welt der Seele
ebenso zu beherrschen, wie die Welt der Erscheinungen, die eigene Stimmung
zu belauschen und sie in das harmonische Gebiet des Schönen zu transponiren.
Wie anders schon Schiller's unruhige, fieberhafte Lyrik, seine
oft krankhaft nach Jdealen ringende Seele; wie anders Byron's leidenschaftlicher,
skeptischer Dichtergenius! Bei Hoelderlin und Lenau zerriß
das Band vollständig, welches den „schönen Wahnsinn“ des Dichters
von dem wirklichen trennt! Die gesteigerte Stimmung des Poeten, die
von Bild zu Bild schweift, unterscheidet sich nur dadurch von derselben
unstäten Thätigkeit des Wahnsinnes, daß dort das Selbstbewußtsein als
die bindende und lösende Macht den Ergüssen der Phantasie die innere Einheit
giebt, während hier der Taumel der Vorstellungen, wie an kein Subjekt
mehr gebunden, ohne Anfang und Ende fortgeht. Man lese die
Gedichte, die Hölderlin in seinem Wahnsinn geschrieben ─ man erkennt
noch immer darin seine von den Bildern Hellas trunkene Seele, aber die
Seele hat die Macht über die Vorstellungen verloren, die, ihrer eigenen
Gewalt überlassen, chaotisch durcheinanderstürmen. Trotz der außerordentlichen
Reizbarkeit des dichterischen Gemüthes, trotz seiner gewaltigen
Erregungen und seiner fortwährenden Versenkung in die Tiefen des
Lebens kann man es nur als eine Verirrung der Neuzeit hinstellen, wenn
selbst begabte Dichter „das Mal der Dichtung als ein Kainszeichen“
erklärten, statt die Gabe des harmonischen Gesanges nach Gebühr zu
feiern. Den Alten galt der Dichter als Prophet ─ und in der That
befindet sich das dichterische Gemüth recht im Mittelpunkt des Denkens
und Empfindens, und das ist die delphische Stätte, von wo aus das |#f0289 : 267|

Orakel für alles Geschehen ertönen kann. Nicht nur die Propheten des
alten Testamentes waren großartige Dichter, vor deren energischem Tiefblick
der Schleier der Zukunft zerriß, weil die innere Nothwendigkeit der
geschichtlichen Entwickelung in ihrer Seele lebendig war; auch in jüngster
Zeit hat die politische Lyrik unleugbare visionaire Anwandlungen gehabt.
Jm Heute spiegelt sich immer das Morgen, wenn eine große Seele es in
seiner ganzen Tiefe erfaßt.


Was nun die Art und Weise des lyrischen Schaffens betrifft, so ist es
keinesweges erforderlich, ja nur wünschenswerth, daß der Lyriker im
unmittelbaren Drang und Sturm der Empfindung dichte. Es ist mit
Recht behauptet worden, daß die Hand, die vom Fieber zittre, es nicht
schildern könne. Der Affekt hat eine ungeläuterte Natürlichkeit, die ihrer
eigenen Schwere folgt. Die Leidenschaft muß erst durch das Sieb
geschüttelt werden, eh' sie poetisch verwendet werden kann. Alles Dichten
setzt eine geistige Reproduktion voraus. Unähnlich dem physikalischen
Gesetz, nach welchem mehrfache Spiegelung das Bild verrückt, sind die
Spiegelungen der Empfindung für die Klarheit und Harmonie des dichterischen
Bildes vortheilhaft. Der Dichter muß immer die Empfindung
in die Vorstellung umsetzen. Es genügt für ihn, eine Stimmung einmal
durchempfunden zu haben ─ um sie, vielleicht nach langer Zeit, dichterisch
wiederzugeben. Die Erinnerung hat etwas von jener Jdealität, welche
aller Kunst eigen ist. Ja, es giebt Stimmungen und Empfindungen,
deren trüber Most sich erst nach Jahren in den edlen Wein der Dichtung
verwandeln kann. Solche unausgegohrenen Seelenzustände gleich dichterisch
zu verpichen und zu verschicken, kann der Firma verderblich werden.
Aehnlich verhält es sich mit dem eigenen Erlebniß, das oft erst nach
jahrelangem Verlaufe für den Dichter einen Schimmer der Verklärung
gewinnt. Dann aber hat das Thatsächliche längst seine Bestimmtheit
eingebüßt; was damals wirklich oder nur möglich, was äußerer Vorgang
oder Vorgang in der Seele des Dichters war, ist für diesen selbst gleichgültig
geworden, da er sich nur in die Stimmung jener Zeit zurückversetzt
und aus ihrem dunkeln Schacht seine Juwelen gräbt. Ueberhaupt duldet
die Lyrik keine Prosa der Thatsachen! Selbst wo sie die nächste Gegenwart
erfaßt, verwandelt sich Alles unter ihren Händen; sie respektirt kein
Signalement, keine besondern Kennzeichen der Personen und Dinge. |#f0290 : 268|

Schon hieraus geht hervor, wie müßig viele mit dem größten Aufwande
von Gelehrsamkeit geführte Untersuchungen über diesen oder jenen Lebensumstand,
diese oder jene Geliebte eines Lyrikers, die Sulpicia des Tibull
und die Lili Goethe's sind. Wie bei dem Maler, ist es auch bei dem
Dichter gleichgültig, woher er seine Studienköpfe nimmt! Das Erlebniß
gewinnt unter seinen Händen eine andere Gestalt; es handelt sich nicht
um die äußere, nur um die innere Treue. Nicht der Gegenstand,
sondern wie er mir in dieser Stimmung erschien ─ das ist in der
Lyrik das Wesentliche. Goethe sagt irgendwo, jedes echte Gedicht sei ein
Gelegenheits gedicht; das kann nur heißen, es ist immer aus einer
bestimmten Situation oder Stimmung hervorgegangen; aus einem
äußern oder innern Anlaß. Das Erlebniß kann aber längst vergangen
sein und nur zufällig in der Seele erweckt werden. Wie verhält es sich
aber mit dem Gelegenheitsgedichte in der engeren Bedeutung des Wortes?
Hier hilft uns ein anderer Spruch Goethe's: „Seid ihr Poeten, so
kommandirt die Poesie!“ Es gehört ein außerordentlich reiches und vielseitiges
Gemüth dazu, um jeden ganz von außen gegebenen Stoff in
einen Aether der Stimmung zu erheben, wo er dichterische Flügel gewinnt.
Jmmer wird es dabei auf die Verwandtschaft des Stoffes mit der
Gemüthslage und Weltanschauung des Dichters ankommen. Man führt
oft Pindar's Epinikien als großartige Gelegenheitsgedichte an ─ doch
hatte dieser Stoff auch seine nationale Seite, welche in der Stimmung
eines hellenischen Dichters stets eine entgegenkommende Begeisterung
fand. Jedenfalls bleibt Pindar's Verfahren, der den einzelnen Fall und
die Zufälligkeit seiner Daten alsbald in den großartigen Fugen seiner
gedankenreichen Hymnik verschwinden ließ, für alle Gelegenheitspoesie
mustergültig. Daß indeß auch großen Geistern das Kommandowort
über die Poesie nicht immer zu Gebote steht, beweist wohl Goethe's hoffestliche
Gelegenheitslyrik, deren strohernes Allegorisiren meistens unerträglich
ist. Die äußerliche Nöthigung oder Bestellung wird der Poesie
immer nur eine Anregung von sehr zweifelhaftem Werthe bieten. Jst
indeß der Lyriker einmal angeregt, so wird er dem Strom der Empfindungen
mit Begeisterung, doch zugleich mit Besonnenheit folgen. Die
äußerliche Methode des Schaffens wird nur eine individuelle bleiben.
Doch scheint uns die Art und Weise des Tibull sehr empfehlenswerth, |#f0291 : 269|

wie sie Gruppe aus dem nicht durchgearbeiteten Buche Nemesis zu entziffern
bemüht ist. Er folgt zuerst der Begeisterung und wirft die Hauptpartieen
mit gleicher Wärme in einem Gusse hin. Die Verbindungsglieder
dagegen, die Uebergänge, die leiseren Schattirungen, die größere
Feile des Ganzen überläßt er einer zweiten Arbeit, welche mit Besonnenheit
und künstlerischer Ueberlegung den Entwurf ausführt. Kleinere
lyrische Gedichte mögen in einem Gusse gelingen; größere bedürfen
ebenso des ununterbrochenen Schwunges im Ganzen, wie der nachhelfenden
Ausfüllung und Ausfeilung im Einzelnen.


Jeder Dichter, auch der lyrische, ist der Sohn seiner Zeit; er steht auf
ihrem Kulturstandpunkte, er wird sich von ihrer Empfindungsweise nicht
freimachen können. Ein bedeutendes Talent mag wohl selbst auf die
Schattirungen der Empfindung bestimmend einwirken; aber der Grund
und Boden der Weltanschauung ist ihm doch immer durch das Jahrhundert
gegeben. Man kann dem konservativsten aller Denker, Herbart,
gewiß nicht darin beistimmen, daß Nichts oder wenig Neues unter der
Sonne geschehe, und daß im Alten, Gleichförmigen das Wesen der
Menschheit und die Mitgabe der Gottheit zu suchen seien, denn das
Neue liegt nicht in den Dingen an sich, sondern in der Auffassungsweise,
und hier quillt eine unerschöpfliche Fülle geistigen Lebens der Einzelnen,
der Völker und Zeiten; hier beginnt erst die Weltgeschichte, deren tieferes
Verständniß jener nüchternen Einsicht verschlossen ist; hier beginnt erst die
Poesie und ihr glänzender Reichthum. Jede Zeit, jedes Volk, jeder Einzelne
hat dies Arom einer unsagbaren Eigenheit; mit jedem Einzelnen
wird eine neue Welt geboren! Wie kleinlich und falsch wäre die Behauptung
des Anatomen, der aus der Gleichheit des Skeletts auf die Gleichheit
der Menschen schlösse! Und ebenso unfruchtbar für jedes Gebiet,
besonders für das der Poesie, ist eine Weltanschauung, die nur das Alte
und Gleichförmige im Auge behält! Die Poesie ist keine Domaine des
Goethe'schen „Palaeophron,“ sondern sie gehört der jugendlichen „Neoterpe.“
Obgleich man glauben sollte, daß, trotz der wechselnden geistigen
Strömungen und Entwickelungen, die Magnetnadel der Empfindung
in allen Jahrhunderten nach denselben unwandelbaren Polen
vibriren müsse: so steht die Poesie der Empfindung, die Lyrik, doch in
einem bestimmten und deshalb wechselnden Verhältniß zur Kultur und |#f0292 : 270|

zum Bewußtsein der Zeit. Tibull empfand anders, als Walther
von der Vogelweide, und dieser anders, als Schiller und Goethe.
Dies leugnen wollen heißt die Empfindung auf ihre rohesten Aeußerungen
beschränken. Der Lyriker soll auf der Höhe seiner Zeit stehn ─ erst dann
wird seine Lyrik einen wahrhaft großartigen und bedeutenden Charakter
annehmen, seine Empfindung einen allseitigen Anklang bei den Zeitgenossen
und bei der Nachwelt finden. Diese Wahrheit, die durch alle
großen Muster bestätigt wird, findet eine eifrige Gegnerschaft und wird
ebenso oft angegriffen, wie nicht beachtet. Daher diese Masse Unkraut,
die der Teufel des Dilettantismus unter den poetischen Weizen sät! Es
mag jedem unbenommen bleiben, den Horaz und Properz, den Dante
und Baki und Motenebbi in Geist und Formen nachzudichten ─ diese
Exercitien haben gewiß ihren formellen Werth; nur mögen sie nicht mit
der Prätension auftreten, lyrische Muster des 19. Jahrhunderts zu sein!
Es ist segenbringend für den Poeten, die großen Vorbilder aller Zeiten
zu studiren, aber traurig, wenn ihm von den Trauben ihres Feuerweins
nur die Kerne im Halse stecken bleiben oder sein Chylus und Chymus zu
schwach sind, um sich vollkommen den Göttertrank anzueignen, der nur
als dilettantisches Vomitiv wieder zum Vorschein kommt. Darum
stellen wir die Lyrik des neunzehnten Jahrhunderts hoch über die Lyrik
des achtzehnten, weil sie sich in ihren Hauptvertretern ganz auf den Boden
der Gegenwart stellt und all' das mythologische Beiwerk abgestreift hat,
das dem Fluge des Schiller'schen und Goethe'schen Genius noch als
unverdauter Ueberrest klassischer Studien anhaftete. Wohl hat Uhland
oft Töne angeschlagen, die allzu minniglich und ritterlich für die Gegenwart
klingen und seine Bilder hin und wieder mit meerblauer Romantik
gemalt; wohl hat Rückert sich in das Formennetz des Orientes bis
zur Unkenntlichkeit seiner eigenen dichterischen Chrysalide eingesponnen;
wohl hat ihr Vorbild zahlreiche germanistische und orientalische Nachdichtungen
hervorgerufen ─ aber die Heroen der modernen Lyrik, Heine,
Lenau, Grün, Freiligrath, Geibel, Dingelstedt
und ihre Nachtreter
haben in ihren Gedichten den Geist der Gegenwart, ihre vergänglichsten
Stimmungen, aber auch ihre erhabensten Anwandlungen verewigt.
Selbst Platen hat in oft gekünstelten Formen stets Stoffe der
Zeit gefeiert ─ und so ungenießbar seine antikisirenden Odenstrophen sein |#f0293 : 271|

mögen, so ist ihr Jnhalt doch kein fremdartiger und gesuchter, sondern es
sind meistens hervorragende Zeitgenossen, deren Bild er in diesen antiken
Rahmen spannt. Wir brauchen blos an Byron und Shelley, an
Béranger und Victor Hugo, an Puschkin und Mickiewitz zu
erinnern, um zu zeigen, daß der richtige Jnstinkt die Dichter der andern
Nationen auf die Bahn der modernen Lyrik geleitet. Wir verbinden
mit dem Begriffe des Modernen durchaus keine jungdeutsche, an das
Modische anstreifende Nebenbedeutung, sondern wir verstehn unter
moderner Lyrik nur eine solche, die aus dem Bewußtsein, aus den
Jnteressen, aus dem Gefühl der Gegenwart heraus und gerade deshalb
für die Zukunft dichtet, eine Lyrik, die für unsere Zeit ganz dieselbe Bedeutung
hat, wie die antike für das Alterthum, wie der Troubadour= und
Minnegesang für das Mittelalter. Der Vorwurf der Tendenz kann
nur solche lyrische Gedichte treffen, in denen ein äußerlicher Zweck nackt,
ohne künstlerische Verhüllung, zu Tage liegt. Ein Dichter, der sich im
Leben der Gegenwart umgesehn, ihre bewegenden Jdeen und materiellen
Mächte kennen gelernt: der wird sein ursprüngliches Talent frisch in den
Strom der Zeit untertauchen, in ihrem Geiste, mit ihr, durch sie und für
sie dichten. Denn der dichterische Funke entzündet sich vorzugsweise an
den Berührungen des Lebens ─ das individuelle Leben aber ist in das
große Netz der Kultur unlöslich eingefangen. Der Dilettantismus, der
dies leugnet, geräth auch noch auf andere Abwege. Er verläßt den
Standpunkt der Bildung, den er einnimmt, um, wie er sagt, zum Volk
herabzusteigen; er dichtet in „volksthümlicher Weise“ mit Nachahmung
aller unartikulirten Naturlaute; er trällert Volkslieder heraus, die nur
als Jmprovisationen des Volksgeistes einen kulturgeschichtlichen Werth
haben. Dies „Volk“ ist meistens eine Abstraktion der Studirstuben; der
Dichter kennt kein anderes „Volk“ als die Nation. Nicht Arnim und
Brentano, sondern Schiller und Körner sind echte Volksdichter der
Deutschen.


Eintheilung der Lyrik.


Wenn wir die Lyrik in ihre einzelnen Gattungen verfolgen wollen: so
bietet sich uns folgende Eintheilung dar, die wir aus dem Verhalten des
dichtenden Subjektes zu seinem Objekte herleiten. Entweder bleibt der
Dichter ganz auf dem Boden der Empfindung stehn, in deren koncentrirte |#f0294 : 272|

Tiefe das Objekt gleichsam nur wie ein Schatten in einen Brunnen fällt
─ die eigentliche Lyrik der Empfindung, das Lied; oder ein äußeres
Objekt regt durch seine Bedeutung die Empfindung des Dichters zu
einem hinreißenden Schwunge an, der in freier und kühner Entfaltung
des erhabenen Gegenstandes Herr zu werden, ihn künstlerisch zu bewältigen
strebt ─ die Lyrik der Begeisterung, die Ode; oder der Dichter
geht zwischen dem Gegenstande und seinen Empfindungen, zwischen
Beschreibung und Betrachtung hin und her ─ die Lyrik der Reflexion,
die Elegie. Alle Unterarten fügen sich ungezwungen der einen oder
andern dieser Gattungen ein. ──────


Zweiter Abschnitt.

Die Lyrik der Empfindung: das Lied.


Das Lied ist der dichterische Erguß der Empfindung, die ganz in ihren
eigenen Tiefen verweilt, der Stimmung, die bei sich selbst bleibt, in einfacher,
leichter und doch prägnanter Form. Seit den ersten Nouwi des
Terpander hat es die musikalische Begleitung geliebt, welche das Austönen
der Stimmung verstärkt. Das Lied soll gesungen werden
können. Ein Bündniß zwischen Dichtkunst und Musik ist aber nur dann
möglich, wenn die erstere nicht ihre ganze Fülle entfaltet, sondern sich nur
mit dem träumerischen Aufknospen der Stimmung begnügt, jenem innern
Vibriren, das sich im Wogen der Tonwelt fortsetzen kann. Nicht schwerwuchtige
Worte können sich auf den Wellen der Töne schaukeln; nicht
scharfbestimmte Bilder in diesem unbestimmten Element zur Geltung
kommen. Das Lied gleicht der Pflanze, welche nur Luft und Wasserwurzeln
hat und in keine Berührung mit der lastenden Scholle kommt.
Leicht und frisch muß es aus der Seele fließen oder sich halbverschämt in
ihren Tiefen verbergen ─ dann kann sich der Gesang mit ihm verschwistern,
der ihm eine tiefere Jnnigkeit verleiht. Das Lied ist die
schüchternste Blüthe der Lyrik, die sich noch am Spalier der Töne in die
Höhe rankt; es ist ihre ärmste Form, deren Ueberschätzung selbst große
Aesthetiker zu Ungerechtigkeiten gegen die reicheren und höheren Gattungen
der Lyrik verleitet hat. Goethe ist ein größerer Liederdichter als Schiller; |#f0295 : 273|

aber ihn deshalb mit Vischer*) überhaupt einen größeren Lyriker zu
nennen, das zeugt doch von einer bedenklichen Einseitigkeit, deren Konsequenz
es wäre, Anakreon als „Lyriker“ über Pindar, Catull über
Horaz und Ovid, und Burns über Byron zu setzen. Wie viel
richtiger ist die Auffassung Hegel's, welcher dem Liede ohne Ueberschätzung
seine gebührende Stelle einräumt**).


Der Grundton der Stimmung läßt im Liede keine kühnen Ausweichungen
zu; er verlangt einen harmonischen, vollen Akkord. Die
Empfindung wird mit aller Wärme und Jnnigkeit festgehalten und klar,
aber ohne Schärfe ausgesprochen. Wir wollen im Liede auf den Grund
der Seele sehn; aber ein durchsichtiger Schleier muß noch darüber schweben.
Das erst giebt dem Liede seinen eigenthümlichen Duft, seinen
träumerischen Reiz. Das Ahnungsvolle, halb Ausgesprochene gehört zu
seinem Wesen. Jede scharfe Bestimmtheit, alles Eckige und Kantige der
realen Welt würde diesen duftigen Schleier zerreißen. Wohl kann ein
äußerer Gegenstand die Empfindung anregen; aber diese Anregung entbindet
nur ihre eigenste Kraft; das Objekt verschwindet in den Schwingungen
des Subjekts. Die Bilder im Liede gleichen den Chladnischen
Klangfiguren, sie haben keinen eigenen Werth, sie verkünden nur die Macht
der Töne und ihre Verschiedenheit, die Vibrationen der Seele. Die
Empfindung, die von Bild zu Bild schweifte, würde sich zersplittern ─
das Lied bedarf einer koncentrirten Einheit. Die Kunst des Liederdichters
besteht darin, uns mit dem geringsten Aufwande künstlerischer Mittel
gleich in seine Stimmung zu versetzen.


Füllest wieder Busch und Thal
Still mit Nebelglanz,
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz. ─


Das sind meisterhafte lyrische Abbreviaturen, die unsere Seele unmittelbar
gefangen nehmen.


Der Jnhalt des Liedes ist sehr reich und mannichfaltig. Sehr
schön hat Hegel die Liederdichtung eine sich stets erneuende „Blumenflur“

*)
Aesthetik Bd. 3 p. 1352.
**)
Aesthetik Bd. 3, S. 460 u. folg. und S. 141.
|#f0296 : 274|

genannt. Jn der That ist in sangeslustigen Zeiten ihr Auftreten
ein massenhaftes ─ wir erinnern nur an die Zeit der Troubadours und
Trouvères, der Minne- und Meistersänger. Von der Liederdichtung
gelten die Uhland'schen Verse:


Singe, wem Gesang gegeben
Jn dem deutschen Dichterwald!
Das ist Freude, das ist Leben,
Wenn's von allen Zweigen schallt.

Nicht an wenig stolze Namen
Jst die Liederkunst gebannt ─
Ausgestreuet ist der Samen
Ueber alles deutsche Land.


Jn der That kann auch der naturwüchsigen Empfindung des Volkes,
wie dem gebildeten Dilettantismus der Ausdruck der Stimmung in
einem kurzathmigen Liede so trefflich gelingen, daß dem echten Dichtertalente
der Preis streitig gemacht wird. Auch hierin finden wir wieder
einen Beweis dafür, daß man die Liederdichtung nicht überschätzen darf.
Wir haben es z. B. an Niklas Becker's „Rheinlied“ gesehn, daß in
dieser dichterischen Atomistik auch denen bisweilen ein Wurf glückt, denen
die Pforten der Poesie sonst verschlossen sind. Ueber die meisten Menschen
kommt eine Epoche der Poesie, wo das eigene Leben gleich einer sich nur
einmal erschließenden Blume aufblüht. Die Empfindung krystallisirt sich
zum Gedichte und zwar zum Liede, weil das die einfachste und
leichteste Form ist. Solche Liederchen spielen zahllos wie die Mücken im
Sonnenschein. Wie jede Persönlichkeit die Welt anders abspiegelt, wie
jeder Mensch seinen eigenen Styl und seine eigene Handschrift hat: so
könnte auch in diesen leichthinflatternden Liederchen die Eigenthümlichkeit
des Autors zur Geltung kommen, wenn nicht der Mangel an Formbeherrschung
und echter Begabung alle diese Dilettanten unwillkürlich in
die ausgefahrenen Gleise einer für sie denkenden und dichtenden Sprache
führte. Der Sprache das Gepräge seiner Eigenthümlichkeit aufzudrücken,
gelingt nur dem Genius, dessen Liedergaben sich dadurch von der Lyrik
der Masse unterscheiden. Jedes Atom der Empfindung läßt sich im
Liede dichterisch verwerthen. Jedes nächste Ereigniß des geselligen und
Familienlebens kann eine Stimmung entzünden, die sich im Liede aussingt; |#f0297 : 275|

vor Allem aber ist Wein und Liebe sein unerschöpfliches Thema.
Ein Lyriker, der kein Trink- oder Liebeslied gedichtet, gehörte in ein Kuriositätenkabinet.
Selbst der idealgesinnte Schiller hat drei Mal seine Lyra
zum Preis des edeln Getränkes gestimmt, freilich charakteristisch genug,
einmal in einer antikisirenden Dithyrambe, in welcher nur göttlicher
Nektar herumgereicht wird, und zwei Mal zum Preise „des Punsches,“
indem er dem künstlich bereiteten Getränke den Vorzug vor den natürlichen
Gaben des Bacchus zu geben scheint, weil sich in ihm „der Willen
und die Kraft“ des Menschen offenbart. Dagegen hat Goethe die gehobene
Stimmung des Trinkenden meisterhaft ausgedrückt: „Mich ergreift
ich weiß nicht wie wonniges Behagen.“ Dem Liebenden wird jeder Lichtreflex,
jeder vorüberfliehende Schatten der Natur, jedes kleinste Ereigniß
des Lebens von Bedeutung für seine Stimmung. Der Hauch der
Liebe verstreut daher überallhin den Samen, aus welchem die Blumen
des Liedes wachsen. Auch die Empfindung hat ihren Witz in sinnigen
Vergleichen, innigem oder schalkhaftem Deuten. Dieser Witz der Empfindung
ist ein reicher Quell für das Liebeslied von Anakreon und Hafis
bis zu Schefer, Wilhelm Müller und Heine, ganz abgesehen
von jenen aus der Liederpoesie herausfallenden Reflexionen, die sich in
Petrarca's verschnörkelten Sonetten finden. Doch auch alle andern
Empfindungen kommen im Liede zur Geltung. Wir erinnern nur an
den köstlichen Ausdruck des Naturgefühls, des elementarischen Lebens in
Goethe's „Fischer“ und Mörike's „mein Fluß,“ der Sehnsucht im Mignonlied
„Kennst du das Land,“ in Brentano's „Nach Sevilla, nach Sevilla,“
in Eichendorff's „Mondnacht,“ der Wehmuth in Lenau's „Schilfliedern“
und in Kinkel's „Trost der Nacht.“ Jedes Naturbild erweckt
eine Stimmung oder spiegelt eine Empfindung, die im Liede ihren Ausdruck
finden kann. Dagegen mag es fraglich erscheinen, ob das Lied
auch fähig sei, einen Jnhalt aus dem Kreise der Religion und Politik in
sich aufzunehmen, ohne daß seine Form gesprengt wird. Jn der That
gehört die dichterisch gestaltete Jdee in das Gebiet der Ode und Elegie.
Anders verhält es sich mit der religiösen und politischen Stimmung.
Die Gottergebenheit, die Rührung durch die Güte des Allmächtigen
und ähnliche Empfindungen der Andacht haben im geistlichen
Lied
eine angemessene Form gefunden, während sowohl die patriotische |#f0298 : 276|

Begeisterung, als auch die unruhige, gährende, thatendurstige Stimmung
der Gemüther in französische Chansons und deutsche Lieder mustergültig
ausströmten.


Jn der Form muß das Lied „aus einem Gusse“ sein und dabei keine
Blasen der Reflexion werfen. Kürze gehört zu seinen Vorzügen. Wir
haben Lieder von zwei kleinen Strophen, in denen sich eine Stimmung
klar, voll, ergreifend ausspricht, z. B. das Abendständchen von Brentano:


Hör', es klagt die Flöte wieder
Und die kühlen Brunnen rauschen,
Golden wehn die Töne nieder ─
Stille, stille, laß uns lauschen!

Holdes Bitten, mild' Verlangen,
Wie es süß zum Herzen spricht!
Durch die Nacht, die mich umfangen,
Blickt zu mir der Töne Licht.


oder „die Bitte“ von Lenau:


Weil' auf mir, du dunkles Auge,
Uebe deine ganze Macht,
Ernste, milde, träumerische,
Unergründlich süße Nacht.

Nimm mit deinem Zauberdunkel
Diese Welt von hinnen mir,
Daß du über meinem Leben
Einsam schwebest für und für.


oder vom Verfasser:


Versunk'ner Glocken Klang
Ertönt aus Meerestiefen;
Mir ist, als ob mich bang
Viel tausend Stimmen riefen.

O endlos Menschenweh,
Wo flieh' ich deine Kunde?
So tief ist nicht die See,
Du rufst von ihrem Grunde.


Jn diesen Gedichtchen liegt der Rhythmus der Komposition klar zu
Tage. Den Anfang bildet die Anregung durch das Ständchen, die Nacht,
das Meer; die Mitte schildert den Eindruck auf das Gemüth; der Schluß |#f0299 : 277|

verallgemeinert ihn. Die Magie der Tonwelt, die Einsamkeit eines
ganzen Lebens, das unergründliche Menschenweh breiten die Stimmung
des Augenblickes aus und vertiefen sie. Zugleich fehlt in allen dreien die
lyrische Pointe nicht, welche sich im ersten und dritten Liedchen als
Antithese, im zweiten als Hyperbel zeigt. Die drei Glieder der Komposition
sind aber auf's Jnnigste verschmolzen und dabei mit der größten
Prägnanz der Anschauung und Empfindung ausgeführt. Aehnlich wird
die Anordnung und Zusammenstellung in größeren Liedern sein, nur daß
hier jedes einzelne Glied weiter ausgeführt wird. Der Gang der Komposition
verträgt sogar Wiederholungen. Drei oder vier anregende
Bilder wirken gleichzeitig auf das Gemüth. So z. B. in folgendem
Gedichte Heine's, dessen Magie hauptsächlich darin besteht, daß die Empfindung
des Dichters nicht unmittelbar ausgesprochen, sondern in die
Bilder selbst verwebt ist:


Es fällt ein Stern herunter
Aus seiner funkelnden Höh'!
Das ist der Stern der Liebe,
Den ich dort fallen seh'.

Es fallen vom Apfelbaume
Der Blüthen und Blätter viel!
Es kommen die neckenden Lüfte
Und treiben damit ihr Spiel.

Es singt der Schwan im Weiher
Und rudert auf und ab,
Und immer leiser singend
Taucht er in's Fluthengrab.

Es ist so still und dunkel!
Verweht ist Blatt und Blüth',
Der Stern ist knisternd zerstoben,
Verklungen das Schwanenlied.


Diese im Bilde selbst latente Empfindung macht im Liede einen wirksamen
Eindruck.


Die Ausdrucksweise muß im Liede von größter Unmittelbarkeit und
Einfachheit sein. Die Phantasie ist hier an die Empfindung des Augenblicks
gebunden und darf nicht frei umherschweifen. Sie muß alles
vom geraden Wege des Gefühls Abgelegene vermeiden. Schildert sie ein |#f0300 : 278|

Naturbild: so muß, wie in obigem Beispiel Heine's, die Schilderung
selbst gleichsam untergetaucht sein in den Strom der Empfindung. Es
frägt sich nur, durch welche Stylmittel sich die lyrische Prägnanz am
besten erreichen läßt? Hier bietet sich zunächst das dichterische „Wort“ dar,
das sinnig gewählte oder vielmehr getroffene Adjektivum und Verbum.
Der eigenthümliche „Duft“ der Stimmung läßt sich durch das einfache
„Wort“ mit der größten Magie über ein Gedicht hinzaubern. Goethe,
Heine und Lenau sind hierin Meister! Wie prägnant ist das Verbum
tragen von Goethe in dem bekannten Liede angewandt:


Jhr verblühet, süße Rosen,
Meine Liebe trug euch nicht!


das Adjektivum dunkel bei Heine:


Es leuchtet meine Liebe
Jn ihrer dunkeln Pracht.


Lenau singt von den „rohen Winden,“ die nicht singen, vom „trennungsschaurigen
Herbst,“ von der „duftverlornen Grenze“ der
Berge, ─


Da unten braust der wilde Bach,
Führt reichen, frischen Tod ─


vom „schnellverzitternden“ und vom „vergänglichen“ Bilde
der Blitze im Teich. Ebenso bezeichnend, wie diese stimmungsvollen
Adjektiva, sind Lenau's Verba:


Nie soll weiter sich in's Land
Lieb' von Liebe wagen,
Als sich blühend in der Hand
Läßt die Rose tragen,

Oder als die Nachtigall
Halmen bringt zum Neste,
Oder als ihr süßer Schall
Wandert mit dem Weste.


Mit Metaphern darf das Lied keinesfalls überladen sein ─ sonst
verliert die Empfindung ihre Unmittelbarkeit. Die Metapher muß kurz,
schlagend und stimmungsvoll sein, wie bei Heine:


Wie dunkle Träume stehen
Die Häuser in langer Reih!
|#f0301 : 279|


Die orientalische Lyrik erhält durch die Ueberfülle der Metaphern
einen dem Charakter des Liedes fremden reflektirenden Beigeschmack.
Eine durchgängige, mit Bildern spielende Symbolik verwischt diesen
Charakter, wie z. B. in Geibel's Gedicht: „ich bin die Rose auf der
Au,“ wo der Dichter sich selbst mit der Rose, dem Edelstein, einem
krystallnen Becher, einer trüben Wolkenwand, dem Memnon in der Wüste,
und die Liebe mit dem Thau, dem Sonnenschein, dem Wein, dem Regenbogen,
dem Morgenroth, der Reihe nach vergleicht. So verdirbt sich
Anastasius Grün in den „Blättern der Liebe“ fortwährend durch
spielende Spitzfindigkeiten des Bilderwitzes den Charakter des Liedes.
Auch Schiller hat seinen Ton nie getroffen. Darin störte ihn zwar
nicht allzureicher Bilderschmuck, wohl aber eine etwas nackte Logik, die
da, wo er Einfaches einfach besingen wollte, hervortrat. Man achte nur
in seinem „Punschlied“ auf die vielen „aber, doch, d'rum,“ welche die
Strophen logisch=nüchtern verbinden und dem Ganzen eine breite und
unwillkommene Deutlichkeit geben. Da traf Goethe das Richtige, der
nicht nur diese doktrinairen Partikeln in Liede beseitigte, sondern auch
durch Fortlassung der Pronomina bei der Anrede den traulichen, unmittelbaren
Ton der Empfindung verstärkte: „Füllest wieder Busch und Thal,“
und: „Blüthet ach! dem Hoffnungslosen.“ Das Lied verträgt sogar
vollkommen naive Wendungen, wie z. B. mich ergreift ich weiß nicht
wie
(Goethe) oder: du feuchter Frühlingsabend, wie hab' ich dich so
gern
(Geibel). Wohl kann es Lieder geben, die ganz in einer Metapher
ruhn, wie die Perle in der Muschel, wie z. B. das Heine'sche: „Sag' wo
ist dein schönes Liebchen?“ ─ dann darf aber kein neues Bild die Einheit
stören. Am verfehltesten sind im Liede ausgeführte Gleichnisse, welche
sich ganz von der Gemüthswelt und ihrer träumerischen Beleuchtung loslösen.
Ein recht schlagendes Beispiel dafür giebt unser dichterischer Altmeister
Martin Opitz, der ein Trauerlied auf „den Tod eines Kindes“
mit folgender Homerischen Vergleichung beginnt:


So wie ein edler Leue
Sich mit gerechter Reue
Sehnt nach der jungen Zucht,
Die man ihm aufgefangen,
Jndem er ist gegangen
Und Speise hat gesucht.
|#f0302 : 280|

Sein' Augen stehn voll Thränen,
Der Schaum läuft von den Zähnen,
Die Mähne steigt empor.
Er sucht, er ruft, er brüllet,
Daß Lybien erschüllet,
Und sich entsetzt davor:

So rühren sich die Schmerzen
Jn Deinem Vater-Herzen
Jngleichen, mein Clandrin!


Abgesehen von der Geschmacklosigkeit des Bildes, das an dieser
Stelle ebenso passend ist, wie ein marmorner Löwe als Grabdenkmal
eines Kindes, zerstört die epische Ausführung, welche die Phantasie bei
einer Fülle von einzelnen Merkmalen haften läßt und sie von der Leiche
eines Kindes bis in die lybische Wüste versetzt, vollkommen die Einheit
der lyrischen Stimmung.


Was die metrische Form des Liedes betrifft, so waltet auch hier
der Charakter größter Einfachheit. Kurzathmige Rhythmen von wenig
Füßen, kurze Strophen, am liebsten vierzeilig, keine kunstvoll verschlungenen,
aber durch die Kürze der Zeilen rasch sich folgende Reime bestimmen
ihn. Lieder ohne Reim sind in deutscher Sprache wirklich ungereimt
zu nennen. Schon Anakreon ließ seine leichtgeflügelten Amoretten
sich nach dem Takte des jambischen Dimeters bewegen:


‿ ‿ _ _ | ‿ ‿ _ _ |


einen kurzathmigen, hastigen Rhythmus, dessen heftigen Anprall er dadurch
mäßigte, daß er die letzte Länge des ersten Jonikus in eine Kürze, die
erste Kürze des zweiten in eine Länge verwandelte:


‿ ‿ _ ‿ | _ ‿ _ _ |


Durch diese Umbiegung (Anaklase) erhielt der kurze Vers einen
weicheren Gang, der ihn zum Träger der Liebesempfindung geschickt
machte. Ueber das Maaß einer trochäischen und jambischen Dipodie:


_ ‿ _ ‿ | _ ‿ _ ‿
oder: ‿ _ ‿ _ | ‿ _ ‿ _


sollte das Metrum des Liedes nicht hinausgehn. Jn der That sind die
meisten Lieder Goethe's, Uhland's, Geibel's, Lenau's, Wilhelm
Müller's, Eichendorff's, Hoffmann's von Fallersleben

in diesen Dipodien geschrieben, welche freilich durch den Wechsel |#f0303 : 281|

männlicher und weiblicher Reime einen etwas beweglicheren und minder
strengen Charakter erhalten. Vierzeilige Strophen mit einfach verschlungenen
Reimen entsprechen am meisten der anmuthigen Einfachheit
des Liedes.


Auch widerspricht es nicht dem sangbaren Charakter des Liedes, daß
die zweite Hälfte der Strophe, besonders der vom Chor zu singende
Refrain in einem andern Versmaaß gedichtet ist, wie wir dies in vielen
Volks- und geselligen Liedern finden. Dagegen ist der Pomp oft wiederholter
und kunstvoll verschlungener Reime mit dem Wesen des Liedes
durchaus unverträglich. Es ist daher unbegreiflich, wie zahlreiche Aesthetiker,
unter ihnen auch Hillebrand in seiner: „Literar-Aesthetik“ das Sonett
als eine Unterart des „Liedes“ betrachten konnten. Eher dürfte das
lyrische Epigramm, das Madrigal, das in kein solches monotones
Vers- und Reimschema eingezwängt war, hier eine Stätte finden, indem,
wie wir schon gesehen, eine frappante lyrische Pointe, ein schalkhaftes
Austönen im Liede vollkommen berechtigt ist, welches sogar einen durchaus
komischen Jnhalt in sich aufzunehmen vermag. Wir wollen jetzt
einige Unterscheidungen des Liedes und geschichtliche Gestalten desselben
näher in's Auge fassen.


1. Das Volkslied und Kunstlied.


Das Lied als unmittelbarer Erguß des Herzens setzt keine tiefere
Bildung voraus; im Gegentheil, sein Quell kann am frischesten in einem
unbefangenen, mit der Natur noch träumerisch verwachsenen Gemüthe
sprudeln! Dann erinnert es an den Gesang des Vogels, der auf den
Zweigen singt. Die Natur und die eigene Empfindung, die Welt der
Sage, mit welcher der Sänger groß geworden, sind die Quellen des
Volksliedes, dessen kunstlose Naivetät, wie aromatischer Waldduft,
das Gemüth gefangen nimmt. Zugleich liegt im Volksliede die Sehnsucht
nach einem noch unerschlossenen Reiche der Bildung, und das giebt
ihm einen neuen wehmüthigen Reiz. Was in diesen Volksliedern indeß
echt lyrisch ist: das sind seine verschleierten Uebergänge, seine sinnigen
Andeutungen, dies träumerische Herübergehn vom Naturbild zum Ereigniß
des Herzens. Dadurch erhält auch seine Form etwas Knappes,
Gedrungenes, Sangbares; der wiederkehrende Refrain hält die Einheit |#f0304 : 282|

der Stimmung fest. Der Refrain bildete sich aus dem Kehrreim,
wie er z. B. in den altschwedischen Liedern und Balladen zu finden ist,
der Wiederholung einer oder zweier Zeilen nach jeder Verszeile des Liedes,
mochte sie dazu wohl oder übel passen. Der Zweck war auch hier,
den Hintergrund einer düstern oder freudigen, ruhigen oder erregten
Stimmung im Auf- und Abwogen der Empfindungen und dem Fortgang
der Begebenheiten festzuhalten, das Mittel aber war äußerlich und
gewaltsam und konnte nur ausnahmsweise, durch ein zufälliges Zusammentönen
des Kehrreimes mit den Klängen des forteilenden Liedes, einen
rührenden Eindruck machen. Der Kehrreim bildete sich weiter fort zum
Refrain, welcher, die einzelnen Strophen abschließend, als kunstvolleres
Band der Stimmung das Lied zusammenhielt.


Die Bedeutung des Volksliedes ist in unserer Zeit vorzugsweise
eine kultur- und literarhistorische. Die Ueberschätzung desselben, die zu
den Moden des Tages gehört, hängt theils mit dem verdienstlichen Eifer
zusammen, mit welchem die Wissenschaft alle seine vergrabenen Schätze
zu Tage förderte, theils geht sie aus einer mehr raffinirten, als naturwüchsigen
Opposition gegen die Fortentwickelung unserer Kunstpoesie hervor.
Wenn das Volkslied selbst auf die Kunstpoesie einen bedeutenden
Einfluß gehabt; wenn besonders der Schatz der altspanischen Romanzen
und altschottischen Balladen auf Bürger, Herder, Goethe u. A.
einen unleugbar erfrischenden und zu Nachdichtungen anspornenden
Eindruck gemacht, wenn Goethe selbst die Weise manches italienischen
Volksliedes in einen reineren, künstlerischen Aether gehoben: so darf man
doch nicht vergessen, daß heutzutage umgekehrt die Kunstlyrik wieder die
Volkslyrik befruchtet, daß die Klänge der Bildung bis in die verlorensten
Gebirgsthäler und Wälder dringen und manches neue Volkslied Nichts
ist, als ein verstümmeltes Lied von den Höhen des deutschen Parnaß.
Die Ursprünglichkeit des Volksliedes verlangt eine völlige Abgeschlossenheit
von allen Bedingungen der Kultur ─ wo aber wäre in unserer Zeit
der Eisenbahnen diese noch zu finden? Oder entsprechen die Lieder eines
Hebel, Holtei, Claus Groth, den Bedingungen der eigentlichen
Volkspoesie? Sind sie nicht in ein Volksidiom hineingedichtete Kunstpoesie?
Die Sammlungen der Volkslieder haben sich in neuester Zeit
außerordentlich vermehrt, und so schätzbar sie als Ausbeute literarhistorischer |#f0305 : 283|

Studien sind, so droht doch die Ueberfüllung des Marktes mit
dieser Blüthenflora den Bestrebungen der Gegenwart Gefahr, wenn der
geschichtliche Standpunkt verrückt wird und der eines bewundernden
Dilettantismus an seine Stelle tritt. Herder's „Stimmen der
Völker
“ ist eine Mustersammlung, die aus jener Auffassung hervorging,
während Arnim's und Brentano's „des Knaben Wunderhorn“ den
zweiten Standpunkt vertritt. Der sinnige Literaturforscher reihte die
Liederblüthen aller Völker, besonders der germanischen und slavischen
Stämme, deren Gemüthsinnigkeit am reichsten und fruchtbarsten hervortritt,
zum Kranz; er zeigte damit, wie mannichfach sich der nationale
Genius in diesen dichterischen Hervorbringungen spiegelte, und gab eine
willkommene Ergänzung zur Kulturgeschichte der Völker. Arnim und
Brentano dagegen sammelten ihre oft rohen, oft süßlichen, meistens
dilettantisch überzuckerten Volkslieder als Dichtungen von höchstem poetischem
Werth, als ein „Wunderhorn“ für den deutschen Knaben, als eine
Bildungsschule der Nation. Und nach dem Vorgange der Romantiker
erhielten wir nicht nur serbische und baskische, wallachische, litthauische
und dalmatische, sondern auch finnische, esthische, lappische Volkslieder,
kurz, ein ganzes lyrisches Kuriositätenkabinet, das wohl kein größeres
Jnteresse in Anspruch nehmen darf, als eine große Waffensammlung, in
welcher neben dem altdeutschen Ritterschwert der Kupferspieß des Eskimo
nicht fehlt. Andere Sänger eilten im Harz und in allen deutschen Gebirgen
alte und frische Liederspuren aufzusuchen; noch andere streiften mit
Rousseau's Hast die ganze moderne Kultur ab, um in den Urwäldern
des Volksliedes auf allen Vieren zu kriechen. Hiergegen läßt sich erinnern,
daß kein Dichter, der Dauerndes schaffen will, seine Bildung verleugnen
soll, um in den Tiefen etwas Höheres zu suchen. Die verkehrte
Volksthümlichkeit ist auf allen Gebieten eine Reaktion gegen den Fortschritt
der Literatur. Oder welcher Dichter des Augusteischen Zeitalters
hätte seinen Ruhm darin gesucht, die Kunstbildung zu verleugnen, die
Ennius, der römische Opitz, seinem Volk geschaffen, um nach dem Gesetz
einer rohen, unplastischen Rhythmik die alten saturninischen Verse wieder
aufzuwecken? Alle Ehre den naiven Sängern oder dem dichtenden Volksgeiste
selbst, der seine Empfindungen in urwüchsigen Liedern ausströmt ─
aber die Wiedererweckung eines rohern Styls und knittelversartiger |#f0306 : 284|

Rhythmen geht dieser Ehre verlustig! Kann doch die Kunstlyrik heutzutage
„wahrhaft volksthümliche Lieder“ aufweisen, so daß jener höhere
Standpunkt der hellenischen Kultur, der die unwahre Trennung zwischen
Volks- und Kunstpoesie nicht kennt, wenigstens im Einzelnen erreicht ist.
Anakreon mit seinen leicht flatternden Liederchen, den reizenden Devisen
Amors, wie sie in Deutschland am besten Leopold Schefer und
Wilhelm Müller nachgeahmt, war gewiß ein griechischer Volkspoet,
nicht minder Catull im liederarmen Rom. Rouget de Lisle mit
seiner Revolutionshymne hat die Heere der Republik und des Kaiserreiches
elektrisirt, während Schiller durch sein „Reiterlied,“ Körner,
Arndt
den Ausdruck der nationalen Stimmung wunderbar trafen und
in allen Bivouaks der Befreiungskriege mit Begeisterung gesungen wurden.
Ja steht nicht in neuer Zeit Béranger als der echt französische
Volkspoet da, der alle Seiten der Nation von der leichtfertigsten Lebenslust
bis zum höchsten Aufschwung des aufbrausenden Enthusiasmus in
in seinen Chansons spiegelt? Alle seine Lieder sind echt französischer
Champagner! Und solch' ein einzelner Dichter, welcher die Verkörperung
seiner Nation ist, der ihre Eigenthümlichkeiten in seinem Talent koncentrirt,
vertritt das Volkslied besser, als alle aufgespeicherten Schätze
namenloser Volksdichtung!


Wir verkennen nicht, daß das höhere Lied aus dem Volksliede hervorgegangen,
daß es eigentlich dem Alterthum und dem Orient unbekannt,
ein Ausfluß christlich=germanischer Jnnigkeit ist. Die Griechen
und Römer waren in ihrer Lyrik theils zu plastisch, theils zu reflektirend;
die Orientalen zu bilderprunkend, lehr- und spruchreich. Dagegen spricht
in den anglo=normannischen, altfranzösischen und mittelenglischen „Laïs*)
sich bereits jener innige sangbare Charakter aus, der noch mehr im deutschen
Volksliede hervortrat. Die Lieder der Minnesänger und Troubadours
enthielten ebensoviel Süßliches, wie Zartes, Spielendes, wie
Sinniges; die Liederkost des Meistersanges war roh, derb und für das
Handwerkerthum schmackhaft. Seit Opitz und Flemming die deutsche

*)
Vgl.: Ueber die Laïs, Seqenzen und Leiche von Ferdinand Wolf.
Heidelberg. 1841.
|#f0307 : 285|

Poesie an den klassischen Mustern heranbildeten, gelangte auch das Lied
der Kunstpoesie zur Ausbildung, welche durch den Bilderschwulst der
zweiten schlesischen Dichterschule indeß wieder erstickt wurde. Erst mit
den deutschen Anakreontikern Gleim, Uz und Hagedorn beginnt eine
neue Aera des deutschen Liedes, deren höchsten Gipfelpunkt Goethe bezeichnet.
Mit proteusartiger Verwandlungskunst schmiegte sein Genius sich auch
in die Formen des Volksliedes und gab ihnen seltene harmonische Weihe,
tiefste Jnnigkeit, einen unsagbaren Reiz. Die Lieder „Mignon's,“
das Lied „an den Mond,“ „Schlafe, was willst du mehr“ schlugen die
verschiedensten Töne des Volksliedes an, aber sie beseitigten seine rohen
Auswüchse und hoben es in einen geläuterten Aether. Die sanften,
weichen Liederklänge Uhland's, Heine's oft leichte und kecke, oft
tiefgefühlte Liederchen, Eichendorff's romantisch träumerische, Hoffmann's
von Fallersleben
altdeutsch schlichte und einfache, Geibel's
harmonisch ansprechende, Lenau's melancholische, Roquette's jugendfrische
Klänge bezeichnen die weitere Entwickelung des deutschen Liedes.
Alle Empfindungen der Seele, das Naturbild, die wechselnden Liebesgefühle
fanden hier ihre Stätte. Die Liederpoesie des Salons wucherte
mit Gesang und Klavierbegleitung ─ viel Nichtssagendes und Krankhaftes
wurde in Musik gesetzt und dadurch populair. Eine Reaktion
gegen die Trivialität der Wald- und Mondscheinlieder versuchte die politische
Lyrik.


Die Ballade.


Die Ballade ist das epische Lied, ein Lied, in welchem der Ton der
Stimmung und die sangbare Form vorwaltet, und welches daher das
Ereigniß ganz in Empfindung auflöst. Nur wenn wir diese
Begriffsbestimmung in aller Schärfe festhalten, lassen sich die Grenzstreitigkeiten
zwischen Ballade und Romanze, deren Verwirrung
durch den schwankenden Gebrauch dieser Ausdrücke von Seiten unserer
großen Dichter noch vermehrt ist, ein für allemal grundrechtlich reguliren.
Die Romanze ist dann eine episch=lyrische Mischgattung, eine kleinere
„poetische Erzählung,“ in welcher das Jnteresse des Kolorits und der
Schilderung überwiegt und die lyrischen Andeutungen und Sprünge das
Element der musikalischen Stimmung, die Sangbarkeit und Kürze, |#f0308 : 286|

gänzlich verdrängt. Die Romanze als poetische Erzählung ist daher gar
nicht an dieser Stelle, sondern in der Lehre von der epischen Dichtung zu
behandeln.


Die historische Entwickelung der Ballade und Romanze giebt uns für
diese Unterscheidungen freilich nur einen schwachen Anhalt. Romance,
romanzo hieß in den romanischen Sprachen anfänglich jedes Gedicht der
Volkssprache im Gegensatze zu den lateinischen Gedichten. Jm Spanischen
wurde diese Bezeichnung dann auf episch lyrische, volksthümliche Gedichte
übertragen, deren Rhythmus, der drei- und vierfüßige Trochäus, ebenfalls
diesen Namen erhielt. Die ältesten spanischen Romanzen, wie die vom
Cid, waren historisch=episch. Jhnen schlossen sich die Ritterromanzen
der wandernden Sänger, die maurischen und Schäferromanzen an.
Größere Sammlungen, Romanceros, wurden seit der Mitte des
16. Jahrhunderts herausgegeben. Der vorwiegend epische Charakter
und das farbengesättigte Kolorit der Romanze giebt uns ein Recht, sie
auch nach ihrer historischen Entwickelung als poetische Erzählung in das
epische Gedicht zu verweisen. Anders verhält es sich mit der Ballade,
ein Namen, der allerdings auch südlichen Ursprungs ist, indem das italienische
„ballata“ im 12. Jahrhundert sonett- und madrigalartige kleinere
Gedichte bezeichnet. Für das epische Volkslied wurde der Namen
im 14. Jahrhundert zuerst in England und dann in Schottland angewendet.
Aus solchen Volksliedern sind nicht blos in Deutschland, sondern
auch in Rußland die großen Volksepopöen entstanden, doch wandte man
die Bezeichnung: Ballade in Deutschland erst an, als die englisch=schottischen
Vorbilder bei uns eingebürgert wurden. Der nordische Charakter
gab dem epischen Volksliede etwas Schroffes, Springendes, Phantastisches,
aber auch jene Lakonismen der Empfindung, welche sich, durch
den Gesang hervorgehoben, an die musikalische Begleitung anlehnen
konnten. Das Gespensterhafte, Unheimliche der alten nordischen Sage
war eine mehr zufällige Zuthat, und es muß ungeeignet erscheinen, den
Unterschied der Ballade von der Romanze auf dies Hereinragen einer
dämonischen oder spuk- und märchenhaften Welt in die Begebenheiten
des Lebens zu begründen. Die Ballade ist ein Lied, die Romanze eine
Erzählung; die Ballade sangbar, die Romanze nicht; die Ballade
hebt die Handlung in der Stimmung auf, die Romanze die Stimmung |#f0309 : 287|

in der Handlung; die Ballade ist von seelenvoller Kürze, die Romanze
von farbenreicher Ausführung; die Ballade skizzirt das Epische nur in
traumhaften Umrissen, die Romanze giebt ihm den vollen Glanz der
Schilderung; die Ballade ist wesentlich lyrisch, die Romanze vorwiegend
episch. Diese Bestimmungen, die aus dem Wesen der Dichtungen hervorgehn,
scheinen geeignet, die Grenzen zwischen beiden Gedichten so
scharf zu ziehen, daß eine Vermischung und Verwechslung derselben nicht
mehr möglich ist.


Eine Revision des uns überlieferten Balladen- und Romanzenschatzes
nach den eben aufgestellten Grundsätzen würde ergeben, daß von den
Schiller'schen episch=lyrischen Gedichten nur der „Ritter Toggenburg“
wegen seines sangbaren Charakters hierher gehört, während Goethe's
vom Hauch der Stimmung wunderbar durchzitterter „Erlkönig“ ein
durchgreifendes Musterbild der „modernen“ Ballade ist. Der echte
moderne Balladendichter ist Heinrich Heine im „Buch der Lieder,“
während im „Romancero“ die Romanze, die ausgeführte Erzählung,
überwiegt. Jn seinen Balladen: „die Grenadiere, die Heimführung,
die Botschaft, Belsazer, die Fensterschau,“ in seinen unübertroffenen
Gedichten von der „Lorelei“ und vom „Hirtenknaben“ in vielen, einzelnen
kleinen Liedern, in denen das Epische gleichsam im lyrischen Aether
verzittert, ist der liederartige Charakter, das stimmungsvolle Element in
mustergiltiger Weise vorherrschend. Dies sanfte Verschweben des Epischen
charakterisirt auch einzelne Balladen von Uhland z. B. das Schloß
am Meer,
der Traum, Abschied u. a., während des „Sängers
Fluch“ zu den farbenreichen Romanzen gehört. Ebenso traumhaft sind
einzelne Balladen Brentano's und Eichendorff's, neuerdings hat
Theodor Fontane den Balladenton mit Glück getroffen, wenn er auch
von den altenglischen und schottischen Volksballaden her den düster
schauerlichen Charakter festhielt. Es ist in der That keine Nothwendigkeit
für die Ballade der Neuzeit, aus Dr. Percy's altem Balladenbuch
die phantastischen Naturmächte, elementarischen Geister, Feeen, Hexen und
sonstigen Gespenster zu opernhafter Ausschmückung mithinüberzunehmen;
ebenso wenig wie ein mittelalterlich ritterliches Kostüm zu ihrer unabweislichen
Bedingung gehört. Die Riesen der Edda hatten ihre Zeit,
die tapfern Degen der Nibelungen die ihrige; die Vertiefung in eine |#f0310 : 288|

Welt untergegangener Sagen hat einen literarischen und wissenschaftlichen
Reiz; aber dieser Reiz ist unfruchtbar für die echte Volkspoesie der
Gegenwart. Solch' eine Haudegen-Ballade, wie: „des Deutschritters
Ave“ von Geibel kann in unserer Zeit keine Sympathieen erwecken.
Dichter, wie Burns und Thomas Moore, schöpfen zwar aus dem
schottischen und irischen Volksleben; aber sie wissen doch der Sage eine
echt menschliche und dauernde Bedeutung zu geben und sie ganz in die
Empfindung des Herzens aufzulösen. Jndeß finden wir bei Letzterem
schon die Ansätze zu einer modernen Ballade! Béranger in einzelnen
episch gefärbten Chansons, Heine in seinen meisterhaften „Grenadieren,“
Zedlitz in der „nächtigen Heerschau“ haben mit Glück die Bahn betreten,
die zu einer Verjüngung der Ballade führt. Das jüngste Zeitalter
ist reich genug an großartigen Reminiscenzen, welche ein begabter Dichter
in stimmungsvollen und sangbaren Balladen verwerthen kann ─ und so
wenig ein französischer Grenadier der großen Armee unsere nationalen
Sympathieen besitzt, so versetzt er uns doch eher in eine dichterisch sympathetische
Stimmung, als ein alter Deutschritter, der einem Litthauer=
Häuptling den Schädel spaltet. Jene düstern schottischen Balladendichter
haben aus der Stimmung ihrer Zeit herausgedichtet ─ dichten wir so
aus der unsrigen heraus! Haben wir den Muth, alle akademischen Exercitien
zu vermeiden, ob sie in Nachdichtungen der Römer und Griechen
oder der eigenen durch die germanistischen Studien galvanisirten Volkspoesie
bestehen. Nur aus der Stimmung unseres Jahrhunderts heraus
wird die echte Ballade gesungen, mag sie, wie oft bei Heine, das
eigene Erlebniß liederartig gestalten oder irgend eine Begebenheit des
socialen und politischen Lebens, aus der Fülle des eigenen Herzens wiedergeboren,
in frischem Liederquell hervorsprudeln lassen!


3. Das erhabene und komische Lied.


Obgleich sich das Lied meistens in der reinen Mitte des einfach
Schönen bewegt, so kann es sich doch auch den erhabenen und komischen
Stoff aneignen. Das religiöse Lied unterscheidet sich von der Hymne
dadurch, daß es den erhabenen Gegenstand nicht in seiner Erhabenheit
feiert, sondern die hingebende, andachtsvolle Stimmung des eigenen
Gemüthes, das Gefühl der Getragenheit durch eine höhere Macht, in |#f0311 : 289|

warme innige Klänge haucht. Unsere geistlichen Lieder, wie z. B. „wie
groß ist des Allmächt'gen Güte“ und „wach' auf, mein Herz, und singe,“
athmen diese ganze Jnnigkeit und Festigkeit einer gottergebenen Gesinnung.
Luther, Simon Dach, Flemming, Paul Gerhard,
Gellert, Lavater
u. A. haben den geistlichen Liederschatz unserer
Nation mit den werthvollsten Spenden bereichert. Auf der andern Seite
geht das komische Lied aus der Stimmung des frischesten Wohlseins
und Wohlbehagens hervor. „Jch hab' mein' Sach' auf Nichts gestellt,“
das ist der von Goethe angeschlagene Grundton dieser Liederpoesie, ihr
Wesen eine die Welt in die Schranken fordernde Jovialität. Ein großer
Theil der geselligen Lieder, der Studenten=, Trink- und Hochzeitlieder,
hat diesen heitern Charakter, der durch den allgemeinen Chorgesang sich
zu lauter Fröhlichkeit steigert. Auch das scherzhafte Ereigniß kann für
ein solches fröhliches Lied willkommenen Stoff hergeben. Opitz und
Goethe, Holtei, Kopisch und Reinick haben hier oft den richtigen
Ton getroffen. Das bekannte Lied von Kopisch: „Als Noah aus dem
Kasten war“ zeigt uns, wie diese unbefangene Heiterkeit selbst die ehrwürdigen
biblischen Gestalten in ihre Kreise zieht, ohne gerade in das
Burleske zu verfallen. Ueberhaupt bedarf das komische Lied eines
geschmackvollen Haltes, in seiner ausgelassenen Stimmung einer sittlichen
Hemmung, wenn es nicht in eine plebeje Zotenpoesie ausarten oder jenen
dilettantischen Reimschmieden und Versmachern anheimfallen soll, welche
in die Saiten greifen, wie des Silen's Maulesel in die Saiten Apoll's. ──────


Dritter Abschnitt.

Die Lyrik der Begeisterung: die Ode.


Wenn das Gefühl des Dichters sich jenen ewigen Objekten zuwendet,
wie Gott, Natur, Menschheit: so wird es mit begeistertem Aufschwung zu
ihnen hinanstreben; es wird sie zu erreichen trachten und, nachdem es sie
voll in die Seele aufgenommen, mit vollen und mächtigen Klängen
feiern. Auch die großen Gestalten der Fürsten und Helden, die Thaten
des Krieges, die Siege des Gedankens stimmen die Seele zu diesem
begeisterten Anstreben; selbst die Empfindungen des Herzens, die Liebe, |#f0312 : 290|

die Freundschaft fallen in den Kreis dieser höheren Lyrik, nur muß dann
der Dichter seiner Empfindung eine größere Tragweite geben, seine eigne
Lust, sein eigenes Leid zu Lust und Leid der ganzen Menschheit erweitern.


So hat die Ode einen bedeutsameren Jnhalt, als das „Lied.“ Jhre
Geburtsstätte ist ein von den großen Mächten des Lebens und den Phänomenen
der Geschichte und Natur erregtes Gemüth, das im Bestreben,
sie zu erfassen und sich anzueignen, seine ganze eigene Kraft und Tiefe
entwickelt. Während das Lied „etwas Knospenartiges und nur halb
Erschlossenes“ hat, ist die Ode eine vollentfaltete Blüthe der Lyrik.
Einzelne Oden, wie die der Sappho und überhaupt der melischen Lyrik
der Griechen, stehn an der Grenze des Liedes; aber sie unterscheiden sich
doch von ihm durch eine freiere und kunstvollere Haltung. Die Gluth der
Leidenschaft sprengt die einfach innige Form des Liedes; sie überstürzt sich
in bewegteren Rhythmen; sie erhebt den Gegenstand, der sie erfüllt, mit
kühnerem Schwung über das Maaß und die Schranke des Gewöhnlichen.
Das einfache Gefühl geht in seine eigene Tiefen zurück; das Lied ist wie
eine Mimose! Jhm genügt eine Berührung von Außen, und es faltet
sich zusammen. Die Begeisterung jauchzt in alle Welt hinaus, was sie
erfüllt: sie feiert sich selbst in der Feier ihres Gegenstandes; sie sucht in der
Welt umher nach Farben zu seinem Schmuck, nach Klängen zu seinem
Ruhm! Die Ode erscheint daher objektiver, als das Lied; sie erschließt
größere Perspektiven der Anschauung und des Gedankens; aber immer ist
hr das überströmende Gefühl, der hinreißende Schwung der Seele das
ἑν και παν, das alles Andere, Aeußere in sich verzehrt. Darum hat die
Welt der Erscheinung kein selbstständiges Recht; ihre Bilder werden aus
dem Zusammenhang gerissen; die Trunkenheit des Dichters irrt von dem
einen zum andern, erhascht sie im Flug und schlingt sie um ihren Thyrsus.
Deshalb ist auch der Charakter der Ode in Bezug auf Komposition,
sprachlichen Ausdruck
und Rhythmus wesentlich vom Charakter
des Liedes verschieden.


Die Komposition der Ode verstattet kühne Sprünge der Phantasie,
welche die Bilder ohne alles behagliche Verweilen nur in lyrischen
Fresken malt. Die Erregung des Odendichters ist allen großen Erregungen
der Seele verwandt; sie hat etwas Visionaires, Prophetisches,
Verzücktes. Doch auch da, wo sie minder gewaltig auftritt, läßt ihre |#f0313 : 291|

Unruhe sie nicht bei einem einzelnen Bilde verweilen, weil ja kein einzelnes
die Fülle der Begeisterung erschöpfend spiegeln kann. Schon der am
meisten epische Odendichter, Pindar, flicht eine Reihe plastischer Gemmen
zum Kranz; aber die geistige Vermittelung ist eine kühne, welche die
ergänzende Phantasie herausfordert. Das aber ist das Wesen der Gedankenverbindung
in der Ode: abgerissene, vom Fluthstrom des Geistes
aneinandergeschwemmte Bilder, kurz angedeutete kühne Uebergänge, Auslassungen
und Sprünge; aber die scheinbare Unordnung und Willkür
beherrscht von einer tieferen Einheit des begeisterten Gedankens. Freilich
dürfen seine Abschweifungen nicht gänzlich zerstreuender Art sein, wie
z. B. im zehnten pythischen Gesang des Pindar die Schilderung des Landes
der Hyperboreer. Er mahnt den Sieger, daß er nicht ein ganz unbedingtes
Glück finden, nicht wie Perseus in das Land der glückseligen
Hyperboreer den Weg finden werde. So ist der Uebergang zur Schilderung
dieses Landes wohl vermittelt; aber die Episode drängt sich zu sehr
in den Vordergrund, und Pindar selbst hält eine Rechtfertigung für
nöthig, indem er die Weise seines Siegsgesanges mit der Biene vergleicht,
die ihren Honig aus verschiedenen Blumen sammelt. Wenn
Horaz die Meerfahrt seines Freundes Virgilius (I, 3.) besingt, so beginnt
er mit einem herzlichen Wunsche, daß ihm die andere Hälfte seiner Seele
erhalten bleibe, daß das Schiff den Freund sicher an Attika's Gestade
aussetze! Der Liederdichter hätte diesen Wunsch mit inniger und sinniger
Wärme ausgesprochen und die ganze Gluth der Freundschaft in seine
Verse gehaucht! Der Odendichter aber springt alsbald zu andern kühnern
Bildern ab! Er sieht das Schiff, das den Freund trägt, in seinem
Kampfe mit den Fluthen ─ und dies einzelne Bild wird ihm zum Bilde
der ganzen, kühnen und ringenden Menschheit, welche den Gefahren der
Fluthen und Stürme, den Brandungen Adria's, den schwimmenden
Ungeheuern der Tiefe trotzt und über die von den Göttern gesetzte Scheidung
des Oceans auf frevelndem Floß hinausschifft! Er schaut im Geiste
den ganzen Trotz der Menschen gegen die Götter; den Uebermuth des
Prometheus, der ihnen das Feuer raubt, des Dädalus, der sich auf
menschlichen Flügeln in den Aether wagt, des Herkules, der durch den
Acheron dringt; und aus einem der Freundschaft geweihten Liede wird
eine der gedankenvollsten und die einzig titanische Ode des Horaz, indem |#f0314 : 292|

sich die Meerfahrt des Freundes zu einem großen Bilde der rastlos strebenden
Menschheit erweitert. Jn „der Frühlingsfeier“ besingt Klopstock
den Lenz, aber nicht, wie der Liederdichter, der einzelne anmuthige Bilder
wie Blumen zum Kranze reiht. Der Odensänger entrollt ein großes
kosmisches Gemälde ─ wir sehn die Siebengestirne aus Strahlen zusammenströmen,
aber auch das grünlich goldene Frühlingswürmchen neben
dem Dichter spielen. Diese Malerei, entgegengesetzt einer harmonischen
und ruhigen Schilderung, springt vom Größten auf das Kleinste; aber
die erhabene Begeisterung des Dichters schlägt die Brücke zwischen Himmel
und Erde.


Wie die Komposition, wird auch der sprachliche Ausdruck der
Ode von großer Kühnheit und oft stürmischer Bewegtheit sein. Die
großartige Metapher und die Hyperbel treten hier an die Stelle der
episch malenden Vergleichung. „Das Roß mit seinem Donner im Halse
schnaubet Entsetzen durch seine Nüstern! Sein Huf stampfet die Erde
auf; es erkühnet sich in seiner Macht und eilt entgegen den Gerüsteten!
Es spottet der Furcht, weichet nicht dem Schwerdt! Mag entgegen ihm
rasseln der Köcher, der Wurfspieß schimmern und Speer ─ es verschlingt
die Erde in brausender Wuth
und harret der Drommete
nicht!“ So schildert einer der kühnsten Odensänger, der Dichter des
Buches Hiob, das Schlachtroß ─ wie ganz anders malt der Epiker
Homer. „Der geschmetterte Wald dampft“ ─ singt Klopstock vom
Gewitter. Das ist echter Lapidarstyl der Ode! Stolberg feiert in
seiner „Hymne auf die Erde“ den Rheinstrom:


Dich seh' ich als Knabe,
Wo mit umwölkter Hand die Natur an gängelndem Bande
Ueber Nebel und stürmenden Winden und zuckenden Blitzen
Deinen wankenden Tritt auf zackiger Felsenbahn leitet!


Nur Pindar zeigt in seinen Gesängen noch ein vorwiegend epischplastisches
Element. Das Beiwort muß in der „Ode“ von schlagender
Kraft sein ─ hier sind neue und kühne Bildungen und Zusammensetzungen
erlaubt, wenn auch ihr Uebermaaß der Ode ein gekünsteltes
Aussehen giebt. Schon die Beiwörter Pindar's sind nicht stereotyp
wie die Beiwörter Homer's; sie sind nicht blos malend, darstellend, sondern
auch gedankenvoll. Pindar singt vom „bezähmenden Golde“ |#f0315 : 293|

(δαμασιφρονα χρὺσον), vom männerbeglückenden Reichthum (μεγανορος
πλουτον), von erdeschleichender Rede (χαμαιπετέων λόγων)! Jn diesen
stolzklingenden, oft metaphorischen und kühn personificirenden Beiwörtern
liegt vorzugsweise die schwungvolle Kraft des Thebanischen Sängers,
dessen Vorbild die deutschen Odendichter nacheiferten, die Bildsamkeit
der Muttersprache zu kühnen Neubildungen benutzend. Freilich stand bei
ihnen nicht immer der gute Geschmack zu Pathen. Auch im Gebrauch
der Jnversionen dürfte größeres Maaß anzurathen sein, da allzu häufige
syntaktische Verrückungen dem Ganzen ein unnöthigerweise verschnörkeltes
Aussehn geben. Die stürmisch bewegte Begeisterung Klopstock's wird
auch bisweilen gesucht, offenbart aber in einzelnen Oden alle Schönheiten,
welche ihre Sprachbändigende Kraft hervorzubringen vermag. Welche
hinundherflackernde Gluth der Sprache in seiner „Frühlingsfeier!“ Mit
einem hyperbolischen Optativ und einer Jnversion beginnt das Gedicht:


Nicht in den Ocean der Welten alle
Will ich mich stürzen ─ schweben nicht u. s. f.


Dann drängen sich Wiederholungen einzelner Worte, Ausrufungen,
ganzer Sätze aus der Fülle des Herzens heraus; Fragen wechseln mit
erhabenen Lakonismen des Ausdruckes; wie Blitze des Herrn im geschilderten
Gewittersturm eilen beflügelte Sätze:


Und die Gewitterwinde? Sie tragen den Donner!
Wie sie rauschen, wie sie die Wälder durchrauschen!
Und nun schweigen sie. Langsam wandelt
Die schwarze Wolke.
Seht ihr den neuen Zeichen des Nahen, den fliegenden Strahl?
Hört ihr hoch in der Wolke den Donner des Herrn?
Er ruft: Jehova! Jehova! Jehova!
Und der geschmetterte Wald dampft!


Kleinere Sätze nimmt diese wogende Sprachfluth mit syntaktischer
Licenz in sich auf:


Nun ist, wie dürstete sie, die Erd' erquickt!


Oden, die nicht solchen hohen Aufschwung haben, sondern mehr an
der Grenze des Liedes stehn, können eine minder zerspaltene Architektonik
und mehr harmonische Getragenheit auch in ihrem sprachlichen Bau zur
Schau stellen.


Die Rhythmik der Ode bedient sich, im Einklang mit ihrer Komposition |#f0316 : 294|

und sprachlichen Einkleidung, der kühnsten metrischen Maaße.
Der Bau der Strophe, Gegenstrophe und Schlußstrophe, wie ihn Pindar
gefugt, ist aus jenen Marmorquadern der plastischen Sprache
Griechenlands aufgebaut, deren Gewicht in unumstößlicher Weise bestimmt
war. Die regelrechteren Strophen der melischen Lyrik, des Alkäus
und Sappho, eignete Horaz dem lateinischen Jdiom an, und Klopstock,
Voß, Platen
machten sie in Deutschland heimisch.


Die Ode ist eine so prächtige, lyrische Form, so geeignet für große
Bilder und Gedanken, für einen Genius, der das Ewige aus dem fliehenden
Strom der Zeit herauszuheben sucht, daß man bedauern muß, sie,
trotz des lyrischen Aufschwunges der neuesten Zeit, fast in Vergessenheit
gerathen zu sehn. Frägt man nach den Gründen ihrer täglich wachsenden
Verschollenheit: so tritt uns zunächst die absichtlich gelehrte und
unvolksthümliche Haltung entgegen, welche von Klopstock ab bis auf
Platen und Minckwitz von den Odendichtern angenommen wird.


Odi profanum vulgus et arceo!


Und diese Unvolksthümlichkeit wird nicht durch die Stoffe der neuen
Ode, sondern durch ihre Behandlungsweise hervorgerufen. Eine kunstvoll
verwickelte Metrik hemmte sowohl den Schwung der Dichter selbst und
zwang sie zu Künsteleien, als sie auch mit ihrem studirten Wohllaut nicht
auf die Empfänglichkeit des deutschen Volkes rechnen durfte.


Jch habe in meinen „Neuen Gedichten“ eine volksthümliche Wiedergeburt
der Ode durch den Reim anzubahnen versucht, nach welchem
einmal der sehnsüchtige und unüberwindliche Zug unserer Lyrik geht. Daß
dieser Reim unseren antiken Strophen nicht widerspricht, hab' ich schon
oben dargethan. Sie erhalten erst durch ihn volle rhythmische Klarheit
und ansprechenden Zauber. Allen Mitstrebenden aber, denen die herrliche
„Ode,“ welche für jeden großen Jnhalt des Jahrhunderts eine willig
tragende Form ist, am Herzen liegt, schlag' ich folgende Formen zu ihrer
Wiederbelebung vor:


1) Die gereimten Horazischen Strophen, die alcäischen, sapphischen
und asklepiadäischen und gereimte rhythmische Neubildungen auf ihrer
Grundlage.


2) Gereimte, freie, wechselnde Verse in der Art, wie sie reimlos von |#f0317 : 295|

Stolberg, Kosegarten, Goethe, Heine in seinen Nordseebildern,
gereimt von mir in meiner „Hymne an den Tod“ angewendet wurden.


3) Gereimte Pindarische Strophen, Gegenstrophen und Schlußstrophen
von metrischer Strenge, aber Einfachheit, sodaß die Gegenstrophe
ein bis in's Kleinste entsprechendes Gegenbild der Hauptstrophe,
die Schlußstrophe ihre taktvolle Vereinigung ist*).


4) Gereimte jambische Strophen von abwechselnder Länge der Verszeilen,
wie sie mit großem Geschick „Uz“ besonders in seiner Theodicee
und Ramler in einigen Oden gebildet. Z. B.


Mit sonnenrothem Angesichte
Flieg' ich zur Gottheit auf! Ein Strahl von ihrem Lichte
Glänzt auf mein Saitenspiel, das nie erhab'ner klang.
Durch welche Töne wälzt mein heiliger Gesang,
Wie eine Fluth von furchtbarn Klippen
Sich strömend fort, und braust von meinen Lippen.

Uz.


oder:


Dein König, o Berlin, durch den du weiser
Als alle deine Schwestern bist,
Voll Künste deine Thore, Felsen deine Häuser,
Die Flur ein Garten ist.

Ramler.


Die zweite und dritte Form eignet sich mehr für hymnenartige
Gesänge; die erste und vierte für einfachere, dem Liede näherstehende
Oden.


Je nachdem die Begeisterung des Dichters die höchsten unerreichbaren
Mächte der Welt und des Lebens ansingt, oder das menschlich Nahe und
Verwandte feiert, oder im Taumel des irdischen Lebens eine göttliche
Beseligung findet, kann man die Ode in die Hymne, die eigentliche
Ode und die Dithyrambe eintheilen.


1. Die Hymne.


Die Hymne ist in freiester und kühnster rhythmischer Form ein Hinansingen
zur Gottheit, zu den ewigen Mächten, von denen der Mensch sich
abhängig fühlt. So ist sie religiös im weitesten Sinne des Wortes, und

*)
Solche pindarische „Oden“ haben einzelne Engländer zu dichten versucht z. B.
Gray: The progress of poesy, West: institution of the garter u. A.
|#f0318 : 296|

selbst die Verzweiflungspsalmen der Skepsis, wie Shelley in seiner
„Queen Mab“ sie anstimmt, gehören in ihren Kreis, weil das Gemüth
selbst in gebrochenster Sehnsucht nach dem Höchsten aufringt.


Die schönsten Hymnen enthält die Hebräische Poesie. Jehova, der
Höchste, der Allmächtige, der zürnende Gott wird gefeiert in seiner erhabenen
Majestät als Schöpfer der Welt. Alle großen Phänomene der
Natur sind seine Thaten! Er fliegt einher auf den Fittigen des Sturmes;
er neigt die Himmel und fährt herab; seinem Mund entströmt verzehrende
Gluth in der Wetter Schlag. Zugleich ist er der Gott seines
Volkes; alle diese religiösen Hymnen sind die höchsten patriotischen
Weihegesänge. Das Wesen dieser hebräischen Poesie hat Herder mit
unvergleichlicher Feinfühligkeit für das charakteristisch Schöne und mit
meisterhafter Reproduktion der großen Muster ein für allemal auseinandergesetzt.
Der alttestamentliche Prometheus „Hiob“ ist der Urahn
jener modernen Shelley'schen Skepsis; im Buche Hiob sind die kühnsten,
gedankenvollsten Hymnen der Hebräer enthalten, deren reiche und glänzende
Bildlichkeit oft einen grandiösen Schwung nimmt. Die Fackel
eines majestätischen Geistes erleuchtet das All bis in seine tiefsten
Abgründe und erlischt zuletzt vor der größeren Glorie und Majestät des
Jehova. Von den Propheten ist Jesaias der Erhabenste; er schreibt den
Lapidarstyl der Hymne mit großen und ewigen Zügen. Gewitterhaft ist
sein Zorn, zermalmend sein Hohn, z. B. wenn er Jehova's Strafgericht
über die Babylonier und Assyrer schildert (14. Kapitel).


Hinabgebeugt zu den Todten ist dein Stolz,
Hinunter deiner Harfe Siegeston;
Der Moder deine Decke.
Dein Bett ist unter dir der Wurm,
Wie bist du gefallen vom Himmel, du Morgenstern!

(Nach Herder.)


Diese Parallelismen des Jesaias haben eine zerschmetternde Kraft!
Sanfter tönen die Psalmen Davids, sie sind subjektiver, aus dem persönlichen
Geschick herausgeboren, Gebete um Errettung, Trostlieder im
Leiden, Dankeshymnen, Preisgesänge auf den Schöpfer der Natur und
auf jenes Glück, das zu Antium keinen Tempel hatte, auf das Glück
der Tugendhaften. Bei allen milden, weichen Klängen der Ergebung
und manchen höchst anmuthigen und lieblichen Schilderungen, an denen |#f0319 : 297|

die Psalmen reich sind, fehlt es ihnen doch keineswegs an energischem
Hymnen-Schwung, wir erinnern an jene Stellen voll großartigster dichterischer
Jntuition und Schlagkraft, wie: „Er schauet die Erde an, so
lebt sie; er rühret die Berge an, so rauchen sie.“


Die griechischen Hymnen von Orpheus, Homer und Kallimachos,
zu denen noch einzelne Chorgesänge des Aeschylos und
Sophokles zu rechnen sind, wie z. B. im König Oedipus der Gesang
an die Götter um Abwendung der über Theben verhängten Seuche,
erreichen die hebräischen nicht in Bezug auf erhabenen Schwung und
haben einen vorzugsweise epischen Charakter. So enthält die Homerische
„Hymne“ auf Dionysos eigentlich eine Ovidische Metamorphose, indem
sie eine That und Verwandlung des Gottes in anmuthig anekdotischer
Form erzählt. Die Siegeshymnen Pindar's, des thebanischen Sängers,
welche den Preis der Sieger doch immer in den Preis der Götter
verweben, lassen sich an Schwung und Kühnheit noch am ersten mit den
biblischen Hymnen vergleichen. Doch sind sie ihnen in Bezug auf die
Behandlungsweise entgegengesetzt. Die feurige Begeisterung der Propheten
verzehrte gleichsam in sich alle irdische Bildlichkeit; ihre Phantasie
schwelgte in den Parallelismen der Bilder, die alle den einen, großen,
unaussingbaren Gedanken spiegelten. Die Komposition ihrer Hymnen
und Psalmen war daher von durchsichtiger Einfachheit. Dagegen ist
gerade die Komposition von Pindar labyrinthisch verschlungen, und das
Geheimniß seiner Kühnheit besteht in den scheinbar immer abgerissenen
Gedankenfäden, welche doch zuletzt ein kunstvolles Gewebe bilden. Die
Hymnen Pindar's sind plastisch, eine Reliefdarstellung der Thaten der
Helden und Götter wechselt darin mit Weisheitssprüchen, die mit energischen
Zügen in den Marmor gegraben sind. Auch diese Hymnen liefern
den Beweis dafür, daß die Lyrik der Griechen sich nie ganz von der Epik
losgerungen hat. Man vergleiche im vierten pythischen Gesange die
Schilderung des Argonautenzuges, im dritten die Geschichte des Asklepios,
im neunten die der Nymphe Kyrena. Kein Gesang entbehrt eines epischen
Schmuckes, keiner gnomischer Weisheitslehren, die allerdings in den
stolzen Rhythmen und der typischen Fassung wie erhabene Offenbarungen
eines Orakel spendenden Gottes ertönen.


Von den Römern kann nur Horaz im würdig=feierlichen „carmen |#f0320 : 298|

seculare“ als Hymnendichter erscheinen, dagegen hat die neulateinische
Poesie in ihren Hymnen z. B. auf die Jungfrau Maria, die mittelhochdeutsche
Dichtkunst in den Hymnen Gottfried's von Straßburg einen
innigen, von Andacht trunkenen Aufschwung genommen. Die Hymnendichter
der letzten Jahrhunderte, der italienische Bernardo Tasso, der
die Einheit des Kolorits durch mythologische Anspielungen unterbricht, die
Franzosen Jean Baptiste Rousseau, Louis Racine, le Franc,
die Engländer Cowley, Prior, Thomson (in der Schlußhymne
seiner Jahreszeiten), Gray, Watts und selbst Wieland in seinen
Jugendgedichten, von Kleist, Cramer, Herder (in dem Geist der
Hebräischen Poesie) und Klopstock haben eigentlich nur Nachahmungen
und Nachdichtungen der biblischen Hymnensänger geschrieben. Dagegen
sind Hölderlin's „Hymne an den Aether,“ die Goethe'schen Hymnen
„Prometheus,“ „Gesang Mahomets,“ und einzelne schwunghafte Gedichte,
Mörike's „An die Nacht,“ „mein Fluß,“ in echt modernem
Sinn ewigen Mächten der Natur und des Geistes gewidmet. Auch in
Shelley's „Queen Mab,“ in Byron's „Manfred“ und „Himmel und
Erde“ sind titanische Hymnen des ringenden Menschengeistes zerstreut.
Jch selbst habe in meiner „Hymne an den Tod“ in den „Neuen Gedichten“
schwunghaft wechselnde, gereimte Rhythmen für diese erhabene Dichtform
gewählt.


2. Die eigentliche Ode.


Die Ode feiert in kunstvolleren Rhythmen und erregterem Gang, als
das Lied, hervorragende Helden, Staatsmänner, Dichter oder allgemeingültige
Empfindungen des menschlichen Herzens. Das Gefühl der
Liebe, der Freundschaft, Sehnsucht, Wehmuth, läßt sich in die „Form der
Ode“ bringen, wenn ihm der Dichter einen tieferen, ewigen Gehalt zu
verleihn vermag oder die Gluth der Leidenschaft eine den Rahmen des
Liedes sprengende Gewalt erreicht. Darum darf man jene Oden der
lesbischen Sängerin, in denen die Allgewalt der Liebe bis zu todesartigen
Schauern geschildert wird, wohl nicht zu den Liedern rechnen. Der
Kreis, den die Horazische Ode umschrieben, bestimmt noch heute die
Grenzen ihres Gebietes. Man hat zwischen heroischen, didaktischen oder
philosophischen Oden u. s. f. unterschieden, aber diese Unterscheidung ist
weder nothwendig noch erschöpfend.

|#f0321 : 299|


Liebe hat, außer der leidenschaftlichen Sappho, schon Horaz in
seinen „Oden“ verherrlicht, die komfortable, sinnliche Liebe bei'm Mischkrug,
selbst häßliche und widerwärtige Entartungen der Sinnlichkeit.
Jnnige Herzensliebe durchdringt einzelne Oden Klopstock's, der auch,
nach dem Vorbilde des Venusiners, seinen Freunden schöne lyrische
Denkmäler setzte. Der günstigste Stoff für die Ode ist das geschichtliche
Leben der Menschheit, am günstigsten, wenn es in frischer Gegenwart
ergriffen wird. Schon Alkäos besingt das auf den hochgehenden
Wogen der Revolution hin und her geschaukelte Staatsschiff, und in den
meisten Oden des Horaz, besonders in denen an den großen Augustus,
spiegelt sich die ganze Glorie der weltbeherrschenden Roma. Es ist ein
ethnographischer Kosmos, den der Dichter in seinen alcäischen und
sapphischen Strophen ausmalt. Von dem nahen Sabinergebirge und
dem schneeschimmernden Sorakte wendet der Dichter den Blick auf den
Kaukasus, auf die Syrtenstrudel, singt von Persern und Brittannern,
Jberern und Medern, vom schweifenden Scythen und von Sabäa's niebezwungenen
Königen! Ebenso wendet er rückwärts den Blick in die Geschichte
seines Volkes, zu Romulus und Numa, Kurius und Kamillus
─ bei aller Nachahmung der griechischen Vorbilder läßt er den stolzen
Römergeist in ihren Formen walten. Als die Deutschen in Friedrich dem
Großen wieder einen volksthümlichen Helden hatten, folgten Ramler
und Klopstock dem Vorgang des Horaz und feierten seinen Ruhm.
Auch die wechselnden Ereignisse der französischen Revolution von ihrem
verheißungsvollen Anfang bis zu den späteren Gräueln begleitete Klopstock
mit einem Odenschwung, der feurig seine Sympathieen und Antipathieen
aussprach. Platen verherrlicht ebenfalls große Fürsten und
Zeitgenossen in seinen „Oden,“ in denen die antirussische Gesinnung oft
einen haßglühenden Ausdruck findet. Auch Hölderlin weiht den
Deutschen zwei bedeutsame Strophen. Byron's Ode auf „Napoleon“
athmet den echten brittischen Freiheitsstolz, während in Victor Hugo's
„Oden“ die Begeisterung für die Bourbon's mit stolzen imperialistischen
Reminiscenzen wechselt. Die Ode als glänzender Spiegel der Zeitgeschichte
und der nächsten Vergangenheit, als eine Dichtung, in welcher
große geschichtliche und Welt-Perspektiven entrollt und bedeutende Zeitgenossen
gefeiert werden, empfiehlt sich den Dichtern der Gegenwart, |#f0322 : 300|

welche den ewigen Gehalt unserer Zeit für alle Zeiten auszusprechen
bestrebt sind.


Auch für einen den Tiefen der Natur und den Räthseln des menschlichen
Lebens zugewendeten Gedankenflug ist die Ode eine treffliche Form,
nur muß sie nicht einer behaglich sinnenden Reflexion oder gar einem
lehrhaften Tone verfallen, nicht abstrakte Begriffe oder allegorische Gestalten
ansingen. Dies haben einige ältere englische und französische
Odendichter nicht vermieden. Wenn Thomas die Zeit, Shenstone die
Gesundheit, Akenside den Argwohn, Miß Carter die Weisheit, Collins
die Leidenschaften, Thomas Warton den Selbstmord andichtet: so befinden
wir uns unmittelbar im Gebiete einer nüchternen Reflexion, welche
sich in aller Breite ausgießt, während die Ode nur im Schwung die
leuchtenden Gipfel des Gedankens berühren darf. Hierin ist Klopstock
nachahmenswerthes Vorbild, während Hölty sanftere Ergüsse edler
Naturbegeisterung in anmuthige Rhythmen aushaucht. Gerade für die
eigentliche „Ode“ eignen sich die antiken Strophen, besonders in der
gereimten Form, während die Hymne und Dithyrambe in ihrem freieren,
stürmischen Takt die Weise Pindarischer Strophen oder der kühnsten
rhythmischen Wechsel verlangen.


3. Die Dithyrambe.


Diese aus der Hymne hervorgegangene, aber ihr entgegengesetzte
Dichtung, welche die ganze Fülle, den ganzen Taumel irdischer Beseligung
athmet, darf man nicht für veraltet erklären, wenn auch schon Herder in
der zweiten Sammlung seiner Fragmente behauptet, daß sie für unser
Zeitalter nicht mehr passe, sondern für eine wenig gebildete sinnliche Zeit,
in welcher sie auch ihren Ursprung genommen. Wenn Herder dabei an
jene sclavischen Nachahmungen der Alten denkt, wie sie Willamov seiner
Zeit versucht oder die Jtaliener Redi, Baruffaldi, Chiabrera,
Magalotti
u. A., welche mit antiker Bacchusmaske einen durcheinander
wogenden Verskarneval dichteten, so ist ihm nur Recht zu geben; denn
der indische Bacchuszug, das monotone Evoëgeschrei, das Schwenken
eines gedankenlosen Thyrsus, Mänaden- und Satyrchöre mit einem
gelehrten Tumult in Noten erläuterter Jnstrumente paßt durchaus nicht
mehr in unsere Zeit. Anders bei Pindar und Bacchylides, seinem |#f0323 : 301|

Zeitgenossen, anders bei Horaz, der dem weinlaubbekränzten Gott in
seine süßen Gefahren folgt! Diese Dichter sangen aus dem Glauben und
den Sitten ihres Volkes, aus seinem unmittelbaren Leben heraus! Doch
gerade die Dithyrambe ist solch' einer Wiedergeburt aus dem Geiste
unserer Zeit fähig. Der aufjauchzende Vollgenuß irdischer Wonne ist ein
unsterbliches Erbtheil der Menschen und übt eine befreiende Kraft auf
alle stumpfen, sorgengedrückten Gemüther. Es ist freilich ein großer
Schritt von der gedankenlosen Bestialität in Auerbach's Keller zu Heinse's
schönheittrunkenen römischen Orgien. Die Trunkenheit eines großen
Gemüthes ist niemals gedankenleer; der von Bacchus gewaltsam fortgerissene
Horaz sinnt ein unsterbliches Lied auf Cäsar's Ruhm, das nichts
Gemeines, Sterbliches, das bisher nie Gesungenes enthalte! Stumpfe
Gemüther, deren Sinnlichkeit sich brutal vordrängt, sind überhaupt von
der Schwelle der Dichtkunst zurückzuweisen. Sind nicht Goethe's
„Wanderer's Sturmlied“ und „Harzreise im Winter“ Dithyramben?
Hat Heine nicht in seinem Bremer Rathskeller eine humoristische Dithyrambe
gedichtet? Jch selbst habe in meiner „Dithyrambe“ eine gedankenvolle
Trunkenheit in freiwogenden Rhythmen durch den wachsenden
Rausch begleitet. Wir meinen, das dithyrambische Thema lasse für
unsere Zeit die größten Variationen zu, und wenn schon Schiller in seiner
antikisirenden Dithyrambe singt:


Nimmer, das glaubt mir,
Erscheinen die Götter,
Nimmer allein.
Kaum daß ich Bachus, den Lustigen habe,
Kömmt auch schon Amor, der lächelnde Knabe,
Phöbus der Herrliche findet sich ein;


so brauchen wir blos diesen Götterkreis in den Kreis der modernen
Lebensmächte zu verwandeln, um den reichen Jnhalt zu erkennen, dessen
die Dithyrambe fähig ist. Von der übermüthigen Stimmung jener
Ungebundenheit, welche ihre Sache auf Nichts gestellt hat, durch alle heiß
lodernde Begeisterung des Weines und der Liebe hindurch bis zu jenem
geistvollen Taumel, in dessen Gährung höhere Blitze der Offenbarung
herniederleuchten ─ welch' eine Skala von Stimmungen, Empfindungen,
Gedanken für ein reiches Dichtergemüth, das sich ja schon anundfürsich |#f0324 : 302|

in einer gehobenen Stimmung befindet! Selbst ein unruhiger Krankheitsstoff
der Zeit und des Herzens kann vorübergehend in einer ausstürmenden
Dithyrambe mit ausgähren! Wir machen auf alle diese höheren
lyrischen Gattungen die Talente der Gegenwart um so mehr aufmerksam,
als die liederartige, an das Klavier gebannte Lyrik so sehr in erdrückender
Massenhaftigkeit vorherrscht, daß unter dem Banne ihrer weitverbreiteten
Trivialität die originelleren Formen der Lyrik, die ein genialeres Gepräge
zulassen, fast in Vergessenheit zu gerathen drohn. ──────


Vierter Abschnitt.

Die Lyrik der Reflexion: die Elegie.


Der lyrische Dichter kann nicht blos der Empfindung im Lied
einen koncentrirten und musikalischen Ausdruck geben, nicht blos mit
schwunghafter Begeisterung große Gedanken und kühne Bilder im
Flug der Ode erhaschen ─ er kann auch sein Denken und Empfinden
in einer Kette zusammenhängender Bilder ausspinnen. Während das
Lied und die Ode eine schlagende Kürze des Ausdrucks verlangen, jenes,
um die unmittelbare Empfindung zu treffen, diese, um der Energie des
schwunghaft aufgeregten Geistes gerecht zu werden: darf sich die Elegie
in freien, ungehemmten Ergüssen ergehn, mit mehr Ruhe die vorschwebenden
Bilder ausmalen, alle angeschlagenen Saiten voller austönen
lassen; ja dieser Wellenschlag der hinundhergehenden Empfindung gehört
zu ihrem eigensten Wesen. Jndem hier der Ausbreitung des dichterischen
Geistes mehr Raum gegeben, indem ihm sowohl das schildernde Verweilen,
als das sinnige Vertiefen gestattet wird, eignet sich diese Gattung
vorzugsweise für eine Epoche der Gedankenbildung, die mancherlei Vermittelungen
durchlaufen hat, und der größte Theil der modernen Lyrik
gehört in ihren Kreis. Zunächst aber müssen wir historisch rechtfertigen,
daß wir den Ausdruck: Elegie, dem gewöhnlich eine engere Bedeutung
gegeben wird, zur Bezeichnung dieser umfangreichen lyrischen
Gattung, ja der ganzen Gedankenpoesie der Gegenwart anwenden.


Das griechische Wort: Elegos (ἔλεγος) bedeutet allerdings zunächst |#f0325 : 303|

ein Klagelied und stammt wahrscheinlich aus Kleinasien, wo die Karer
und Lyder gerade in Todtenklagen und überhaupt in melancholischer Sangesweise
ausgezeichnet waren*). Diese Klagelieder Kleinasiens wurden vom
Flötenspiel begleitet, und auch in Griechenland war die Flöte, und nicht
die Kithar oder Lyra, die musikalische Genossin der Elegie und begleitete
sowohl die kriegerischen Gesänge des Tyrtäos, wie die dichterischen Vorträge,
welche die zweite Hälfte der Gastmähler, der Symposien,
belebten. Hier war die eigentliche Stätte der griechischen Elegie,
welche die engen Grenzen des Klageliedes bereits überschritten und sich
zu einer vielumfassenden Gattung ausgebreitet hatte. Die Griechen
bestimmten die Gattungen der Dichtung nach der metrischen Form, welche
mit dem Jnhalte zu einem plastischen Gusse verschmolz. So bedeutete
das Wort Elegeion bei ihnen eine metrische Gestaltung, die Verbindung
des Hexameters und des Pentameters, und Elegie war ihnen ein
in dieser metrischen Form abgefaßtes Gedicht. Der Charakter des
Distichons, in welchem der epische Hexameter, der beflügelt in's Weite
strebt, im Pentameter zur Rückkehr, zur Einkehr in sich selbst eingeladen
wird, gab allen diesen Gedichten einen reflektirenden Zug, und man
darf mit Recht behaupten, daß die ganze Reflexionspoesie der Hellenen
der elegischen Gattung angehört! Wie mannichfach war der Jnhalt der
griechischen Elegie! Kriegerisch und politisch bei Kallinos und
Tyrtäos, zwischen Politik und Liebe schwankend bei Mimnermos,
zwischen Politik und Philosophie bei Solon und Theognis, behielt sie
in einzelnen Dichtungen des Archilochos und Simonides ihren
ursprünglichen nänienartigen Charakter in der Trauer um die Todten
bei, während sie in andern sich im Lobe des Weines und der Hetären
erging und ein heiteres Behagen zu erwecken suchte, ja hinundwieder,
wie in den Versen des jonischen Sängers Asios, selbst einen humoristischen,
die epische Würde parodirenden Charakter annahm. Die Fülle der
von den griechischen Elegikern angeschlagenen Töne ist so mannichfach,
daß man fast das einheitliche Band zu vermissen glaubt, wenn es nicht
eben in jener durch das Versmaaß bestimmten reflektirenden Dichtweise

*)
Ottfried Müller, Geschichte der griechischen Literatur, zweite Ausgabe.
Bd. I. p. 187 u. folgde.
|#f0326 : 304|

gegeben wäre. Jn Rom, wo der Nationalcharakter diese Richtung des
Gemüthes begünstigte, hat die Elegie von allen Dichtarten die größte
Vollkommenheit erreicht. Auch hier zog sie eine Fülle von Empfindungen
und Gegenständen in ihren Kreis, obwohl das erotische Element vorwiegt.
Auch trat hier ihr Grundcharakter, das Hin- und Herwogen der
Gefühle, die an einer Reihe von Bildern hinundhergehende Reflexion,
noch entschiedener und kunstmäßiger als bei den Griechen hervor.


Der Blick auf die antike Elegie zeigt hinlänglich, mit welchem
Unrecht sich diejenigen auf die Alten berufen, welche den Begriff der
Elegie in der gewohnten engen Weise beschränken.


Doch nachdem wir die Einseitigkeit dieser Begriffsbestimmungen nachgewiesen,
wird uns der tiefere Zusammenhang zwischen der elegischen Dichtung
in unserer weiten Auffassung und der Urbedeutung des Wortes nicht
entgehn. Die Stimmung des reflektirenden Dichters, ja das Wesen der
dichterischen Reflexion selbst wird stets einen elegischen Zug behalten, der
als ein weiches Element der Stimmung solchen Dichtungen zu Grunde
liegt. Die Reflexion dringt nicht in die Tiefe der Dinge ein; sie geht
nur zwischen ihren Beziehungen hinundher. So bleibt ihr, bei allem
Wechsel der Anschauung und Empfindung, eine Unbefriedigung zurück,
die sich selbst in der Freude als stille Wehmuth niederschlägt, den kriegerischen
Akkorden das düstere Vorgefühl des Todes beimischt, einem für
den Aufschwung des Staates und der Nation begeisterten Gemüth bei
aller vorwärts drängenden Begeisterung doch die Klage über die verkommene
Gegenwart einhaucht und über den wechselnden Situationen der
Liebe gerade durch das Bewußtsein dieses Wechsels einen wehmüthigen
Schleier legt. Die Vergänglichkeit alles Jrdischen ist der durchklingende
Grundton aller Reflexionen. Es genügt, wenn dieser Ton nur hier und
dort aus der Elegie heraustönt, ja wenn er nur wie ein leisezitternder
Hauch darüber schwebt, nur von dem feineren Gefühl empfunden wird.
Er kann auch gleichsam nur ein ausweichender Ton, eine harmonisch
wieder aufgelöste Dissonanz sein; der Dichter kann von ihm ausgehn,
ohne zu ihm zurückzukehren. Jn der That finden wir bei den großen
Reflexionspoeten aller Zeiten diesen elegischen Zug, diese Grundstimmung,
aus welcher die ganze Dichtgattung hervorgegangen. Wie tönt die
Trauer um den Verfall des Vaterlandes schon aus den Elegieen des |#f0327 : 305|

Theognis! Welch' wehmüthiger Rückblick auf die Tapferkeit der alten
Smyrnäer, welche reizende, aber gerade durch die Ahnungen der Vergänglichkeit
anmuthig gefärbte Feier der Jugend und Schönheit findet
sich in den Elegieen des Mimnermos! Tibull geht in einer seiner
kunstvollsten Dichtungen von den Schrecken des Krieges aus und mischt
so in die Schlußfeier des Friedens einen elegischen Hauch*).


Wer zuerst zu Tage gebracht die schrecklichen Schwerter,
Wild im Busen führwahr schlug ihm ein eisernes Herz.
Da begann den Menschen der Mord und die Schlachten begannen,
Und ein kürzerer Weg wurde geöffnet dem Tod.


Wie mischt sich im Liebesroman seiner Delia mit aller Freude über
verbotenen Genuß die leise Klage darüber, daß der volle gesicherte Besitz
der Geliebten ihm fehlt. Wie wandelt sich selbst bei dem kühneren Properz
die glückliche Liebe in eine unglückliche um! Wir erinnern nicht
an Petrarca's Sonette, an viele Kanzonen der Troubadours ─ die
ganze reiche Gedankenpoesie der Neuzeit verleugnet jenen Grundzug der
Stimmung nicht. Die römischen Elegieen Goethe's sind dem Tibull und
Properz nachgedichtet und erhalten dadurch ihren Reiz, daß die Liebe des
Dichters, selbst vergänglich und flüchtig, unter den Trümmern einer
großen Vergangenheit dahingaukelt. Jn den „Göttern Griechenlands“
von Schiller, den „Jdealen“ und ähnlichen Gedichten unseres größten
Reflexionspoeten läßt die Sehnsucht nach einer versunkenen Phantasiewelt
oder nach der innigen Vermählung des Gedankens und der Wirklichkeit
den Schmerz der nüchternen Gegenwart um so tiefer empfinden.
Jm „Schutt“ von Anastasius Grün rankt sich die Wehmuth des Dichters
noch um die alten Thürme und Klöster; das europäische Mittelalter singt
sein Schwanenlied; aber in seine Ruinen weht der frische Hauch über den
Ocean herüber aus der neuen Welt! Nikolaus Lenau klagt um das
verlorene Paradies des Glaubens oder um verlorenes Liebesglück;
Alfred Meißner in seinen „Trümmern“ um das Weh der Armen,
der Enterbten, der ganzen Menschheit! So ist der Grundzug der
Reflexionspoeten allerdings durch die Vergänglichkeit des Jrdischen
bestimmt. Die Stimmung des elegischen Dichters ist ein den Erscheinungen

*)
lib. I. 3. nach Gruppe.
|#f0328 : 306|

hingegebener Sinn, der gleichsam mit ihnen ebbt und fluthet,
von Empfindung zu Empfindung, von Bild zu Bild hinläuft, aber bei
seiner Rückkehr aus der Fülle der Welt und ihres wechselnden Spiels in
das eigene Gemüth kaum eine andere Ausbeute mitbringt, als die Einsicht
in die rasche Flucht der Erscheinungen, die wie ein melancholischer Duft
dann über allen Bildern zittert, die er entrollt. Der Jnhalt der
Elegie kann so mannichfaltig sein, wie die Erscheinungswelt, wenn er sich
auf jene Grundfärbung der Seele auftragen läßt. Wir erwähnten
bereits die kriegerischen und sympotischen Elegieen der Griechen, die
erotischen der Römer. Die Sirventes der Provençalen, viele Elegieen
Paul Flemming's haben einen politischen Zug. Liebe und Freundschaft,
Staat und Krieg, das religiöse Gefühl (Lamartine, Lenau), die Weltgeschichte
(Schlegel, Schefer), der ringende Gedanke (Schiller, Byron), die
gesellschaftlichen Zustände und die Menschheit (Grün, Meißner, Sallet, Beck)
geben eine weitreichende Skala der Stoffe für den elegisch reflektirenden
Grundton. Die Todtenklage im engern Sinn ist natürlich nicht ausgeschlossen
─ nur darf sie in der Form nicht so kurzathmig sein, wie meistens
bei Salis und Hölty, ─ denn dadurch geht sie in die Gattung des
„Liedes“ über ─ sondern muß mit sinniger Reflexion, wie in den „Kanzonen“
von Zedlitz, ihre Todtenkränze auf die Gräber legen.


Jn der Komposition unterscheidet sich die Elegie wesentlich von
der engen und innigen Einheit des Liedes und von den skizzenhaften
Sprüngen der Ode. Sie führt uns eine zusammenhängende Kette von
Bildern und Empfindungen vor, gestattet dem Dichter eine freie Umschau
über Welt und Leben, selbst die Schaustellung einer vielfach vermittelten
Bildung; sie führt mit Behagen eine Fülle von Variationen über das
ursprüngliche Thema aus. Doch dürfen die Uebergänge von einer zur
andern nicht so schroff und gewagt sein, wie die Sprünge der Ode, sondern
leicht, fließend und natürlich. Je mehr sich mit dieser Natürlichkeit
ein kunstvoller Fugengang vereinigt, je überraschender bei aller Klarheit
die Rückkehr von scheinbaren Abweichungen zum Grundton, ihr Hinüberführen
in denselben ist, je glücklicher die Elegie Anfang und Schluß
harmonisch zu verweben weiß: desto kunstvoller wird die Gliederung
ihres ganzen Organismus, desto gefälliger der Eindruck sein, den
sie hervorbringt. Auch der Elegiker geht von einer bestimmten Situa= |#f0329 : 307|

tion aus, mag dies nun eine Lage des Gemüthes oder ein Verhältniß
der äußern Welt sein, wie in den Delia-Elegieen des Tibull sein Kriegszug,
seine Erkrankung, die Studienreise des Properz nach Athen,
Schiller's „Spaziergang,“ Meißner's Wanderung in's Gebirg nach
einer „Zeit der Schmerzen;“ aber es handelt sich in der Elegie nicht, wie
im Liede, darum, diese eine Situation in einem einzigen Akkord der
Stimmung aufgehn zu lassen, sondern sie ist nur der Ausgangspunkt für
eine Reihe anderer, welche sich ungezwungen an sie anschließen. Deshalb
läßt sich auch für die äußerliche Ausdehnung der Elegie keine Grenze
ziehn; die römischen Musterelegieen des Tibull, Properz und Ovid bilden
sogar meistens einen größeren Cyklus, in dessen umfassende Gliederung
sich die einzelnen Elegieen kunstmäßig einreihn. Aehnliche umfangreiche
Elegieen der Neuzeit sind z. B. die Todtenkränze von Zedlitz und
der Schutt von Anastasius Grün.


Zur Erläuterung der elegischen Komposition wählen wir zwei Muster
aus der alten und neuen Zeit. Die dritte Elegie des ersten Buches von
Tibull:


Ohne mich, Messala, durchschifft ihr ägäische Meerfluth,
Bliebet ihr meiner doch du und die Deinen gedenk!


wird von Otto Gruppe, der sich um die sinnvolle Anordnung und kritische
Sichtung der römischen Elegiker große Verdienste erworben, in
folgender Weise erläutert*): „Hier ist kein einfacher Fortgang, sondern in
reichem Wechsel geht der Gedanke von Scene zu Scene. Eine wirkliche
Situation liegt zu Grunde: der Dichter erkrankte unterwegs, als er
Messala nach Aegypten begleiten wollte, und mußte auf der Jnsel Korcyra
zurückbleiben. Dies setzen die ersten Verse sogleich in's Licht, wo er
bedauert, dem Messala nicht folgen zu können, und den Tod noch um
Schonung bittet. Der sehr naheliegende Gedanke, daß ihm hier die
Mutter, die Schwester und Delia zur Bestattung fehle, führt sogleich auf
das elegische Gebiet, und die Bilder des Abschiedes von Rom und der
gesuchten Zögerung treten mit großer Lebendigkeit entgegen. Ein ferneres
Tableau giebt der mit leichten Zügen hingestellte Jsisdienst der Delia
und die Schilderung, wie die Geliebte der Göttin die Herstellung des

*)
Die römische Elegie Bd. I. p. 11.
|#f0330 : 308|

Dichters danken soll: überall blickt hier die innigste Liebe wie ein reiner
Goldgrund durch die brillanten Farben des Gemäldes durch. Der
einfache Wunsch der Heimkehr giebt den schnellen Uebergang zur Ausbreitung
jener idyllischen Gemälde, welche Tibull fast in keiner seiner Elegieen
fehlen läßt: das Gedicht gewinnt hier einen Ruhepunkt. Sogleich aber
wird es wieder durchschnitten, und von Vers zu Vers ändert sich überraschend
Sinn und Stimmung. Der Dichter kehrt durch kunstreiche
Wendungen auf seinen Tod zurück und setzt seinem Grabe eine Jnschrift.
Er hofft auf ein gutes Schicksal in der Unterwelt: hier nimmt das
Gedicht wieder einen sanften, verweilenden Charakter an. Aber es
erwartet uns ein neuer wirksamer Gegensatz, die Schilderung von dem
Sitze der Verdammten, welcher eine schöne Ausführung gegeben ist. Und
doch ist dies nur eine Folie zu dem, was folgt, es dient die reizenden
Scenen durch den Kontrast zu heben. Der Dichter verwünscht Alle,
welche seiner Liebe entgegen sind, an den Ort der Strafen und ist so
zugleich mit schnellem Gedankenfluge wieder bei seiner Delia. Nun wird
ihre Keuschheit in dem ausgesuchtesten Bilde gemalt, wie die Alte, die
Hüterin ihrer Tugend, neben ihr sitzt und ihr Märchen bei'm Schimmer
des Lämpchens erzählt. Die spinnende Magd vollendet das Bild bürgerlicher
und idyllischer Häuslichkeit; sie schläft über der Erzählung der
Märchen ein. Aber so schön dies ist, so ist es doch auch nur die Vorbereitung
für das Schönere, das folgt. Unangemeldet von jener Magd,
zur Ueberraschung seiner Delia und nicht minder des Lesers stellt der
Dichter sich jetzt vor, wie er plötzlich eintritt, wie Delia, die sich's häuslich
bequem gemacht unter ihren Frauen, mit gelöstem Haare und nacktem
Fuße ihm in die Arme läuft. Der Wunsch, daß dies wahr werde, macht
den einfachen Schluß aus. Das Gedicht kehrt hiermit vortrefflich zum
Anfange zurück, wo die Trennung von dem Geliebten so rührend geschildert
worden.“ Von der neueren Reflexionslyrik verdient vorzugsweise
der „Schutt“ von Anastasius Grün wegen seiner großartigen Komposition
Beachtung. Das Gedicht tritt freilich aus dem subjektiven Rahmen
heraus; es schließt sich nicht an ein inneres oder äußeres Erlebniß des
Dichters an. Die Bilder, die es uns vorführt, sind scheinbar losgelöst
von der persönlichen Stimmung des Poeten und mit dem Geschick anderer
erfundener Persönlichkeiten verwebt. Doch das Auge des Dichters schaut |#f0331 : 309|

aus ihnen heraus; es ist nur eine rasche und flüchtige Metamorphose,
welche die Lebhaftigkeit der Betrachtung und Schilderung erhöht. Jm
„Schutt“ von Grün ist es der Dichter selbst, der aus dem venetianischen
Kerker den Blick auf das freie Meer wendet, sich in die Geheimnisse des
Klosters vertieft und von Pompeji's und Herkulanums Trümmern nach
dem freien Nordamerika hinüberschaut und mit visionairer Begeisterung
die Weltgeschichte in ihren großen Krisen und ihrer versöhnungsreichen
Zukunft erfaßt. Jn der ersten Elegie: „der Thurm am Strande
sehen wir einen gefangenen venetianischen Freiheitsdichter. Die elegische
Poesie des Kerkerlebens mit seiner Sehnsucht in's Freie, die durch die
arme Umgebung zu phantasievoller Ausmalung des Kleinsten angeregte
Phantasie bietet, ähnlich wie in Saintine's „Picciola“ und Byron's
„prisoner of Chillon,“ eine Fülle anziehender Bilder und Empfindungen.
Zuletzt wird der Gefangene freigelassen, aber als er im Spiegel
einer Quelle sein ergrautes Haupt, sein von der langen Knechtschaft
durchfurchtes Antlitz sieht, da kehrt er freiwillig in seine Haft zurück. Die
zweite Elegie: „eine Fensterscheibe“ führt uns in das Klosterleben,
in den Beichtstuhl des Priesters, läßt manche Gestalten, denen die Ascese
einen eigenthümlichen Stempel aufgedrückt, an uns vorüberwandeln und
zuletzt zur mitternächtigen Stunde die Mönche aus ihren Särgen steigen
und den Erbauer des Klosters selbst einen Klagehymnus über die Gegenwart
anstimmen, welche die Zier der stolzen Säulen gebrochen hat. Die
dritte Elegie: „Cincinnatus“ führt uns an Bord eines Schiffes,
welches nahe bei Pompeji im Golf von Neapel ankert, und verlegt die
Betrachtungen des Dichters in die Seele eines freien Nordamerikaners,
der sich am Bord dieses Schiffes befindet. Die Situation ist außerordentlich
glücklich gewählt, um der Phantasie einen ungezwungenen Flug aus
der alten in die neue Welt zu gestatten. Das trümmerreiche Jtalien mit
seinen verschütteten Städten, mit seinem in Genuß und Müßiggang versunkenen
Volke, wo die Weltgeschichte ihre Rolle ausgespielt zu haben
scheint, wird auf's Wirksamste kontrastirt mit dem jugendlich aufstrebenden
Lande der Freiheit, der ursprünglichen Natur, des frischen Pflanzerlebens,
wohin der Dichter alle diejenigen einladet, denen das Vaterland durch
Pfaffenwuth, durch Ketten jeder Art verleidet ist. Die vierte Elegie:
Fünf Ostern“ zeigt uns große weltgeschichtliche Fresken im Kaulbachschen |#f0332 : 310|

Styl, anknüpfend an die Sage, daß Christus jährlich zu Ostern vom
Oelberge herab auf die Stätte seines Wirkens schaue. Am ersten Ostern
erblickt er das von Titus zerstörte, am zweiten das von den Kreuzfahrern
eroberte Jerusalem; am dritten ist es in der Gewalt der Beduinen, nur
besucht von dem einsamen olivenfarbenen Wanderer, dem Juden; am
vierten wird es von streitsüchtigen Mönchen bewacht unter der Herrschaft
der Janitscharen. Einer von ihnen, höheren Sinns, hängt andächtig an
Zions Zinnen, voll Sehnsucht, daß das Kreuz wieder auf ihnen erglänze,
und grüßt als nahenden Befreier den großen Feldherrn Napoleon, der
Gottfried's Söhne an diese Küste geführt. Doch seine Hoffnung wird
nicht erfüllt. Das fünfte Ostern erscheint in ahnungsvoller Beleuchtung;
eine Vision enthüllt uns die Zukunft. Alles ist Glanz, Fülle, Wonne;
Saaten wogen auf altem Schutt; Rosen blühen über Golgatha. Ein
glückliches Volk wohnt hier, ernst und heiter, wie die Gestirne, schön wie
Rosen, stark wie Cedern; Krieg, Knechtschaft, Lug ist vergessen. Schwert
und Kreuz werden aufgefunden, doch von Niemandem mehr erkannt.


Dieser ganze kunstvolle Cyklus von Elegieen spiegelt, trotz der Verschiedenheit
der Situationen und des Reichthums der wechselnden Scenen,
einen Grundgedanken, der sich in jeder Elegie in anderem Farbenspiele
bricht. Dieser Gedanke ist nicht philosophisch klar und läßt sich in keine
bestimmte Formel fassen; er gehört jenem träumerischen Gebiete der
Reflexion an, welche, aus der Stimmung des Dichters herausgeboren,
über eine Fülle von Bildern den eigenthümlichen Hauch dieser Stimmung
ausgießt. Die Grundstimmung des Dichters aber ist die Wehmuth über
die Trümmer der Weltgeschichte, über das verfallende Europa, und die
Sehnsucht aus diesen alternden Zuständen, aus diesem „Schutt“ heraus
in eine freie und jugendfrische Welt, deren harmonische Versöhnung, deren
volle, der ganzen Welt aufgehende Glorie in den Schlußakkorden des
fünften Ostern gefeiert wird. Alle Gestalten der Geschichte hat der
Dichter gleichsam in ein elegisches Pantheon versammelt, das verschüttete
Alterthum, das versinkende Mittelalter, Kerker und Klöster, den
Mönch und den Juden läßt er in seiner magischen Laterne vorübergleiten,
und gerade die rasche Flucht der Erscheinung, die besonders in den
fünf Ostern einen schattenhaften Eindruck macht, dient dazu, die Vergänglichkeit
des Jrdischen um so lebhafter dem Gemüthe vorzuführen. |#f0333 : 311|

So schweift die Reflexion von Bild zu Bild, ja sie weicht scheinbar in
in kühnen Fugen aus, aber wir werden immer zum Grundton zurückgeleitet.
So können wir, trotz der weiten Ausdehnung des modernen
Elegieencyklus, trotz der großen Verschiedenheit des Stoffes und der Weltanschauung,
deren Bereicherung und Erweiterung zu verkennen nur einer
einseitigen Bildung vorbehalten bleibt, in der Rhythmik der Komposition,
ihrem farbenreichen Scenenwechsel, ihrem hinundherwogenden Gange
die Aehnlichkeit zwischen der antiken und modernen Elegie nicht vermissen.


Die Mischung, die schon im antiken Distichon, in der Vereinigung des
Hexameters und Pentameters angedeutet ist, die Mischung von Beschreibung
und Betrachtung bildet das eigentliche Wesen der Elegie,
das sich in ihrer Totalität ebenso ausprägt, wie in jedem einzelnen Bilde.
Soll diese Mischung einen gesunden und erfrischenden Eindruck machen:
so darf keines ihrer Elemente überwiegen. Jm Allgemeinen freilich scheint
das erstere mehr dem Alterthum, das zweite mehr der Neuzeit eigen zu
sein; aber schon die gnomischen Elegieen der Griechen zeigen, daß auch
hier die Betrachtung bis zur Sprengung der abgeschlossenen Kunstgattung
und zum Uebergang in das Lehrhafte überwog. Ein Ueberrest der Beschreibung
dagegen würde ebenfalls aus der elegischen Gattung herausfallen.
Beide müssen überdies sich nicht von der höheren Einheit emancipiren
wollen: von der lyrischen Grundstimmung des Dichters. Ein sehr
harmonisches Verhältniß zwischen beiden zeigt uns z. B. der Schiller'sche
Spaziergang, ebenso „das Lied von der Glocke,“ in welchem
letzteren Gedicht die Beschreibung doppelter Art ist, zunächst an das
Technische des Glockengusses anknüpft und dann erst die Zustände des
bürgerlichen Lebens schildert, welche dem Dichter in ungezwungenster
Weise kurze, aber bedeutsame Reflexionen an die Hand geben.


Was die Ausdrucksweise der Elegie betrifft, so ist man noch
immer mit Horaz und Gottsched geneigt, von derselben die größte Einfachheit
zu verlangen. Eher trifft schon Boileau das Richtige, wenn er
von der Elegie einen gehobenern Ton, als von der Jdylle verlangt,
dabei aber die Kühnheit ausschließt*). Die Kühnheit der Ode paßt

*)
Art poétique de Despréaux II. 38 u. folg. D'un ton un peu plus haut, mais
pourtant sans audace.
|#f0334 : 312|

in der That nicht für die Elegie; aber sie darf schwunghafter auftreten,
als das Epos und das Lied. Vom Epos, von dem sie bei den Alten ja
den Hexameter überkommen, überkam sie auch das Recht, ihre Bilder
mit verweilender Schilderung auszumalen; vom Liede aber darf sie den
musikalischen Schmelz für die Darstellung der Beschauung und Empfindung
in Anspruch nehmen. Schon Tyrtäos malt seine Kriegsbilder mit
Homerischer Klarheit:


Dulde denn wohl ausschreitend ein Jeglicher, beide die Füße
Festaufstemmend im Grund, Zähn' in die Lippen gedrückt,
Hüften sodann und die Schenkel hinab und die Brust und die Schultern
Hinter des räumigen Schilds Bauche nach Wunsche gedeckt;
Und in der Rechten erheb' er zum Schwung den erdröhnenden Schlachtspeer
Und graunregend daher wehe vom Haupte sein Busch*).


und singt dann erst mit weichtönendem Klang der Gefallenen Ruhm, die
Klagen des Volkes, die Ehre der Sieger. Wie lebendig schildert Tibull
das Jagdleben, in welches die Leidenschaft der glühenden Sulpicia die
Freuden der Liebe hineinzaubern möchte! Wie episch wird von diesem
Dichter die Schönheit dieser Sulpicia durch den Reichthum des Schmuckes
illustrirt, bei dessen Schilderung der Dichter behaglich in fernen Zonen
verweilt:


Sie allein nur ist werth von allen Mädchen, daß Tyrus
Bringt weich wollenes Vließ, doppelt in Purpur getränkt,
Sie besitze die duftige Saat, die der Araber ferne
Jhrem Dienste geweiht pflegt auf den würzigen Au'n,
Und das Edelgestein, das der schwarze Jnder, der Sonne
Nachbar, liest an des Meers rothem Korallengestad.**)


Solche Ausmalungen entsprechen nicht der „niedrigen“ Schreibart,
welche man von der „kleinen“ Elegie verlangt. Wenn dies schon von der
antiken Elegie gilt, so noch mehr von der modernen Gedankenpoesie.
Das Kolorit der Schilderung kann so glänzend sein, wie es die Phantasie
des Dichters nur zu geben vermag; Empfindung und Beschauung so
tief und innig, wie es einer reichen Begabung nur immer zu Gebote steht.
Die gleichmäßige Wärme Schiller'scher Jdealität, die wohl schwunghaft

*)
Weber, die elegischen Dichter der Hellenen. I. p. 18.
**)
Tibull, Eleg. IV., I. 15; nach Gruppe: die röm. Elegie. I. p. 39.
|#f0335 : 313|

ist, aber in einem harmonischen Fluß und Guß bleibt, ohne zu den kühnen
abgerissenen Wendungen und Sätzen der Ode zu greifen, bleibt für die
ganze Gattung mustergültig. Ein allzureicher Bilderschmuck, wie wir
ihn bei Grün, Lenau und Beck finden, mag überhaupt hin und wieder
gegen den geläuterten Geschmack verstoßen; aber in unserer Gattung
nicht mehr, als in jeder andern. Jn Bezug auf die geeignete metrische
Form
haben wir schon bemerkt, daß die Elegie der Alten einem bestimmten
Versmaaß ihren Namen verdankt. Dies Versmaaß, das Distichon,
stellt zugleich an sich selbst die Emancipation der Lyrik von der Epik dar,
indem hier zuerst der stolze, epische Sechsfüßler, eines Fußes beraubt, in
der fünffüßigen Zeile gleichsam wehmüthig erlischt. Gleichzeitig sehn wir
im Distichon die erste noch schüchterne Form strophischer Bildung.
Die ganze klassische Elegie und ihre Nachdichtungen, Goethe's „römische
Elegieen“ und Schiller's „Spaziergang“ sind in diesem Versmaaß gedichtet,
das in der That für die Vereinigung von Schilderung und Reflexion
mustergültig erscheint. Der Genius der deutschen Sprache aber verlangt
zum vollen lyrischen Ausdruck den Reim ─ und deshalb möchten wir
den Dichtern der Gegenwart das Distichon nicht empfehlen. Gerade
durch den Reim und die Strophenbildung, die von seinen Verschlingungen
abhängig ist, sind der modernen Lyrik andere Mittel geboten, die
Rückkehr des sinnenden Gemüthes in sich selbst auch in der äußeren Dichtform
abzuspiegeln. Es kommt nur darauf an, das Charakteristische der
elegischen Versform, das Horaz sehr treffend bezeichnet, wenn er von
„versibus impariter iunctis“ spricht, auch in der modernen Versbildung
auszudrücken. Dies hatte schon der Altmeister unserer neuen
Poesie, Martin Opitz, eingesehn und deshalb statt der langen zwölf=
und dreizehnsylbigen Verse mit ungetrennten Reimen, welche noch der
alte französische Elegiker E. Desportes und nach ihm die französische
Elegie überhaupt angewendet, seine Elegieen in Alexandrinern mit weiblicher
und männlicher Endung und getrennten Reimen geschrieben und
auch in dieser Form die siebzehnte Elegie des ersten Buches von
Properz übersetzt:


Auf dieser wüsten Stätt', in dieser stillen Heide,
Da Niemand innen wohnt, als nur der Westenwind,
Da kann ich ungescheut genug thun meinem Leide,
Wo auch die Steine nur still und verschwiegen sind.
|#f0336 : 314|


Flemming, Dach, Tscherning folgten seinem Beispiele, und
Emanuel Geibel bewies in seinem Gedicht: „Welt und Einsamkeit,
daß die moderne Reflexions-Lyrik auch den Alexandriner in dieser
Weise wohl verwenden kann:


O rühmet immerhin mir eure lauten Feste,
Zu denen man geschmückt mit prächt'gen Rappen fährt;
Wo stetes Lächeln kränzt die Stirnen aller Gäste,
Als sei der Tod nicht mehr und jedes Leid verklärt,
Wo Scherz und Lüsternheit sich ineinander ranken,
So wie der üpp'ge Mohn dem Korn sich lodernd mischt;
Wo Alles blitzt und sprüht, Demanten und Gedanken,
Als gält's ein Feuerwerk, das vor bezahlten Schranken
Vielfarbig auf in's Dunkel zischt.


Die kunstvollere Gliederung der Strophe, die gegen den Schluß hin
im dreifachen weiblichen Reime voller austönt, um dann im vierfüßigen
Jambus zu erlöschen, giebt zugleich ein Beispiel, welche mannichfachen
Variationen strophischer Bildung der Alexandriner verträgt, und wie
dieser von Freiligrath bereits zu kühneren und abwechselnden Sprüngen
dressirte Vers ein gefügiger Träger der modernen Reflexion werden kann.


Die aus dem Orient überkommenen Strophen, wie z. B. die
Ghaselen, sind zu kindlich und monoton und zwingen den Gedanken
unwillkürlich zu rasch wiederkehrenden Parallelismen, so daß sie sich
wohl zum Aufreihen einer didaktischen Perlenschnur eignen, aber den
freieren Flug der Schilderung und sinnigen Betrachtung lähmen. Anders
verhält es sich mit der melodischen Architektonik der italienischen Strophenformen,
des Sonettes und der Kanzone. Als Beispiele, wie vortrefflich
die moderne Gedankenlyrik diese romanischen Formen verwenden kann,
erwähnen wir Platen's Sonette auf „Venedig“ und Max Waldau's
Kanzone: „O diese Zeit.“ Jn beiden ist nicht nur die Form meisterhaft
gehandhabt, sondern auch der Ausdruck elegischer Reflexion in mustergültiger
Weise getroffen. Dennoch können wir diese italienischen Strophenformen
für größere Cyklen nicht unbedingt empfehlen, da sie auf die
Länge durch ihre üppige Reimfülle ermüden. Der fünffüßige Jambus,
in freier Reimverschlingung oder strophisch geschult, wie ihn Schiller in
den „Göttern Griechenlands,“ Grün im „Schutt,“ Lenau in „Glauben,
Wissen, Handeln“ sogar mit daktylischer Unterbrechung, Leopold Schefer |#f0337 : 315|

im „Abschied von Griechenland“ angewendet, oder auch der fünffüßige
Trochäus, den z. B. Matthisson in seiner bekannten Elegie auf den
Trümmern eines alten Bergschlosses gebraucht, bieten sich von selbst dem
modernen Elegiker dar, wenn sie auch erst durch eine kunstvolle Behandlung,
welche dem Wellenschlag reflektirender Empfindung in der Reimpaarung
und Strophenbildung gerecht wird, die Wahl des Poeten rechtfertigen.



Die Gattungen der Elegie und ihre Hauptvertreter erfordern zu
übersichtlicher Darstellung einen kurzen historischen Ueberblick.


1. Die klassische Elegie*).


Die griechische Elegie entwickelte sich aus dem Epos und bildet die
Uebergangsstufe zwischen Epos und Lyrik. Leider sind uns von ihren
Meisterwerken nur Bruchstücke übrig geblieben. Der älteste Elegiker,
Kallinos von Ephesos, ist ein jonischer Herwegh, der die Jünglinge
seines Vaterlandes in unmittelbarer begeisterter Ansprache aus weichlicher
Erschlaffung zur That emporruft. Auch Archilochos von Paros, bekannt
durch seine beißenden und schmähenden Jamben und von manchen alten
Autoren in Bezug auf dichterische Begabung dem Homer an die Seite
gestellt, dichtete politisch=kriegerische Elegieen, daneben Klage- und Trostgedichte,
z. B. auf den Tod des im Schiffbruch umgekommenen Gatten
seiner Schwester. Am vollsten und kräftigsten griff Tyrtäos in die
Saiten, Sparta's Körner im messenischen Kriege, mit lyrischem Aufschwung
und plastischer Kraft den Tod für's Vaterland feiernd. Auch
ein im engern Sinne politisches Gedicht, die Eunomia (Gesetzlichkeit),
mit unmittelbarer Beziehung auf Staatsverhältnisse und innere Unruhen
und mit der Tendenz die Gemüther zu beschwichtigen, hat er verfaßt.
So beginnt die griechische Lyrik geradezu als politische, als eine
Gattung, welche nach der Ansicht einiger literarischen Autoritäten der

*)
W. Hertzberg, der Begriff der antiken Elegie in seiner historischen Entwickelung
im Literarhistorischen Taschenbuch von Prutz, dritter Jahrgang
S. 205─399; Wilhelm Ernst Weber, die elegischen Dichter der Hellenen 2 Bde.;
Otto Gruppe, die römische Elegie, 2 Bde.; Ottfried Müller, Geschichte der
griechischen Literatur Bd. I. p. 184─228; Bähr, Geschichte der römischen Literatur
3. Aufl. Bd. I. p. 429─461.
|#f0338 : 316|

Neuzeit ganz aus der Poesie herausfallen soll. Den Uebergang zur
erotischen Elegie macht der Kolophonier Mimnermos, der seine geliebte
Flötenspielerin Nanno in wehmüthigen Versen besingt und in seine Elegieen,
die mit Vorliebe bei der Vergänglichkeit der Jugend und Schönheit
verweilen, manchen historischen und politischen Stoff verwebt, der aber
mehr im träumerischen Lichte der Vergangenheit, ohne unmittelbaren Bezug
auf die Gegenwart dargestellt wird. Bei Solon, bei dem geistvollen
Philosophen Xenokrates, welcher bereits den Muth besaß, Weisheit
höher zu stellen, als den bei olympischen Spielen errungenen Ruhm, und
bei Theognis von Megara, der die zerrütteten Zustände der Vaterstadt,
die Herrschaft des Volkes beklagt, seinem Hasse gegen die emporgekommene
Geldaristokratie einen beredten Ausdruck giebt, das Thema
von Reichthum und Armuth auf das Mannichfachste variirt, nimmt die
Elegie einen gnomischen Charakter an, der zum Theil aus der Poesie
herausfällt. Nur in einzelnen an Kyrnos gerichteten Distichen des
Theognis läßt sich ein darüberschwebender poetischer Hauch nicht verkennen.
Tiefe der Empfindung findet sich wieder bei dem Simonides
von Keos, dem Zeitgenossen der Perserkriege, bei welchem der klagende
und trauernde Charakter der Elegie, wie z. B. in seinem Grabgesang auf
die zu Marathon Gefallenen, mehr als bei allen andern Elegikern hervortritt.
Zur Zeit des peloponnesischen Krieges blühten Jon der
Chier, Dionysios
aus Athen, Euenos von Paros, der Terrorist
Kritias von Athen, Sänger des heitern Lebensgenusses, hin und wieder
mit politischem Anflug, Antimachos von Kolophon, ein einsamer
Lyriker, ohne Anklang bei seiner Zeit, der in elegischer Todtenfeier um
seine frühverstorbene Lyde klagte. Wenn schon der letztere seine Liebesklagen
mit zahlreichen mythologischen Bildern illustrirte, so überwuchert
die Gelehrtenpoesie bei den späteren alexandrinischen Elegikern, wo der
Ton der Empfindung gänzlich im mythologischen Aufwand erstickte.
Schon der Zeitgenosse Alexander's, Hermesianax von Kolophon,
besang seine gelehrte Leontion in sehr gelehrten Distichen, deren erhaltenes
Fragment uns einen gereimten Abriß griechischer Literaturgeschichte
giebt. Kallimachos von Kyrene, ein alexandrinischer Akademiker,
der gepriesenste dieser Richtung, verherrlichte das Haar der Berenice
in einer pomphaften Hofelegie, die mit Schmeicheleien für die Ptolemäer |#f0339 : 317|

ebenso durchwirkt ist, wie mit astronomischen und sonstigen gelehrten
Anspielungen; Philon und Andromachos von Kreta brachten
gar Recepte in Distichen, so daß die Elegie bei ihnen einen pharmaceutischen
Charakter annahm.


Dennoch entzündete sich an einigen Lyrikern Alexandrien's, wie z. B.
an Kallimachos, dessen Elegie auf das Haar der Berenice von Catull
übersetzt worden, die Begeisterung der römischen Dichter, welche uns die
römische Elegie schuf, die unter den Dichtversuchen der Römer gewiß den
ersten Rang einnimmt. Die Trias der großen römischen Elegiker,
Tibull, Properz, Ovid, überragt sogar die hellenischen, soweit wir
die letzteren aus den erhaltenen Fragmenten beurtheilen können. Jedoch
haben die Römer nicht die politische und heroische, sondern nur die
erotische und reflektirende Elegie angebaut, wenn auch das großartige
Bewußtsein nationaler Bedeutung und Macht oft in schwunghaften
Klängen aus ihren engverketteten Distichen tönt. Der einfachste dieser
Elegiker ist Albius Tibullus, der ohne prunkende Gelehrsamkeit frisch
aus dem nationalen Leben schöpfte und sich durch kunstvolle Verwebung
scheinbar fernliegender Bilder zu einem harmonischen Ganzen, durch
Lebendigkeit und Anmuth der Schilderung, durch Natürlichkeit einer
weichen, oft schmachtenden Empfindung, die unmittelbar aus der Seele
kommt, so wie durch die Reinheit und Klarheit des sprachlichen Ausdruckes
auszeichnet. Anmuthig gezeichnete Bilder des Landlebens schweifen
als gern wiederholte Arabesken beruhigend um die hin und her
wogende Elegie. Die dramatisch bewegte Sulpicia-Elegie mit ihrer
leidenschaftlichen Gluth und der spannende, durch wechselndes Geschick sich
entrollende Cyklus der Delia-Elegieen bilden die Krone der Tibull'=
schen Dichtungen. Sextus Aurelius Propertius, der neben den
zahlreichen Elegieen an seine Cynthia auch einige Threnodieen und
patriotische Distichen schrieb, besitzt nicht die Naivetät und frische Unmittelbarkeit
des Tibull; aber er übertrifft ihn im schmeichlerischen melodischen
Versfluß, in malerischer Gruppirung und Drapirung, an gelehrter
Würde, welche, die kleineren Bezüge des Lebens verschmähend, sich
mehr in einem allgemeinen harmonischen Aether hält. Er verwebt
in seine Elegieen eine Fülle mythologischer Bilder und gelehrter
Notizen, welche die plastische Anschauung stören und die Phantasie stets |#f0340 : 318|

aus der bestimmten Situation heraus in die Weite geschichtlicher Perspektiven
führen. Wo Tibull schmachtend und weich erscheint, verräth
Properz eine leidenschaftliche Gluth ─ und gerade dies Feuer markiger
Empfindung sichert ihm eine gleiche Stellung neben dem nationalsten
römischen Elegiker. Der dritte, Publius Ovidius Naso, der
genialste aller römischen Dichter, zeigt uns, ähnlich wie Heinrich Heine
in neuester Zeit, die Auflösung des Glaubens und der Liebe, allerdings
noch auf dem plastischen Grunde des antiken Lebens, aber doch schon mit
allem Witze einer freispielenden Jronie. Er giebt sich niemals der
Situation, die er schildert, mit Andacht hin; er zeigt immer in einzelnen
Wendungen, daß er über derselben steht. Er gefällt sich in der frivolen
Ausbeutung der dargestellten Liebesscenen, zeigt aber dabei eine so hinreißende
Grazie des Ausdrucks, einen so leichten Fluß von Bild und
Gedanken, eine so anmuthig tändelnde Beredtsamkeit, daß es schwer ist,
dieser verführerischen Begabung zu widerstehn. Der erotischen Gattung
gehören seine amores an, eine ebenso durch die Virtuosität der Darstellung,
wie durch ihre unbekümmerte Offenherzigkeit fesselnde Liebesbeichte.
Die „Tristien“ dagegen bringen uns die Klagen des Verbannten,
die oft in einen larmoyanten Ton verfallen, da Ovid diesem
Geschick geistig zu erliegen schien und nicht die Ueberlegenheit seines so
souverain selbst die Götter herausfordernden Witzes ebenso bewährte, wie
etwa Heinrich Heine in seiner qualvollen Krankheit. Doch ist, trotz einförmiger
Wiederholungen, die Form der „Tristien“ fließend, gefällig,
von melodischem Zauber. Dasselbe gilt von den „epistolae ex
Ponto
,“ die sonst nüchterner und notizmäßiger sind. Dieser Trias der
großen römischen Elegiker ging Catull voraus in noch ungeschulter Nachahmung
griechischer Muster. Zahlreiche Nachdichtungen der klassischen
Elegie, deren Bedeutung mit ihnen erlosch, geben neulateinische und
italienische Poeten. Jn neuester Zeit hat Goethe in den „römischen
Elegieen
“ den Ton des Properz mit bewundernswerther Sicherheit
getroffen, August Wilhelm Schlegel in seiner Elegie „Rom“ und
Schiller in seinem „Spaziergang“ die antiken Distichen, jener zur
Darstellung welthistorischer Trauer, dieser zu einer an wechselnde Bilder
anknüpfenden Reflexion im Geiste der alten Elegiker kunstvoll benutzt.

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2. Romanische und orientalische Lormen.


Neben dem einfachen Liede schufen die provençalischen Sänger in
ihren Sirventes, die anfangs in der vielgestaltigen und vielfach wechselnden
Form der Kanzone abgefaßt waren, eine Dichtform, in welcher die
Reflexion vorwog, und welche der kriegerischen und politischen Elegie der
Griechen, wie der erotischen der Römer entsprach. Hier begegnen wir
wieder der politischen Lyrik, wir sehn die Troubadours unmittelbar
aus dem frischen Leben, den Bewegungen und Kämpfen ihrer Zeit heraus
dichten, oft in herbem, bitterm, herausforderndem Ton, stets aber mit derselben
Hingabe an das naheliegende historische Ereigniß, mit welcher sie
die Abenteuer der Liebe feierten. Die Grenze zwischen Lied und Elegie
ist hier nicht leicht zu ziehn; doch gehören wohl alle Gedichte mit kunstvollerer
Strophen- und Reimbildung, wo die Reflexion, das politische
Pathos oder die Ausmalung der Situation überwiegt, in die letztere
Gattung. Hierher müssen wir ohne Frage die Tenzonen (Streitgedichte)
rechnen, und die Sirventes (Dienstgedichte), in denen die
Troubadours anfangs die Huld der Damen und Fürsten feierten, welchen
sie ihren Dienst gewidmet, bis diese Gedichte im Verlaufe der Zeit das
Lob in Tadel verkehrten und einen strafenden, den Verfall der Verhältnisse
beklagenden Ton annahmen. Der liebefeindliche Marcabrun
eröffnet die Reihe der politisch=kriegerischen Elegiker mit einem Aufrufe
zum Kampfe gegen die Saracenen in Spanien in schwerfälligen Versen
und gesuchten Reimen; Guiraut von Borneil beklagt in drei Sirventen
den Verfall des geselligen Lebens, die Trägheit und Rohheit des
Adels, rühmt die schönere Vergangenheit und verwebt ein Lob des
Königs Richard Löwenherz in seine wahrhaft elegischen Klänge; der
kriegerische, von Dante hochgestellte Bertrand de Born feiert mit
Behagen die Kampf- und Raublust seiner verwilderten Zeit, in deren
Händel er verstrickt war; Trotzlieder gegen die Feinde, Gesänge voll
aristokratischen Stolzes, in denen er nach Art des Theognis „die niederträchtigen
Reichen, die mit dem Adel zu streiten wagen“ geißelt, finden
sich zahlreich unter seinen hinterlassenen Werken; Pons von Capdueil
dichtet, mit mehr Beruf als neuerdings Redwitz, Kreuzlieder voll edler
Beredtsamkeit, am feurigsten aber geißelt Peire Cardinal in seinen
Sirventes den Uebermuth der Großen und der Priester mit rhetorischem |#f0342 : 320|

Schwung, doch so, daß die Reflexion die Schilderung ganz in den
Hintergrund drängt. Jn erotischen Kanzonen zeichneten sich der durch
sein tragisches Schicksal bekannte Guillem von Cabestaing aus, der
überspannte und eingebildete Peire Vidal feiert in einem Kanzonencyklus,
der sich um einen geraubten und einen bewilligten Kuß dreht;
Peirol, Arnaut Daniel, Gaucolm Faidit und Andere.


Der Mittelpunkt der italienischen erotischen Dichtung ist Francesco
Petrarca,
der das von Guittone von Arezzo erfundene Sonett
zur größten Vollkommenheit, Weichheit und Harmonie durch die ängstlichste
Feile ausbildete. Das Sonett wurde durch ihn zur allgemein
gültigen Kunstform der italienischen Lyrik. Die einfache Jnnigkeit des
Liedes, der Aufschwung der Ode war für diese Form unmöglich. Deshalb
konnte in Jtalien nur die lyrische Reflexion gedeihn, die sich bei
minder begabten Geistern durch den spielenden Reimklang zu Tändeleien
und Künsteleien verleiten ließ, den Gedanken über das Maaß ausdehnte
oder verstümmelte, um ihn in diese Dreizehnzeiler einzuzwängen.
Petrarca selbst, ein eitler, um Gunst und Ruhm buhlender, wenn auch
vielseitig gebildeter Geist, ist in seinen berühmten dreihundert Sonetten
und Kanzonen an seine Laura von Vaucluse von einem gesuchten und
gezierten Scholasticismus der Empfindung, von mannichfachen rhetorischen
Kunststücken und Wortspielen, von übertriebenen Bildern und von
einer großen Monotonie der Darstellung nicht freizusprechen. Die
Anschaulichkeit der antiken Elegiker fehlt ihm ganz und gar; er weiß uns
durch keinen Wechsel der Situation zu erquicken; die Reflexion brütet
schattenhaft über den in's Weite ausgesponnenen Empfindungen! Wie
ganz anders der energische, plastische Dante in seiner Vita nuova! Von
den Vorgängern verdient vorzugsweise Guido Cavolcanti († 1300),
ein philosophisch gebildeter, inhaltsvoller Dichter, Erwähnung. Zu
Petrarca's Nachfolgern aber sind mit wenigen Ausnahmen fast alle Vertreter
der italienischen Lyrik zu rechnen, die meistens ohne seine Eleganz
und mit Uebertreibung seiner Schwächen eine Fluth von Sonetten, Kanzonen,
Terzinen heraufbeschworen, deren Gedankenarmuth durch den
studirten Pomp der Form nicht verdeckt wird.


Eine ganz einsame Stellung unter den italienischen Lyrikern nimmt
der Philosoph Campanella († 1639) ein, der unter dem Namen |#f0343 : 321|

Settimontano Squilla Sonette und Kanzonen voll hoher Gedanken
und edelster Begeisterung dichtete.


Die spanische Lyrik war nicht so, wie die italienische, in den Formen
der Reflexion aufgegangen; sie hatte Lied und Romanze, wie wir
gesehn, in originell=nationalen Klängen ausgebildet. Doch konnte sie
dem Andrange der italienischen Reimformen im 16. Jahrhundert nicht
widerstehn. Die altspanische Glosse war eine dem Charakter elegischer
Reflexion günstige Form, indem sie die Variationen der Empfindung und
die Rückkehr zum Grundthema deutlich ausprägte. Gegen die eindringende
italienische Form des Petrarca kämpfte Christoval de Castillijo
(† 1596) vergebens an. Luis Gongora de Argote († 1627)
bildete einen affektirten Styl, estilo culto, in welchem er seine „Einsamkeiten
und seinen „Polyphem“ dichtete. Hier kleidete sich die
Reflexion in eigenthümlich verkünstelte und verzerrte Satz- und Sprachformen
und suchte überdies in Art und Weise der Alexandriner durch
mythologische Gelehrsamkeit zu glänzen. Von den Sonettisten, welche
den Namen „Concettisten“ von dem italienischen „concetti,“ dichterischen
Gedanken, annahmen, erwähnen wir Juan Boscan, Garcilaso de
la Vega, Montemayor u. A. Jn der neuen Zeit hat die salmantinische
Dichterschule, an ihrer Spitze Melendez Valdes, der spanischen Lyrik
wieder einen nationalen, von französischen und italienischen Einflüssen
unabhängigen Boden erobert und auch auf dem Gebiete der Reflexionspoesie
manches Treffliche geleistet. Die portugiesische wird am
glänzendsten durch den großen Epiker Luis Camoëns in Sonetten,
Kanzonen u. s. w. vertreten. Von der orientalischen Lyrik hat vorzugsweise
die arabische jenen Charakter, welcher unserer Begriffsbestimmung
der Elegie entspricht. Ein kriegerisch bewegtes, thatkräftiges
Leben und feuriges Lieben gab der Schilderung reichhaltigen Stoff,
während auf der andern Seite die kahle Natur mit ihren endlosen Wüsten
und schroffen Felsen das Gemüth zur beschaulichen Einkehr in das eigene
Jnnere einlud. Schon die altarabischen Moallakats, in denen die
Schilderung noch überwiegt, sind hierher zu rechnen; auch in der
großen und kleinen Hamasa, den Sammlungen altarabischer Volkslieder,
ist manches der reflektirenden Gattung angehöriges Gedicht enthalten.
Der größte elegische Dichter der Araber ist jedoch Motenebbi († 965), |#f0344 : 322|

dessen Reflexion von tiefsinnig brütendem Charakter allerdings oft einen
gesuchten und unklaren Ausdruck annahm, so daß der arabische Kunstrichter
Tsaâlibi von ihm sagt, er sei eine Braut von blendender Schöne,
die aber täglich die fallende Sucht bekomme.


3. Die moderne Reflexionspoesie.


Die neue Zeit hat nach außen hin viele Perspektiven eröffnet, die
Welt der Erscheinung in ihrem tieferen Zusammenhang ergründet, ein
reiches geschichtliches Material angehäuft, durch die Gedankenarbeit
bedeutender Geister metaphysische Tiefen enthüllt, in welche auch die
kühnere Jntuition der Dichter herabsteigen konnte. So gewannen die
beiden Seiten der Elegie, die Schilderung und Betrachtung, an
Ausbreitung und Gehalt. Sie wurde die Dichtform, welche den ganzen
Reichthum eines weltumfassenden Genius in sich aufnehmen konnte.
Wohl hat sich gegen ihre Koryphäen, einen Schiller, Byron und
Victor Hugo, oft die einseitige Anklage des Rhetorischen erhoben, die
aus der Verkennung des Wesens der Elegie und aus der verkehrten Beschränkung
der Lyrik auf das Lied hervorging. Die erotische Poesie der
Neuzeit hat sich freilich vorzugsweise in das Lied geflüchtet. Dagegen
hat sich die Elegie gerade für die tieferen Fragen des Gedankens, für alle
die Neuzeit bewegenden Probleme, die in Fleisch und Blut, in ihre unmittelbare
Begeisterung übergegangen, als die geeignete Kunstform bewiesen.


Mit dem Wiedererwachen der deutschen Poesie im 17. Jahrhundert
wurde auch die Elegie alsbald angebaut. Martin Opitz dichtete
Elegieen „vom Abwesen seiner Liebsten,Paul Flemmingan
sein Vaterland,
“ ein Klagschreiben Germaniens an ihre Söhne, die
Kurfürsten und Stände von Deutschland, voll patriotischen Schwunges.
Hofmannswaldau, eines der Häupter der zweiten schlesischen Dichterschule,
folgte in seinen „Heldenbriefen“ dem Muster des Ovid; doch
ging bei ihm der Ton der Empfindung unter spitzfindigen Wendungen
und einem gesuchten Pomp des Ausdrucks verloren.


Jm 18. Jahrhundert nahm die Elegie einen vorzugsweise idyllischen
Charakter an, wofür die englischen Muster tonangebend wurden. Gray's
(† 1772) Elegie „auf einem Dorfkirchhofe“ und Oliver Goldsmith's
(† 1774) Gedicht: „das verlassene Dorf“ wirkten auf |#f0345 : 323|

die deutsche Muse ein und fanden ihren Wiederklang in Hölty's:
Schwermuthsvoll und dumpfig hallt Geläute.“ Auf landschaftlichem
Hintergrunde trugen Salis und Mathisson ihre Klagen
um die entschwundenen Spiele der Kindheit oder die Ruinen des Mittelalters
auf, während Tiedge in seiner „Urania“ sich über Gott und
Unsterblichkeit vom Standpunkte thränenreicher Empfindung unter dem
Schatten der Trauerweiden in weitschweifigen Ergüssen erging. Von
dieser threnodischen Richtung befreiten erst Goethe und Schiller die
deutsche Elegie; jener, indem er die üppigen Ranken kecker Sinnlichkeit
um Roms welthistorische Trümmer schlang und einen Properzischen
Liebesroman in anmuthige Distichen bannte; dieser, indem er den reichen
Jnhalt seines Geistes in einer volltönenden Lyrik mit leisem elegischem
Anhauch ausbreitete. Jn „den Göttern Griechenlands“ tönt die
Klage um eine versunkene Götterwelt, um die antike Beseelung der Natur,
aus einem nüchternen, deistisch aufgeklärten Zeitalter; in der „Resignation
wird wehmüthiger Verzicht geleistet auf das Arkadien des
Glaubens und Hoffens, auf den Traum der Unsterblichkeit; in den
Jdealen“ wird die rauhe Wirklichkeit angeklagt, welche das glühende
Herz des Jünglings um Liebe, Glück, Ruhm und Wahrheit betrogen
und ihm Nichts gelassen, als die zarte Hand der Freundschaft und die
nie ermattende Beschäftigung. Das schwere Traumbild des Erdenlebens,
den trüben Sturm des Jammers löst der Dichter in der reinen
ästhetischen Harmonie auf (das Jdeal und das Leben). Jm
Spaziergang“ knüpft er an wechselnde Natur- und Landschaftsbilder
ebenso tiefe wie schöne Gedanken über das moderne Leben und
seine geistigen Beziehungen und tröstet sich über den Wechsel der geschichtlichen
Thaten mit der wandellosen Harmonie der Natur. Derselbe Hauch
träumerischer Wehmuth ist über die sonst klar ausgeprägten Reliefbilder
des bürgerlichen Lebens im „Liede von der Glocke“ ergossen und
zieht sich durch die antikisirenden Studien, die Klage der Ceres und
das „Siegesfest,“ in welchem die Grundstimmung des Dichters einen
bezeichnenden Ausdruck fand:


Rauch ist alles ird'sche Wesen,
Wie des Dampfes Säule weht
Schwinden alle Erdengrößen. ─
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Gegen die Hoheit Schiller's, gegen seinen Adel und die ergreifende
Kraft einer in ihren Tiefen erzitternden Seele nehmen sich die Elegieen
und Sonette der Schlegel und der romanische Formenklingklang der
Romantiker schwächlich genug aus. Erst der neuesten Zeit war es vorbehalten,
die deutsche Gedankenpoesie wieder zu Ehren zu bringen.
Vorzugsweise hat die österreichische Lyrik jenen träumerischen Ton angeschlagen,
welcher Bild und Reflexion in dämmernder Beleuchtung
vermählt. Threnodisch austönend am Grabe geschichtlicher Größen sind
die „Todtenkränze,“ Kanzonen von Joseph von Zedlitz; auf reichem
Bildergoldgrund trug Anastasius Grün im „Schutt“ seine zwischen
dem Grab der alten und der Wiege der neuen Zeit hin und her gehenden
Reflexionen auf; Nicolaus Lenau schaut überall im Spiegel der
Natur nur die Züge seines melancholisch brütenden, von unsteter Skepsis
hin und her getriebenen Geistes und leiht der sinnenden Melancholie
einen unnachahmlichen Zauber; Carl Beck knüpft an lebendig kolorirte
ungarische Genrebilder, an die Schilderung Wiens und der „Wartburg“
im „fahrenden Poeten“ die Träume eines zerfallenen Gemüthes
und einer unbestimmten Sehnsucht, für die Menschheit zu wirken,
für die noch wärmer Alfred Meißner's dichterische Pulse in den
Trümmern“ schlagen. Doch auch andere Dichter haben diese
Richtung fortgebildet. Platen feiert die Lagunenstadt in marmorschönen
Sonetten; Freiligrath erhellt plastisch und energisch ausgeprägte
Bilder mit der düster=flackernden Gluth revolutionairer Begeisterung.
Franz Dingelstedt bewährt sich im „Roman“ als
moderner Tibull und dichtet eine frisch aus dem Leben gegriffene Liebeselegie,
in welcher die jüngste blasirte Kultur der Gesellschaft und die
exotische Natur in einem eigenthümlich wehmüthigen Kolorit verschmelzen.
So meisterhaft Goethe's römische Elegieen sein mögen, so zeigt
uns doch diese erotische Elegie Dingelstedt's, daß auch ohne strenge Nachahmung
der Antike der moderne Geist Elegieen schaffen kann, die der
klassischen Vorbilder würdig sind. Hierher gehören auch die Sonette
und einige andere Gedichte Herwegh's, wie z. B. auf den Bergen
mit seiner innigen Todessehnsucht, Max Waldau's sorgsam gefeilte
Kanzone: O diese Zeit, welche über die darniedergetretenen Hoffnungen
der Gegenwart klagt, und viele herrliche Dichtungen Emanuel |#f0347 : 325|

Geibel's, mag dieser Dichter nun im Lübecker Rathskeller mit Jürgen
Wullenweber
und Marcus Mayer Gestalten aus Deutschlands
großer Vergangenheit heraufbeschwören und den Helden der Hansa
gegenüber um die verkümmerte Gegenwart trauern, oder im „Thurmbau
zu Babel
“ dem zerfahrenen, vom Zorn des Herrn auseinander
gescheuchten Geschlecht ein Denkmal setzen, oder im „Bildhauer
Hadrian's
“ die halt- und glaubenslose und darum auch für die Kunstgestaltung
spröde Zeit anklagen. Für die Passionsgeschichte der Menschheit
errichtet Hermann Lingg mit düsterer Energie seine lyrischen
Stationen, malt z. B. im „schwarzen Tod“ mit der Kraft Dante'scher
Anschauung und zeigt in seinen Reflexionen eine schwunghaft aus den
Tiefen kommende Weltanschauung.


Die Entwickelung der englischen Reflexionspoesie seit Sidney,
Spencer
und Cowley zu verfolgen, liegt außerhalb unserer Aufgabe.
Wir erwähnen nur ihre Spitzen: Lord Byron und Shelley. Jener,
Englands größter Lyriker, was die lodernde Pracht des Kolorits und den
hinreißenden Schwung einer mit dem Weltgeschick rechtenden Reflexion
betrifft, hat in „Childe Harold's Pilgerschaft“ an eine Fülle
europäischer Landschaftsbilder, die mit gleicher Vollendung ausgeführt
sind, mag der Dichter auf dem honigreichen Hymettos oder dem weitschauenden
Sunium um Attikas verlorne Herrlichkeit trauern oder auf
dem Rialto um Venedigs versunkene Pracht oder ein Gewitter im Jura
schildern, jene Betrachtungen geknüpft, die seinem durch Genuß erschöpften
und doch nach ihm lechzenden Gemüthe, einem mit dem Weltlauf
zerfallenen und doch von Thatendurst verzehrten Geist, der seinen Schmerz
in vornehm nachlässiger Stellung kokett zur Schau trägt, einen eigenthümlichen
und unverkennbaren Stempel aufdrücken. Noch imposanter
erscheint die Grundstimmung Shelley's, der in seiner „Königin
Mab
“ und andern Gedichten durch alle skeptischen Anwandlungen hindurch
leidenschaftlich nach einer geahnten Harmonie strebt, deren schwunghafte
Verkündigung ihn aber mit dem Glauben und den Satzungen der
Gesellschaft in einen neuen, nicht auszugleichenden Widerspruch setzt. So
geht die Klage über die unlösbaren Verwickelungen des Denkens und
Lebens durch seine oft phantastischen, stets seelenvollen Gedichte. Neben
diesen Heroen verdient noch Thomas Campbell († 1844) wegen |#f0348 : 326|

seiner schönen Elegie auf die „Schlacht von Hohenlinden“ rühmende
Erwähnung. Wie Byron und Shelley unter den englischen, so ragen
Victor Hugo und Alphons de Lamartine unter den französischen
Reflexionspoeten hervor. Victor Hugo in seinen „Voix intérieurs,“
in den „chants du crépuscule“ und in den „feuilles
d'automne
,“ Lamartine in den „méditations“ und „harmonies
réligieuses
“ erschöpfen nach zwei Seiten hin die französische
Reflexions-Lyrik. Jener ist pomphaft, prächtig, grandios in Anschauungen,
Bildern, Diktion; dieser weich, schmelzend, träumerisch zerflossen;
jener reich an unnachahmlichem Wohllaut in wechselnden Rhythmen,
dieser von einförmigem Tonfall; jener weiß die eigene Stimmung und
die Stimmung der Zeit zu einer melancholischen Harmonie zu verschmelzen;
dieser flüchtet sich unter die fleckenlosen Engelsfittige der Religion
aus allen Trübungen der Gegenwart. Der Herbst und die Dämmerung
sind die Symbole für Victor Hugo's Stimmung, der mit dem Griffe des
Genies Naturbild und Empfindung, das geschichtliche Bild und den Gedanken
verschmilzt. Lamartine dagegen greift aus seiner anachoretischen
Einsamkeit nur nach den Bildern der Erde, um seiner seraphischen Gefühlsverklärung
einen Halt, seiner hin und her rankenden Empfindung
eine Stütze zu geben. Als dritter ist Alfred de Musset zu nennen,
welcher der Elegik der verlornen Seelen einen oft wüsten und pikanten
Ausdruck gab, dessen Nachklänge sich in Deutschland bei Alfred
Meißner
und Franz Dingelstedt finden.

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Zweites Hauptstück.

Die epische Dichtung. ──────

Erster Abschnitt.

Wesen des Epos.


Das lyrische Gedicht wird aus der unmittelbaren Gegenwart herausgedichtet;
das epische beschäftigt sich mit der Vergangenheit. Jn
allgemeinster Fassung ist das Epos die dichterische Erzählung einer vergangenen
Begebenheit. Da der Dichter sich nicht in der augenblicklichen
Erregtheit des Herzens befindet, da die Handlung, die er darstellt, als
eine vergangene bereits durch die Zeit einen beruhigenden Abschluß
gewonnen: so tritt hier das Subjekt des Dichters mehr zurück, und seine
Kunst besteht darin, die Handlung sich in größter Objektivität vor unsern
Augen entwickeln zu lassen. Der lyrische Dichter verzehrt sein Objekt in
der Flamme der Begeisterung; der epische verschwindet hinter seinem
Objekt, das seine nachhaltige Begeisterung trägt und belebt.


Die epische Handlung unterscheidet sich von der dramatischen, indem
sie nicht wie diese aus der auf die Spitze gestellten innern Entscheidung
des Helden hervorgeht, sondern mehr durch das Zusammenwirken der
Verhältnisse, durch den Weltlauf selbst hervorgerufen wird und sich wieder
weithinein in alle Lebenszustände verzweigt. Die dramatische Handlung
ist ein stolzer Ausfluß menschlicher Selbstbestimmung, ihrer Konflikte,
ihrer Krisen. Jm Drama ist alles That, freier Akt des Willens;
das Walten der Naturmächte ist ausgeschlossen. Jm Epos dagegen ist
das menschliche Handeln mit hineinverflochten in den ruhigen Verlauf der
Weltgesetze, verkettet in alle Bedingungen des Alls. Jm Drama herrscht |#f0350 : 328|

die menschliche Freiheit, im Epos die Naturnothwendigkeit. Jm Drama
giebt es nur einen Brennpunkt der Handlung, den Willen des Menschen;
alle elementaren Mächte sind ausgelöscht, das Universum ist zur Koulisse,
zur Dekoration geworden. Jm Epos handelt der Mensch als
Mikrokosmus, als kleine Welt, welche die große spiegelt. Die dramatische
ist ein gewaltiger Durchbruch aus der Tiefe; die epische ein stetiger
Verlauf, ein organisches Wachsthum. Die dramatische Handlung ist
That, die epische Begebenheit.


Doch wenn sich das Epos nach der einen Seite scharf vom Drama
unterscheidet, so drohn auf der andern seine Grenzen mit denen der Geschichtschreibung
zu verschmelzen. Die Geschichte schildert den stetigen Verlauf
der Ereignisse, wie sie sich unter den elementaren Einflüssen, dem Eingreifen
des Zufalls, der zwingenden Nothwendigkeit zu festem Gesetze gewordener
Verhältnisse gestalten. Doch das Epos ist ein Kunstwerk, welches als
solches ein harmonisches Ganze sein muß. Die Handlung des Epos
wird deshalb, bei aller fortschreitenden Stetigkeit, nicht in dem breiten
Strom der Geschichte verschwimmen, sondern eine innere Einheit haben,
minder straff, minder central, als die Einheit des Dramas, aber doch
mit Grenzen, die aus seinem Wesen hervorgehn und nicht nach Belieben
festgesetzt werden können. Die Handlung des Epos ist wohl elastisch
und dehnbar, aber nicht zerfließend und in's Maaßlose auflösbar. Die
epische Handlung ist eine, aber ein Segment aus der Geschichte, welches,
trotz seiner Grenzen, die Breite des ganzen Kreises in sich aufnimmt.
Die Einheit wird erreicht, wenn die epische Handlung einen bestimmten
und lebendigen Zweck hat, auf den sie zwar nicht mit dramatischer
Energie loseilt, der aber immer das schöne Ziel ihrer organischen Entfaltung
bleibt. Dies Ziel ist gleichsam die Krone des Baumes, hoch
und voll zugleich, zu welcher nicht blos der Stamm emporstrebt, sondern
welche auch die zahlreichen Aeste und Zweige in schöner Rundung zu bilden
suchen. Jn der That erinnert das Volksepos des Homer und der
Nibelungen durch seine tiefgehenden Wurzeln, seinen starken Wuchs, seine
ruhige Entfaltung, seine weitverzweigte Fülle und die liebevolle Gastlichkeit
gegen alles Leben der Welt an eine majestätische Eiche. Das Ziel
der Homerischen Epopöen ist von Anfang an klar! Homer schildert nicht
den trojanischen Krieg, sondern nur eine bedeutsame Episode aus demselben, |#f0351 : 329|

den Streit des Achilleus und Agamemnon, den Zorn des Peleiiden,
das Unheil, das den Achaiern aus ihm erwächst, das Hervorlocken
des Löwen aus seiner Höhle, seinen siegreich rächenden Hervorbruch;
aber in dieser Episode spiegelt sich die Weltweite jener kriegerischen Unternehmung
und in Hektor's Fall der künftige Fall Jliums. Noch bestimmter
ist das Ziel der Odyssee die Rückkehr des Odysseus in sein Erbe, zu
seiner Gattin, seine Rache an den Freiern, das Ziel der „Aeneis“ die
Landung des Helden in Latium, die Stiftung des künftigen Weltreiches.
Auch Tasso's „befreites Jerusalem“ zeigt von Hause aus das Ziel an,
auf welches die Handlung in breiter massenhafter Entfaltung hinschreitet.
Jn den modernen Romanen, in denen die Bildungsgeschichte des Einzelnen
den Jnhalt bildet, im „Titan,“ „Wilhelm Meister,“ den „Epigonen“
von Jmmermann ist ein bestimmter, beruhigter Abschluß dieser Bildung
das Ziel; in „den Rittern vom Geiste“ die Gründung des humanen
Weltbundes. Das alte Grundgesetz, das die künstlerischen Schöpfungen
des Homer beherrscht, behauptet noch immer für alle epischen Dichtungen
der Gegenwart seine Giltigkeit, und die Verstöße gegen dasselbe, gegen das
bestimmte, lebendige Ziel der epischen Handlung, sind in alter wie neuer
Zeit der künstlerischen Haltung verderblich gewesen. Schon die cyklischen
Dichter verfielen in eine historische und biographische Weitläufigkeit, welche
die schönen Grenzen des Kunstwerkes zerstörte. Der Dichter der Kypria
beginnt mit der Hochzeit der Thetis und der Erzeugung der Helena; die
kleine Jlias gruppirt um die Zerstörung Troja's eine große Menge selbstständiger
dramatischer Handlungen, eine Mosaik von Episoden. Die
„Gudrun“ beginnt gar mit der Beschreibung der Geschicke, welche der
Großvater der Heldin als Kind erduldet ─ und der sagenhafte Greiffenraub
ist nicht blos als Vignette behandelt. Ja bis in die neueste Zeit
hinein, bis auf Brachvogel's „Friedemann Bach,“ bis auf Steffens'
historische Romane, ist die historische und biographische Breitschlagung
des epischen Stoffes von ungünstigstem Einfluß auf die künstlerische Vollendung
des Dichtwerkes gewesen.


Jm Drama bewegt sich der Punkt als Linie, im Epos die Linie als
Fläche. Die Bewegung des Epos ist eine breite und massenhafte. Der
Feldherr tritt mit seinem Heere auf; der epische Held ist primus inter
pares. Die äußere Welt der Natur und Kultur ist nicht bedeutungsloser |#f0352 : 330|

Hintergrund; das Epos ist wesentlich Kulturgemälde. Doch auch die
Naturschilderung ist, nach den früher aufgestellten Grundsätzen, berechtigt,
die elementaren Mächte, Stürme, Seuchen u. s. f. spielen eine große
Rolle im Epos. Homer ist ein Meister in der Schilderung des Seesturmes,
er hat dem bewegten Leben des Meeres alle Geheimnisse, alle
Farben abgelauscht. Schwächer ist diese Seemalerei in dem nordischen
Seeepos: Gudrun, während sie in der Luisiade des Camoëns ihren
künstlerischen Höhepunkt erreicht. Doch es finden sich auch bei Homer
Stellen, welche an die Landschaftsmalerei der modernen Romane
erinnern. So z. B. beschreibt er die Umhegung der Grotte der Kalypso
mit Erlen, Pappeln und Cypressen, den in üppigem Wuchs rankenden
Weinstock, die vier Quellen, die ihr blinkendes Wasser durch schwellende
Wiesen, reich an Violen und Eppich, in schlängelndem Lauf ergießen.
Doch um das Landschaftsbild zittert der Hauch einer epischen Stimmung,
wie wir es nennen möchten! Der Epiker malt, ohne lyrische
Ausführung, ein Bild, dessen Bedeutung wir erst erfassen, wenn wir zu
seiner Ergänzung den auf Felsen und sandigen Dünen sitzenden Odysseus
in's Auge fassen,


Wo er mit Thränen und Seufzern und innigem Gram sich zerquälend
Auf das verödete Meer hinschauete, Thränen vergießend.


Die Grotte der Kalypso fesselt den Dulder nicht; er flieht aus ihrer
reizenden Umgebung an das öde Gestade des Meeres, um sich dort ganz
seiner Sehnsucht nach der Heimath hinzugeben. Der Lyriker hätte diesen
Gegensatz mit reichen Farben ausgemalt; der Epiker stellt beide Bilder
selbstständig hin und erhellt das eine durch das andere. Diese Grotte
der Kalypso wurde später mehrfach von den Epikern nachgeahmt, am
ausführlichsten von Tasso im Zaubergarten der Armida. Einen solchen
Bezug auf die Seele des Menschen muß aber das Landschaftsbild in der
epischen Dichtung immer haben. Wie charakteristisch sind Ossian's thauschwere,
grasige Hügel, blaue Ströme und Gewässer, dunkle Schatten
des Herbstes, obwohl bei ihm oft schon die epische Stimmung in's Lyrische
zerfließt. Auch in Jean Paul's Romanen malt sich die Landschaft nur
in der Seele des Helden, wie in einer camera obscura mit eigener
magischer Beleuchtung. Breitere Schildereien ohne solche tiefere Beziehung,
zu denen die Engländer neigen, seit Thomson's Zeit bis in ihre |#f0353 : 331|

neuesten Romane, haben wir mit dem beschreibenden Gedichte bereits
als einen epischen Auswuchs, einen Gallapfel an der Eiche des Epos,
getadelt. Das Epos muß als Kulturgemälde das ganze sociale Leben
seiner Zeit in sich aufnehmen! Glücklich wenn dies so einfach ist, wie in
der Homerischen Zeit, wo die Helden selbst beten und schlachten, die
Fürstinnen spinnen und weben und die Wäsche im Strom besorgen.
Der Schild des Achilleus ist solch ein orbis pictus der Homerischen
Kulturwelt! Hochzeit, Prozeß, Kriegswesen, Ackerbau, Weinbau, Viehzucht,
Tanz ─ das alles finden wir auf diesem Werke des Hephästos.
Diese kulturgeschichtlichen Arabesken schweifen um beide große Epopöen;
bis in die innersten Gemächer des Hauses, ihre Einrichtungen, Bad und
Schlafstätte und jede Geräthschaft verstattet uns der Dichter den klaren
Durchblick! Jn einer Zeit höchst verwickelter Kulturverhältnisse dagegen,
wie die unsrige, kann der epische Dichter nicht erschöpfend sein wollen ─
hier muß er eine Grenze einhalten, über welche hinaus es mißlich wäre,
sich in das Detail zu verlieren! Die Kultur der Homerischen Helden
wird vor unsern Augen von ihnen erschaffen; sie ist ihre eigene volle
Thätigkeit! Götter schmieden die Geräthschaften des Krieges und Friedens;
die Helden schlachten und speisen! Bei uns ist durch die Theilung
der Arbeit das Kulturprodukt niemals die schöpferische That eines einzelnen
ganzen Menschen, sondern aus einer getheilten Mühe hervorgegangen,
die nur einen Theil des Werkes überschaut! Handwerk, Jndustrie, selbst
das Staatsleben in Gestalt der Bureaukratie hat eine ausgebildete Technik!
Wo sich aber noch einfache Verhältnisse finden: da stehn ihre Vertreter
nicht auf der Höhe der Bildung, und ein Jmmermann'scher Dorfschulze, der
einen Wagen anspannt, kann uns nicht wie ein Homerischer Held interessiren,
der in jeder Beziehung der erste seines Volkes ist. Der realistische
Roman der Neuzeit hat in dieser Beziehung die Grenzlinien des guten
Geschmackes bei weitem überschritten; er hat sich in eine technische Detailmalerei
vertieft, welche allen poetischen Aether verdunsten läßt. Gotthelf
schildert uns mit großer Ausführlichkeit die Stallreinigung, das Mist zusammenkehren
u. dergl. m.; Otto Ludwig malt uns das technische Geräthe,
die technische Arbeit eines Schieferdeckers mit einer objektiven Treue,
die aber mehr an jene Beschreibungen der verschiedenen Handwerke erinnert,
welche den betreffenden Bilderbogen für Kinder beigefügt sind. Ein Zug |#f0354 : 332|

aus dieser bestimmten Thätigkeit heraus würde an der geeigneten Stelle
das epische Lebensbild glücklich beleuchten! Jndem die Dichter aber
mehr geben wollen, versetzen sie uns in eine Prosa der äußerlichen Zweckmäßigkeit,
in welcher das allgemein menschliche Jnteresse aufhört; sie
werden beschreibend und didaktisch im Sinne jener bekannten Lehrgedichte
über das Schach, die Siphylis u. s. f., deren Poesielosigkeit gerade in der
Detailmalerei einer technischen, medizinischen oder sonstigen Spezialität
besteht! Aehnlich verhält es sich mit den ausgeführten Kostumbildern in
den historischen Romanen. Die Kleidung kann charakteristisch sein für
die Kultur einer bestimmten Zeit, für das Eigenthümliche einer bestimmten
Persönlichkeit! Dann aber genügt das Hervorheben des Charakteristischen,
nicht die beliebte ausführliche Schilderung des Anzugs von
Kopf zu Fuß, wie es nach Walter Scott's Vorgang zur Mode geworden.
Die Kultur unserer Zeit ist vorzugsweise eine geistige ─ und wenn eine
Reaktion dagegen das echt Menschliche im Kreis einer unfertigen Bildung
sucht, in welcher die derbe Außenseite des Lebens sich kräftiger hervordrängt,
so ist diese Reaktion, trotz ihres anscheinend frischen und aromatischen
Heugeruchs, nicht von geistiger Rohheit freizusprechen. Justiz, Regierung,
Polizei gehören ebenso wie Landwirthschaft und Jndustrie zum Kulturgemälde
unserer Epoche, welches erst die Verschiedenheit der theologischen und
politischen Meinungen, die ständische Gliederung u. s. f. vollendet. Deshalb
bleiben Gutzkow's „Ritter vom Geiste,“ in denen unsere sociale
Welt nach allen ihren Richtungen geschildert wird, ein großartiges episches
Kulturgemälde unseres Jahrhunderts. Dabei verfällt Gutzkow nie in
die Barbarei geist- und interesseloser Schilderungen einer leeren Aeußerlichkeit.
Wir haben gesehn, welche Breite des Lebens und der Welt die
epische Handlung in sich aufnimmt; es entsteht jetzt die Frage, welches
ihr Hauptinhalt ist? Dem Konflikt der einzelnen Charaktere, den das
Drama behandelt, entspricht im Epos der Konflikt der Massen, der Völker.
Der Kriegszustand zweier Nationen ist daher in den alten Volksepopöen
der Kern der epischen Handlung. Auch die Geschicke des
Odysseus und Aeneas knüpfen sich an den Völkerkampf vor Jlium. Jm
Mahabharata kämpfen zwei indische Fürstengeschlechter, die Kuruinge
und Panduinge miteinander, im großen Epos des Firdusi handelt es
sich um den Kampf zwischen Jran und Turan, dem Reiche des Lichtes und |#f0355 : 333|

der Finsterniß. Ossian's „Fingal“ und „Temora“ schildern den Krieg zwischen
irischen und schottischen Heldenstämmen; Tasso's „befreites Jerusalem“
den Kampf zwischen den christlichen Kreuzfahrern und den Saracenen.


Wenn das Epos indeß aus den großen Völkerkämpfen hervorgegangen,
so wäre doch eine Beschränkung der epischen Dichtung auf Nationalkriege
nur eine einseitige und engherzige Auffassung. Wir müssen sie
dahin erweitern, daß die Handlung des Epos immer einen in's Breite
gehenden, einen auf die dramatische Spitze gestellten Kampf darstellt,
mag dieser Kampf nun äußerlich, mit den Waffen in der Hand, in der
Ausdauer bei steter Mühsal, oder innerlich im Reiche der Bildung durchgefochten
werden. Die Jrrfahrten eines Odysseus, eines Aeneas und
ihrer Genossen, die Abenteuer der Ritterdichtungen und des Ariosto
entfalten uns ebenfalls eine Welt von Kämpfen; es sind die Götter, die
Riesen, die elementarischen Mächte des Meeres und des Sturmes, mit
denen die Helden in rastloser Arbeit ringen. Diese Kämpfe sind episch,
ungeeignet für den Dramatiker. Eine alte und neue Epoche kämpfen
miteinander ─ der Epiker kann uns diesen Kampf ironisch schildern, wie
Cervantes in seinem „Don Quixote;“ er kann ihn uns in großartiger
Entwickelung vorführen, wie Gutzkow in „den Rittern vom Geiste;“
aber niemals darf dieser Kampf zu letzter Entscheidung, zu radikalem
Bruche im Geiste eines Einzelnen gelangen ─ die Sokrates, Mahomet
und Luther sind dramatische Helden. Auch die Bildungsgeschichte eines
Einzelnen, wie z. B. des Wilhelm Meister, kann den Mittelpunkt einer
epischen Dichtung bilden ─ dann kämpft aber dieser Held gegen Verhältnisse,
Zustände, Geschicke, die ihm theils gegeben sind, die er theils
sich kämpfend schafft, die aber eben die Elemente seiner Entwickelung
bilden. Jmmer gehorcht der epische Kampf den Entscheidungen eines
Schicksals, das, wie wir später sehen werden, nicht einer dramatischen
Schuld auf dem Fuße folgt, nicht aus einem dramatischen Konflikt herausgeboren
wird, sondern nach Vischer's vortrefflicher Bezeichnung das tragische
Gesetz des Universums
ist.


Jm Zusammenhang damit steht die Art und Weise der epischen
Charakteristik, die an ihrem Helden eine Fülle von Eigenschaften entwickeln
kann, da sie ihn in zahlreichen Beziehungen zu einer vielgegliederten
Welt zeigt. Einen Haupthelden hat das Epos so gut wie das |#f0356 : 334|

Drama; aber der Held des Epos geht mit der Masse, der Held des
Drama's isolirt sich. Ein Reformator z. B., welcher aus sich heraus, im
Gegensatze gegen die anerkannten Autoritäten oder die öffentliche Meinung
seines Jahrhunderts, eine neue Aera des Geistes heraufführt, ist niemals
ein epischer Held. Um den Haupthelden gruppiren sich im Epos die
andern in einer pyramidalen Gruppe; er ragt nur einen Kopf hoch über
sie hervor. Die Gliederung der Gruppe selbst muß das Werk einer planvollen
Kunst sein, welche indeß die Schärfe des dramatischen Kontrastes
vermeidet! Der Kontrast der epischen Charaktere ist schon deshalb ein
sanfterer, weil im Drama die Charaktere, bei der Verfolgung ganz
bestimmter Zwecke, gleichsam mit ihrer Schneide scharf aufeinandertreffen,
während im Epos die vielseitig entwickelten Charaktere in umfassender
Lebensentfaltung mehr Berührungspunkte haben. Das Drama liebt
scharfe Zuspitzung, das Epos harmonische Abrundung. Schon die reicheren
Mittel, welche dem Epiker zur Zeichnung der Charaktere zu Gebote
stehn, schon die behaglichere Ausführung, die ihm verstattet ist, unterscheiden
seine Art und Weise zu charakterisiren wesentlich von der des Dramatikers.
Der Zorn des Achilleus wäre als charakteristisches Motiv für
diesen nur im raschen Auflodern des Augenblickes verwendbar, während
Homer, in direktem Gegensatze gegen den Dramatiker, gerade den thatlos
trotzenden Groll des Myrmidonenführers, sein Verharren bei den
Schiffen als episches Motiv benutzt, den Helden vom Schauplatze der
Handlung abtreten läßt und in langen Gesängen den Kampf vor Jlium
und das wachsende Unheil der Achaier schildert, das aus dieser Thatlosigkeit
ihres ersten Helden hervorgeht. Wenn Schiller indeß die Bedächtigkeit,
das schlicht thatkräftige Wesen seines „Tell,“ des Schweizer
Natursohnes, in ähnlicher Weise schildert, wenn er ihn sagen läßt:


Doch was ihr thut, laßt mich aus eurem Rath!
Jch kann nicht lange prüfen oder wählen,
Bedürft ihr meiner zur bestimmten That,
Dann ruft den Tell! es soll an ihm nicht fehlen ─


wenn er hierauf die Hauptscene des „Rütli“ spielen läßt, ohne daß der
dramatische Held zugegen ist: so hat er offenbar mehr in epischer, als in
dramatischer Weise charakterisirt, wie überhaupt die Massenentfaltung des
„Tell,“ der nationale Befreiungskampf, die Art, wie in Stauffacher, |#f0357 : 335|

Attinghausen das Schweizer Volk selbst in seinen einzelnen Ständen individualisirt
ist, und dies alles ohne Beziehung zum Helden des Drama's
und seiner That, einen vorwiegend epischen Eindruck macht.


Die epischen Charaktere dürfen den ganzen Reichthum der Menschennatur
entfalten! Zwar wiegt eine Eigenschaft in ihnen vor, das edle
Jugendfeuer im „Achill,“ die listige Gewandheit im Odysseus ─ aber sie
zeigen sich uns in so verschiedenen Lagen, von so verschiedenen Seiten,
daß jener Grundzug des Charakters nie mit einseitiger Bestimmtheit
hervortritt. Niemals wird er dramatisch in eine einzige That gelegt!
Und weil der epische Charakter von den Begebenheiten und Verhältnissen
getragen wird, so darf eine gewisse Passivität vorwiegen, und die Engelhaftigkeit
der schönen Seelen eher im Epos als im Drama auf Verzeihung
rechnen. Jean Paul beschäftigt sich angelegentlich mit dieser
Frage von der Vollkommenheit der Charaktere. Er hat ein persönliches
Jnteresse dabei, weil seine Klotilden und Lianen engelhafte gleichsam der
schweren Atmosphäre der Erde entrückte Gestalten sind. Jndeß hat die
abstrakte Jdealität solcher vollkommenen Menschen, solcher „hohen“ Eremiten,
wie Emanuel, etwas Befremdendes, indem der Dichter vergißt,
die Mängel hervorzuheben, die gerade diesen erhabenen Erscheinungen,
die sich mit der Erde nicht einlassen, anhaften. Auch der Messias
Klopstock's interessirt nicht als epischer Held, weil seine Erhabenheit nicht
mit irdischem Maaß zu messen, weil er zugleich über den Wettern steht,
mit denen er kämpft. Auf der andern Seite können solche abstrakte Teufel,
wie Abbadonnah, ebenfalls kein tieferes Jnteresse einflößen. Dagegen
kann das Epos dämonische Charaktere, Gestalten von innerer und äußerer
Häßlichkeit, zu denen selbst die plastische Kunst des Homer im Thersites
ein Modell gegeben, mit größerer Vertiefung schildern, als das Drama,
indem es Muße hat, sowohl die Erscheinung in aller Breite auszumalen,
als auch die Weltanschauung in erschöpfender Weise auszusprechen. Der
epische Hauptheld selbst bewegt sich indeß am richtigsten in der schönen
Mitte der Menschlichkeit, und wir fügen hinzu, der Bildung. Helden
und Heldinnen aus den untersten Schichten der Gesellschaft, wie sie in den
neuern französischen und englischen Mysterienromanen und in den deutschen
Dorfgeschichten beliebt sind, versetzen uns in eine Sphäre, in welcher
der Charakter nicht jene völlige Reife erlangen kann, die ihm nur die |#f0358 : 336|

Bildung giebt. Wir finden dort nur unfertige Ansätze, oder der Epiker legt
in ihn ein inneres Leben hinein, welches den äußern Bedingungen seiner
Existenz nicht entspricht.


Was nun die höheren Mächte des Epos betrifft, so liegt es im Charakter
der epischen Auffassung, daß ein Eingreifen derselben in die Handlung
von jeher gestattet war. Der dramatische Grundsatz:


Jn deiner Brust sind deines Schicksals Sterne ─


paßt nicht auf das Epos, dessen Schicksal durch das Naturgesetz im
weitesten Sinne des Wortes bestimmt war. Als man die Naturmächte
selbst in schöner Menschlichkeit darstellte, als Poseidon, der zürnende Gott
des Oceans, noch den Odysseus umherirren ließ, als die Götterwelt auf
dem hohen Olympos wie eine idealisirte Menschenwelt das Treiben der
Helden spiegelte: da wurde menschliche Handlung und Seele in die
Natur gelegt, und das Eingreifen der Göttermaschinerie gestaltete
das menschliche Schicksal. Diese sogenannte „Göttermaschinerie“
wurde zum kanonischen Grundgesetze des Epos, und die Dichter der
Kunstepen suchten, bis in die neueste Zeit, mit dem Sänger der „Jlias“
darin zu wetteifern. Wie nüchtern mußten aber alle Nachbildungen
ausfallen, welche im Glauben des Volkes keine Wurzel hatten!
Schon Tasso vermischte die antiken Furien mit den Teufeln des
christlichen Glaubens. Noch weiter ging Camoëns, der die alten
Götter und die christlichen Heiligen wie in einem Kartenspiele durcheinandermischte
und Bacchus, als Christ verkleidet, am Altar der Jungfrau
Maria Opfer bringen läßt. Milton und Klopstock stellten eine
Handlung dar, welche den Bedingungen des Menschendaseins schon
anundfürsich entnommen, das Hereinragen einer höheren Welt von selbst
mit sich brachte. Die Gestalten des biblischen Glaubens, Milton's revolutionärer
Teufel, Klopstock's sentimentaler Abbadonnah, verloren indeß
auch bei weiterer Ausmalung jene feste volksthümliche Basis, und wenn
Milton das Rebellenthum des höllischen Freigeistes mit kühnem Trotze
darstellte, so fehlte dieser innerlichen Gewalt die äußere Plastik. Die
allegorischen Gestalten in Voltaire's „Henriade,“ die Heldenschatten im
Gewölk, die Attila's und Scipionen, die in Pyrker's Tunisias mit den
deutschen Truppen fechten, zeigen am klarsten, zu welchen abgeblaßten, an
alte Tapetenbilder erinnernden Bildern die Nachahmung der Homerischen |#f0359 : 337|

Götter verführte. Die Dichter der Kunstepen verkannten die tiefere
Bedeutung, welche der Homerischen Göttermaschinerie zu Grunde liegt!
Was waren jene Götter anders, als die verkörperten ewigen Mächte der
Natur und des Lebens? Eine solche Verkörperung hatte nur Sinn in der
Zeit des Homer und Phidias und konnte in anderen Zeiten, wo der
Glauben an die lebendigen Götter fehlte, nur leblose, zwischen Himmel
und Erde schwebende Schatten hervorbringen. Dagegen war auch in
diesen Verirrungen die Weltanschauung, auf welcher das Epos ruht, auf
das Klarste ausgesprochen! Es ist jene höhere Nothwendigkeit des ewig
waltenden Gesetzes, welchem die Natur und die Menschen unterthan.
Dies Gesetz offenbart sich im einzelnen Falle als Zufall, ein Recht des
Epos, das in der Tragödie nicht gilt. Der Tod, ein Gesetz der Gattung,
dem der Einzelne zum Opfer fallen muß, springt wie ein geschütteltes
Loos aus dem Helm des Epikers ─ und es erfüllt uns mit Wehmuth,
wenn das Gesetz die Herrlichsten in ihrer Jugendblüthe dahinrafft.
Wir klagen um Patroklos, um Hektor, um Achilleus, um Siegfried,
um Sijawusch ─ es ist die Klage um das allgemeine Loos der Sterblichen,
die am frühen Grabe der Jugend und Kraft und Lebensfülle um
so schmerzlicher ertönt. Der Krieg selbst erscheint in der epischen Darstellung
als eine höhere Nothwendigkeit, welche die Völker gegeneinander,
Europa gegen Asien, Jran gegen Turan waffnet! Welche launenhafte,
abenteuerliche Naturmacht ist das Meer! Wie verschwindet die Kraft der
Tapfersten, die List der Gewandtesten gegen das Geschick, das der Ocean
über sie verhängt! Wohin nicht wird Odysseus und Aeneas verschlagen!
Eine Welt der Abenteuer und des Zufalles für den Menschen; aber diese
Zufälle sind nur der Wogenschlag des Oceans, nur die Ausflüsse einer
Naturgewalt, gegen deren festgeordnetes Gesetz die Kraft der Helden oft
vergebens ankämpft! Aber daß sie kämpft, daß sie ausdauert und sich
bewährt, daß sie ruhmvoll untergeht oder siegreich zum Ziel gelangt ─
das giebt uns ein Bild epischer Thatkraft, die sich in immer neuem Anlauf
bewährt. Ja selbst die Liebe erscheint als eine Naturmacht; der
Epiker kennt die strenge Sittlichkeit des Tragikers nicht. Aphrodite
beschützt Paris und Helena ─ und die leichtsinnige Ehebrecherin, die Urheberin
des großen Völkerkrieges, kehrt nach Jliums Zerstörung an der Seite
ihres Gatten und mit dem alten Rechte der Gattin in die Heimath zurück.

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Der Epiker sieht die Welt als ein Ganzes in unendlicher Verkettung
von Ursache und Wirkung. Diese innere Nothwendigkeit duldet und
erklärt den Zufall. Für das neue Epos und den Roman besteht die
geistige Welt der Kultur, des politischen und socialen Lebens als eine
feste Macht, und in ihr kreisen die Räder der neuen Göttermaschinerie.
Der dramatische Held bricht in diese Welt mit einer kühnen That, welche
ihre Fäden verwirrt; der epische spinnt sich in diese Fäden ein und entwickelt
sich erst aus diesem Kulturgespinnst zu einem Falter, welcher die
Farben schönster Menschlichkeit auf seinen Psycheschwingen trägt. Die
stillwaltende Nothwendigkeit des Epos nimmt alle Bedingungen der
menschlichen Existenz in sich auf. Vor dem Auge des Epikers schwebt
immer der ganze Kosmos. Er ist kein sittlicher Rhadamanth! Er sieht
den Einzelnen verstrickt in ein Netz von Elementen, welche Natur und
Kultur ihm über das Haupt geworfen, seine Entwickelung ist ein Kampf
mit ihnen; der Epiker schaut sie mit den Augen des Spinoza sub specie
aeternitatis an und zeigt uns im Ringen des Einzelnen das Ringen
der ganzen Menschheit.


Aus diesem Anlehnen an die unerbittliche Logik des Weltgesetzes, an
die fest ineinander greifende Kette von Ursache und Wirkung folgt für die
Komposition des Epos die Nothwendigkeit einer stetigen Entwickelung,
eines ununterbrochenen Fortschrittes ohne Sprünge in Raum
und Zeit. Der Epiker kann uns durch weite Räume führen, aber wir
müssen den Helden Schritt für Schritt auf seiner Wanderschaft begleiten.
Es darf keine Lücke eintreten, wo uns seine Führung verläßt. Die Jrrfahrten
des Odysseus von Jlium bis zu seiner Heimkehr nach Jthaka
erfahren wir in ihrem vollständigen Zusammenhang, wenngleich ihre
Erzählung in sich gebrochen ist, da sie theils der Dichter selbst vorträgt,
theils seinen Helden vortragen läßt. Dadurch tritt eine kleine, aber
spannende Verschiebung in der Zeit ein, indem wir das Spätere mit dem
Helden selbst miterleben, ehe wir das Frühere aus seinem Mund erfahren.
Das Gesetz epischer Stetigkeit wird dadurch nicht verletzt; denn
die Erzählung selbst schließt sich zwanglos als eine Begebenheit an die
Kette der andern an. Wenn wir Odysseus bis zu den Fäaken, Aeneas
bis zur Dido begleiten: so gehört die Erzählung des Vergangenen mit in
den Kreis der Erlebnisse der Helden. Der neue Roman hat von diesem |#f0361 : 339|

Kunstgriffe der alten Epiker, diesen Einschachtelungen des Früheren in
das Spätere, der kleinen Erzählung seiner Helden in die große des Dichters,
einen ausgedehnten Gebrauch gemacht. Da uns der Epiker gleich
in medias res führen soll, so ist er in seinem guten Rechte, Früheres zur
Motivirung nachzuholen. Auch er darf die Spannung des Hörers
nicht vernachlässigen! Nur aus solcher Vernachlässigung erklärt sich die
ausgesprochene Abneigung der Neuzeit gegen die erhabene Langeweile
des großen Kunstepos, gegen dies Waten in epischem Sande. Wenn
man mit Schiller sagt: „der epische Dichter schildert uns das ruhige
Dasein der Dinge in ihren Naturen, sein Zweck liegt schon in jedem
Punkte seiner Bewegung;
“ so schwebt man in Gefahr, das lebendige
Ziel zu vergessen, das dieser Bewegung vorschweben muß. Die
Wahrheit dieser Behauptung trifft die epische Darstellungsweise und
ihre verweilende Plastik; aber als Grundgesetz des Epos hingestellt, wäre
ihre Einseitigkeit bedenklich. Kein neuer Roman ist spannender, als die
Odyssee ─ und wenn man die Langweiligkeit der Messiade damit vergleicht,
so erkennt man, daß die epische Kunst des Homer bei weitem
größer war, als die Klopstock's. Zwar die Spannung des Epikers ist
anderer Art, als die des Dramatikers. Diese geht energisch, bestimmt,
rasch nach der Zukunft; jene bewegt sich langsam, unter zahlreichen
Hemmungen, dem festen Ziel entgegen; ein Ziel, das als Ausgangspunkt
einer organischen Entwickelung mit Nothwendigkeit gegeben ist und
deshalb eine gewöhnliche Neugierde nicht zu überraschen vermag. Die
Spannung des Epikers geht auf die Vergangenheit. Jm Drama
muß der Zuschauer von Hause aus mit im Geheimniß sein; das Signalement
der einzelnen Personen muß ihm vollständig klar sein, die Ueberraschungen,
Verwechslungen finden nur unter den Mitspielenden selbst
Statt; für das Publikum giebt es kein zugeknöpftes Jnkognito. Wohl
wird hiergegen vielfach gefehlt; aber die unverhofften Entpuppungen,
die auch für den Zuschauer geheimnißvollen Gestalten sind undramatisch!
Ganz anders im Epos, im Roman! Hier finden die Mysterien der Vergangenheit
ihre Stelle! Die handelnden Personen haben ihre Antecedentien,
die sich uns erst allmählich enthüllen, ähnlich wie wir im Verkehr
des Lebens mit Charakteren zusammentreffen, deren Vergangenheit uns
erst nach und nach offenbar wird! Die Kunst des Epikers besteht nun |#f0362 : 340|

darin, auf diese Vergangenheit zu spannen, diese Spannung zu steigern
und die Enthüllungen in einem entscheidenden Moment eintreten zu
lassen, wo sie sich bedeutsam in den Gang der Geschicke verweben. Das
moderne Epos, der Roman, wird kaum ohne diese Spannung wirken
können, die eine naivere Zeit entbehren konnte. Die Welt der Wunder,
die sich in den Thaten der Götter und Helden in erstaunenswerther
Weise enthüllte, welche die Gemüther mit seltenem Zauber gefangen
nahm, bedarf in einer Zeit des nil admirari und der verschollenen
Himmelsgeheimnisse eines Ersatzes, der nur in den wunderbaren Verschlingungen
des Geschickes, welche die Gemüther anregen und spannen,
gegeben sein kann. Das Epos ist eine allmähliche Evolution verzweigter
Geschicke; es liegt eben so viel jenseits seiner Schwelle, wie diesseits, und
es ist die Kunst des Epikers, weder zu früh, noch zu spät mit dem richtigen
Tempo ein plötzliches Licht auf die dunkeln Massen fallen zu lassen,
sie aus der Nachtseite in die Tagseite der Geschichte zu rücken. Ganz
anders spannt der Dramatiker, der uns sein Drama wie ein Schachräthsel
vorführt, wo uns die bestimmten Figuren und ihre bestimmte Stellung
von Hause aus gegeben sind, und wo es nur auf die entscheidenden Züge
ankommt, die in gewandter und überraschender Kombination das Räthsel
lösen. Dramen, die aus Romanen ungeschickt gebildet sind, zeigen in
zahlreichen Erzählungen des Vergangenen, das noch jenseits des ersten
Aktes liegt und oft erst im letzten zur Sprache kommt, unverhüllt ihren
epischen Ursprung und die Verwechslung der epischen Spannung mit der
dramatischen.


Wir haben schon oben gesehn, inwiefern das Epos Einheit der
Handlung
erfordert. Diese Einheit schließt die Episode nicht aus,
im Gegentheil, „die Selbstständigkeit der Theile macht,“ wie Schiller
sagt, „einen Hauptcharakter des epischen Gedichtes aus.“ Die dramatische
Handlung schießt wie ein Pfeil nach dem Ziel; die epische schlängelt
sich wie ein Bach nach demselben hin. All die Krümmungen und
Biegungen, all die Ausweichungen bis zu halber Rückkehr gehören zum
Wesen des Epos, das an keiner lieblichen Stätte, die sein Gang berührt,
vorbei zu eilen braucht. Das Epos giebt uns ein Weltbild, dessen
Spiegel der Held ist, das Drama ein Heldenbild, dessen Spiegel die
Welt ist. Ja man kann im Epos überhaupt nur von Episoden |#f0363 : 341|

sprechen, wenn man das bestimmte Ziel, das seinen Schlußstein bildet,
in's Auge faßt. Der Epiker darf das Ziel indeß eben so gut aus dem
Auge verlieren, um das Weltbild nach einer andern Seite hin zu vertiefen,
mag die Beziehung zum Helden auch so locker wie möglich sein.
Freilich darf eine Episode nicht ein dramatisches Jnteresse haben, das
außerdem nicht einmal dazu dient, das Kulturgemälde zu vollenden. So
muß die Episode von Olind und Sophronia im zweiten Gesange von
Tasso's Jerusalem als müßiges Beiwerk getadelt werden. Schöne
Episoden sind ein Schmuck des Gedichtes und außerdem ein wirksames
Mittel des epischen Kontrastes, indem der Dichter durch sie das Ernste
und Heitere, Strenge und Zarte zu verschmelzen vermag. Wie der
Epiker in den Episoden den geraden Weg der Handlung verläßt: so
hemmt er ihn durch zahlreiche retardirende Motive. Der Strom des
Epos verläßt in Folge dieser Hemmungen sein enges Bette; er wird
zum See, der sich in die Weite ausdehnt, und kehrt dann wieder in
engere Grenzen zu geradem Laufe zurück. Die Winde des Aeolus,
welche, von den neugierigen Genossen des Odysseus aus ihren Schläuchen
entlassen, das Schiff des Helden zur Jnsel des zürnenden Sturmgottes
zurücktreiben, sind zugleich ein Bild und Beispiel dieser Hemmung. Auch
ist es nicht gleichgültig, wo der Epiker den Faden der einen Begebenheit
fallen läßt, um den einer andern aufzunehmen, welche zum ganzen
Verlauf seines Epos gehört. Homer verstand dies ebenso gut, wie es
Eugène Sue versteht, und wußte mit der epischen Technik in einer
Weise Bescheid, welche noch für die spätesten Epigonen lehrreich ist. Er
schildert uns z. B. die Reise des Telemachos und seine Heimkehr, ehe er
sich zu dem in der Grotte der Kalypso weilenden Odysseus wendet; aber
er läßt den jungen Helden nicht sicher in den Hafen von Jthaka einlaufen.
Er schildert uns die Verschwörung der Freier gegen ihn; er schildert uns
die angstvolle Erwartung der durch ein Traumbild erregten Penelope;
er schließt mit den Versen:


Aber die Freier im Schiff durchsegelten flüssige Pfade,
Stets des Telemachos Mord in grausamer Seele bewegend.
Mitten liegt in dem Meer ein Eiland schroff von Geklippe,
Dort wo Jthaka scheidet der Sund von der felsigen Samos,
Astoris, nicht sehr groß; da empfängt mit doppelter Einfahrt
Schiffe der Port; hier lauernd erwarten ihn die Achaier!
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Und hier bricht er ab und erzählt in einer langen Reihe von Gesängen
die Schicksale des Odysseus! Wie wird Telemachos ankommen?
Wird er dem Hinterhalt der Freier glücklich entgehen? Wird die sorgenvolle
Mutter den Geretteten wieder in die Arme schließen? Mit diesen
ungelösten Fragen entläßt uns der Dichter, hemmt die Erzählung mitten
in ihrem Verlauf und führt die Entwickelung der Hauptbegebenheit
weiter fort. Durch diese Hemmung fesselt er zugleich! Während wir
weiter hören oder lesen, bleibt im dunkeln Grunde unseres Gemüthes die
Erwartung zurück, den weiteren Fortgang jener abgebrochenen Begebenheit
zu erfahren. Dieser epische Effekt des Hinausschiebens ist dem
Dramatischen entgegengesetzt. Der Epiker schließt einen Abschnitt seiner
Dichtung in hemmender und abbrechender Weise; der Dramatiker im
Gegentheil schließt den Akt mit einem entscheidenden, zu voller Geltung
gebrachten Moment der Handlung. Die Technik des neuen Romans,
für welche das geschickte Abbrechen und Aufnehmen der Fäden ein wesentliches
Mittel ist, das Jnteresse immer wach zu halten, kann sich daher
auf das Muster der ältesten Volksepopöen berufen.


Was nun die Darstellungsweise des Epos betrifft, so läßt sie sich am
schlagendsten als eine „plastische“ bezeichnen. Hegel nannte die Bilder
des Epikers „Skulpturbilder der Vorstellung.“ Fest auf sich selbst ruhend,
wie aus Erz und Marmor gegossen, klar, bestimmt, von zusammenhängenden
Linien und Formen, bis in's Einzelne ausgeprägt, sollen die
epischen Gestalten vor unsern Augen stehn; Alles, was der Epiker schafft,
soll ein Reliefbild sein. Das Epos verlangt die höchste Objektivität des
Styles. Auch die innere Welt der Seele muß uns, wie die äußere, in
klarem Zusammenhang vorgeführt werden. Jn unserer Zeit der größern
Jnnerlichkeit läßt sich die Empfindung nicht immer durch die Anschauung
darstellen; aber die Welt der Empfindungen, der Vorstellungen, die vor
der Seele vorüberziehn, muß uns wie ein innerlicher Kosmos in klarer
Aufeinanderfolge dargelegt werden! Und niemals darf der Epiker seiner
eigenen Empfindung einen beredtsamen Ausdruck vergönnen! Sie darf
sich nur in der Wärme und Jnnigkeit offenbaren, mit der sie die Empfindung
seiner Helden durchdringt! Tiefe und zarte psychologische Entwickelungen,
wie sie sich in den Romanen einer George Sand, eines
Balzac u. A. finden, sind daher echt episch, sobald sie nur am Faden |#f0365 : 343|

innerer Nothwendigkeit verlaufen. Die Objektivität des Epikers kann
dadurch nicht verlieren, daß das Objekt ein innerliches wird! Es giebt
auch eine Plastik des Seelenlebens, und der Epiker wird heut zu Tage
der größte sein, der allen ihren Bedingungen gerecht wird.


Die Diktion des Epos wird klar und bestimmt, voll und würdig
einherfluthen! Die seelenvolle Bildlichkeit der Lyrik, die energische Metapher
des Drama wird hier durch die ausgeführte Vergleichung vertreten,
deren episches Wesen wir schon früher erörtert, und die sich wie eine
kleine gleichartige Episode in das Rundgemälde des Epos einfügt. Das
lyrische Element wird im strengeren Epos und dem ihm nachgebildeten
plastischen Roman z. B. in „Hermann und Dorothea“ und „Wilhelm
Meister“ kaum eine Stätte finden können; denn die begeisterte Gluth des
Epikers ist in seiner Schilderung immer latent und gebunden und darf
nie in entfesselter Flamme emporlodern. Anders verhält es sich mit den
lyrisch=epischen Mischgattungen, die sich im Mittelalter und in der neuen
Zeit ausgebildet. Die Romanze, die poetische Erzählung, z. B. Byron's,
der sentimentale Roman, wie Goethe's „Werther,“ der humoristische, wie
Jean Paul's „Titan,“ nehmen die reichsten Elemente lyrischer Stimmung
in sich auf. Da sich diese Gattungen historisch ausgebildet haben und
sogar in einer gewissen Breite die Literatur beherrschen: so kann ihre
Berechtigung für unsere moderne Poesie nicht in Abrede gestellt werden.
Für die poetische Erzählung würde indeß der wesentliche Fortschritt in einer
größeren Herausbildung des streng epischen Styles bestehn. An das
Dramatische, das dem Epischen seinem Wesen nach entgegengesetzt ist,
erinnert das Epos nur durch den Dialog, welcher in den alten großen
Volksepopöen keine geringere Bedeutung hat, als in den neuen Romanen.
Doch der epische Dialog ergeht sich in behaglichem Schildern und Ausmalen;
nicht blos der greise gerenische Nestor, sondern auch andere Helden
Homer's gefallen sich in einer weit ausholenden Geschwätzigkeit, in ausführlichen
Erzählungen ihrer Erlebnisse; und selbst wo sie einen in die
Handlung eingreifenden Rath ertheilen, motiviren sie ihn mit breit ausgeführten
Beispielen. Der dramatische Dialog ist bestimmt, schlagend,
zweckvoll, charakteristisch; der epische oft nur eine mittelbare Form der
Erzählung, indem der Dichter seinen Helden selbst zum Epiker macht und
ihm die lebensvollere Darstellung überläßt. Hierher gehört auch die |#f0366 : 344|

Briefform in einigen neueren Romanen. Der Dialog ist im Drama
wesentliche Form, im Epos zufällige Einkleidung.


Was nun schließlich die Versform des Epos betrifft, so kommen die
indischen Slokas, das Versmaaß des Firdusi, die Hexameter Homer's
und Virgil's und die Nibelungen- und Gudrunstrophe darin überein,
daß ihr Gang vollwogend und majestätisch, die Verszeilen langgestreckt
und geräumig und des rhythmischen Wechsels fähig sind. Die italienischen
Strophen, Dante's Terzinen, Tasso's und Ariost's Stanzen erreichen
dasselbe durch eine Architektonik, welche vorzugsweise auf den Säulen des
Reimes ruht. Der moderne Roman bedient sich der Prosa, welche allerdings
eine minder kunstvolle, aber geräumigere Form für die Darstellung
weitverzweigter Kulturverhältnisse ist. Die poetische Erzählung dagegen
schillert in den buntesten Rhythmen, wie es der Charakter dieser farbenreichen
Zwittergattung mit sich bringt. ──────


Zweiter Abschnitt.

Die Volksepopöe.


Die Volksepopöe ist die große Stammmutter aller epischen Dichtung.
Sie gehört einer Kulturepoche an, in welcher das Leben selbst noch keine
feste, verständige, organische Gliederung gewonnen, sondern sich gleichsam
durch die freie That des Menschen immer von Neuem erzeugte. Der
aufgeschlossene Sinn für das Schöne und Rechte, Gute und Wahre, der
Jnstinkt des Gemüthes bestimmt allein die Handlungsweise der Menschen.
Die barbarische Zeit roher Gewaltthat liegt hinter ihnen; aber noch sind
sie nicht in ein Zeitalter getreten, in welchem die Norm bestimmter und
fester Satzungen als Staatsmacht, religiöses und moralisches Kredo den
Willen des Einzelnen einem allgemeinen Gebot unterordnet. Noch fehlen
alle weitläufigen Vermittelungen einer Kultur, welche tausend Hände für
einander arbeiten läßt, sodaß weder der Gebrauch noch der Genuß frisch
von der Quelle schöpft, sondern sich nur ein Produkt aneignet, das bereits
die Stempel einer vielfachen Arbeit trägt. Wie ganz anders ist das
jugendliche, das heroische Zeitalter! Da hat der Held das Schiff selbst |#f0367 : 345|

gezimmert, auf dem er das Meer durchgleitet, den Wagen selbst gebaut,
auf dem er in die Schlacht eilt, das Roß selbst gezogen, das er an den
Wagen anschirrt! Nichts ist ihm fremd und äußerlich; in Allem sieht er
seine Thätigkeit, spiegelt sich seine Kraft. Kein kategorischer Jmperativ,
kein moralisches „Sollen“ läßt ihn so oder anders handeln; er folgt den
Eingebungen des Augenblickes, der Götter. Achilleus schleift in grausamem
Triumphe den getödteten Hektor um die Mauern Troja's, gewährt
aber mit menschlicher Rührung die Bitte des greisen Priamos, des eigenen
alten Vaters gedenkend! So sind diese Helden! Feurig folgen sie dem
wilden und edeln Zug ihrer Natur; es sind keine nach Paragraphen
gemodelten und zugestutzten Menschen; es sind Söhne und Enkel der
Götter! Darum sind auch diese Götter selbst für die Volksepopöe eine
Nothwendigkeit, und es giebt keinen schieferen Ausdruck, um ihre Wirksamkeit
in diesen Epen zu bezeichnen, als den einer Göttermaschinerie.
Nichts ist maschinenmäßig in diesem Verkehr der Götter und Menschen!
Die Mächte der Natur und des Gemüthes haben Menschengestalt angenommen.
Das Meer, das dem Odysseus die Heimkehr wehrt, wird
zum zürnenden Poseidon; und die Besinnung, die in der Brust des zornigen
Achilleus erwacht, erscheint hinter ihm als Zeus blauäugige Tochter
Athene und faßt ihn an seinem goldgelockten Haupthaar. Die Ermattung
des Patroklos stellt der Dichter dar, indem Apoll dem Helden, der
die unbesiegbaren Waffen des Achilleus trägt, in Rücken und Schultern
schlägt, ihm die Lanze zerbricht, den Helm vom Haupt und den Schild von
den Schultern reißt und den Harnisch löst! Und dem Odysseus, als er im
Kampfspiele der Fäaken den schwersten Stein am weitesten schleudert,
erscheint Athene in Gestalt eines freundlich zunickenden Fäaken, der ihm
die Stelle bezeichnet, wo sein Stein liegt, allen andern weit voraus! Wie
liebenswürdig ist hier das trostreiche Siegsgefühl in der Brust des Helden
in eine menschlich=göttliche Gestalt verwandelt! Und die Wildheit des
allgemeinen Krieges selbst, der nicht blos die einzelnen Helden, sondern
die kämpfenden Völker selbst im entfesselten Sturm der Schlacht gegeneinanderführt,
erscheint als Ares, der tobende Gott, und Götter kämpfen
gegen Götter.


Die Homerischen Götter sind indeß nicht blos personificirte Mächte
des Lebens; es sind individuelle, plastische Gestalten; sie haben ihre eigene |#f0368 : 346|

Geschichte, ihre eigene Lebenswirklichkeit. Doch in den Aether der olympischen
Heiterkeit getaucht, darf kein rauher Konflikt sie berühren. Wohl
wagt der kühne Diomedes, Aphrodite mit der Lanze zu verwunden durch
die unsichtbarmachende, von den Chariten selber gewebte Hülle. Laut schreit
die Göttin auf; unsterbliches Blut, klarer Saft rinnt aus der Wunde, und
die Schmerzbetäubte trägt die windschnelle Jris aus dem Getümmel zum
Olympos, wo ihre Wunden von Dionen's mütterlicher Hand geheilt werden;
denn kein sterbliches Loos ist ihr beschieden! Auch Ares schmachtete
in Fesseln, Here wurde von Amphitryon's Sohn verwundet ─ doch kurz
und vorübergehend ist die Passion der olympischen Götter. Jn ihrer
Ab- und Zuneigung zu den Sterblichen folgen sie den Eingebungen der
Laune; sie wählen ihre Günstlinge nach Wohlgefallen. Jhre unsterbliche
Heiterkeit ist so frei von der Verdumpfung irdischer Moral, daß sie mit
unermeßlichem Lachen sehn, wie die ehebrecherische Aphrodite mit Ares
ruht in Liebe gesellt, von den künstlichen Banden des sinnreichen, hinkenden
Gatten gefesselt! Und der Argostödter Hermes empfindet nur Neid
über diese Beschämung, und ruft:


Band', auch dreimal so viel, unendliche, möchten mich fesseln,
Und ihr all', o Götter, es schaun und die Göttinnen alle!
Dennoch ruht' ich gern bei der goldenen Aphrodite.


Die Götter des Homer sind seine Heroen, den Bedingungen der Sterblichkeit
entnommen, in selige ätherische Freiheit versetzt! Wie hinter den
Helden des Homer die Kulturkämpfe des barbarischen Zeitalters: so liegt
hinter seinen Göttern der ernste Titanenkampf, das Ringen mit den
Mächten des Abgrundes! Die Olympier und die Helden der Jlias und
Odyssee befinden sich in der goldenen Mitte einer harmonischen Zeit
und werden als die Urtypen göttlicher Menschen und menschlicher Götter
ewig zusammengenannt werden.


Die indischen Götter des Mahabharata und Ramayana erfreuen sich
nicht dieser harmonischen Klarheit. Hier wiegt eine theologische Dogmatik
vor ─ mitten in der Schlacht trägt Krishna dem Ardshuna auf
einem Streitwagen die achtzehn Gesänge umfassende Episode Bhagawatgita
vor, eine äußerlich eingeschobene mystische Dogmatik! Jm deutschen und
persischen Volksepos vertritt ein seltsames Zauberwerk, Siegfried's Tarnkappe,
die raubenden Greifen, der Zauberpfeil der Semiurg, die Göttermaschinerie! |#f0369 : 347|

Jn den „Nibelungen“ wie im „Schahname“ sind es
trotzige, auf sich selbst stehende Heroen, dort ein Heidenthum ohne Götter,
hier ein erhabener Fatalismus! Jn den Gesängen Ossian's vermitteln
die auf Wolken schwebenden Heldenschatten den Himmel und die Erde!


Zu den Bedingungen des heroischen Epos, welche allen diesen großartigen
Gedichten gemeinsam sind, gehört die Selbstständigkeit und
Unabhängigkeit der kämpfenden Helden, die dem Oberfeldherrn nur als
freie Bundesgenossen folgen. Der zürnende Achilleus sondert sich mit
seinen Myrmidonen vom Kampfe ab; ebenso Karna in dem Mahabharata,
der sich mit Bhishma erzürnt hat. Jn der „Gudrun“ sendet Frau
Hilde Boten zu ihren Freunden, zu Herwig, dem Dänen Horand,
zu Morung, Frute, Waten von Sturmland, um sie zum Kriegszug nach
der Normandie aufzufordern. Gleichberechtigte freie Helden ziehn in den
Kampf! Nur in den „Nibelungen,“ demjenigen Volksepos, das in seiner
Motivirung von dramatischer Jnnerlichkeit ist, wird das Vasallenthum
des Dienstmanns Hagen, der Siegfried ermordet, als ein entscheidendes
Motiv betont.


Eine vergleichende Anatomie des Volksepos, zu der Carrière*)
einige geistvolle Umrisse gegeben, läßt uns zwischen dem indischen, griechischen,
persischen und deutschen bedeutsame Aehnlichkeiten entdecken. Bei
allen vier Nationen ist ein feuriger Jugendheld, Karna-Achilleus=Sijawusch=Siegfried,
die am meisten fesselnde Erscheinung. Korna, der
Sohn des Sonnengottes, hat von seinem Vater einen undurchdringlichen
Panzer erhalten; Achilleus ist in den Styx getaucht und nur an der Ferse
verwundbar; Siegfried ist unverwundbar durch das Blut des erschlagenen
Drachen Fafnir und nur an einer Stelle zwischen den Schultern verletzlich.
Alle diese Lichthelden fallen in der Pracht und Blüthe der
Jugend; sie wahrten nicht ihre Reinheit; sie traten in nähere Berührung
mit dem feindlichen Element: Achilleus durch seine Ehe mit der Polyxena,
Sijawusch durch seine Vermählung mit Ferengis, der Tochter Afrasiabs,
Siegfried durch seine Heirath mit Chriemhild, durch seine Verbindung
mit den Nibelungen, den Kindern des Abgrundes! Aber im Untergange
dieser Sonnensöhne liegt zugleich eine ahnungsvolle Wehmuth ausgedrückt,

*)
Wesen und Formen der Dichtkunst S. 305 u. flgde.
|#f0370 : 348|

jener elegische Zug, der durch Ossian's Heldengedichte geht, am
ergreifendsten, wo er am Grabe seines Sohnes Oskar weint, die ewige
Klage, daß nichts Edles und Herrliches in dieser Welt Bestand hat, und
daß die Jugend selbst ein früher Tod ereilt. Und auch das Jugendalter
der Welt, das solche Helden schafft, hat keinen Bestand! Das ist ein
Zug weltgeschichtlicher Trauer, der durch diese großen Epopöen geht.
Auf den Fall jener Lichthelden folgt die Rache: Jlium's Zerstörung, Kai
Kosrus Rachezug gegen Turan, der Untergang der Burgunder durch
Chriemhild! Jn diesen blutigen und düstern Katastrophen findet die
epische Volkssage ihren Schlußstein.


Sehr richtig hat Carrière darauf hingewiesen, daß dem großen
Epos des Völkerkampfes und Heldentodes meistens ein sanfteres Epos
zur Seite ging, dessen Mittelpunkt die Verherrlichung der weiblichen
Treue bildet: Nal und Damajanti, die Odyssee, die Gudrun.
Nal und Damajanti ist bekanntlich eine Episode des Mahabharata,
eine umgekehrte Odyssee, in der das Weib in Wäldern und Städten
umirrt nach dem Manne, der sie verlassen, bis sie das Geschick wieder
mit einander vereinigt. Doch man könnte das Ramayana selbst als das
Epos der Treue betrachten, indem ja sein Held Rama die geliebte Gattin
Sita dem Wildnißriesen Ravanas auf einem siegreichen Heerzug
nach Lanka (Ceylon) wieder abkämpft. Sita beweist ihre Treue durch
ein Feuerordale. Auch hier bildet die glückliche Vereinigung der getrennten
Gatten den Schluß des Epos, das in seinem abenteuerlichen Zug
in die Ferne, einem Zug von kulturbringender Bedeutung, die durch den
Pflugträger, der den Helden begleitet, ausgedrückt ist, in dem
märchenhaften Zauber, der um diese Völker der Ferne, die Affenvölker
und ihre Helden schwebt, in seiner nicht auf einen Punkt koncentrirten,
sondern hinausschweifenden Kampfeslust an die Odyssee erinnert.


Auch darin kommen alle diese Volksepopöen überein, daß das Volk
in den entscheidenden Zügen der Sage dem Sänger vorgedichtet hat, der
mit künstlerischer Kraft und künstlerischem Bewußtsein aus diesen Ueberlieferungen
ein organisches Ganze schuf. Jn ihrer letzten Gestalt tragen
sie ein einheitliches Gepräge, das nicht blos auf eine ordnende Hand,
sondern auf einen schöpferischen Genius hindeutet, der wie eine Sonne |#f0371 : 349|

über dieser Sagenwelt aufging und ihre zerstreuten Gestalten in ein
gemeinsames und ewiges Licht setzte.


Unter allen diesen Epopöen nehmen Homer's „Jlias“ und
Odyssee“ den ersten Rang ein. Diese hellenischen Volksbibeln sind
zugleich gesetzgeberisch für das Epos aller Zeiten. Das Epos, als die
plastische Dichtung, mußte seine höchste Blüthe in jenem Volke jugendlicher
Plastik erreichen, das, einzig in der Weltgeschichte, dies Jdeal der
klaren und festen Formenschönheit vertritt. Die „Jlias“ behandelt
den Kampf vor Troja, nicht seine zehnjährige Belagerung, sondern die
entscheidenden Ereignisse des letzten Jahres, welche den Sturz der Veste
herbeiführten, Ereignisse, die ihren Mittelpunkt im jugendlichen Heldencharakter
des Achilleus finden. Die „Odyssee“ behandelt die Heimkehr
von Troja, indem sie ebenfalls einen Helden, den Odysseus, zum Mittelpunkte
macht und die Schicksale der andern heimkehrenden Helden nur
in zerstreuten Erzählungen einschaltet. Die seltene Meisterschaft einer
maaßvollen Darstellung, die von jeder Ueberladung frei und doch reich
an gesättigten Farben ist; die großartige Auffassung, welche, ohne die
Einheit des Epos zu opfern, ein Kultur- und Weltgemälde entrollt; die
unendliche Naivetät eines glücklichen Zeitalters, die sich in diesen Göttern
und Helden ausspricht; die kunstvolle Komposition, welche eine echt epische
Steigerung und Spannung nach Zielen hin, die von Anfang an klar
und bestimmt sind, zur Geltung bringt; die Plastik der Charaktere, die
bei allem Reichthum der Züge doch harmonisch, bei aller Kraft und
Größe doch echt menschlich sind; eine rhythmische Behandlung, welche
den Hexameter selbst, wie einen marmornen Vers, zu vollkommenem
plastischem Ausdruck meißelt ─ alle diese Vorzüge machen aus jenen
jonischen Gesängen ewige Muster der Kunst, aus denen noch die spätesten
Geschlechter die harmonische Durchdringung von Form und Jnhalt
erlernen werden, welche das Wesen des echten und unsterblichen Kunstwerkes
ist. Die indischen Epopöen, Mahabharata und Ramayana,
besonders die erstere, sind reich an großen und phantasievollen Zügen;
der Kampf der Helden auf ihren Elephanten und Streitwagen ist oft
mit anschaulicher Plastik geschildert; das indische Naturleben tritt mit
exotischem Arom vor uns hin, und die Lieblichkeit der Jdylle erinnert |#f0372 : 350|

oft an die Homerische ─ aber es fehlt dem ersten Riesenepos mit seinen
hunderttausend Sloken die künstlerische Einheit, die geschmackvolle Anordnung;
ein theosophischer Wust überwuchert das Ganze; es ist ein ungelichteter
Urwald der Phantasie! Und auch das zweite Epos, die maaßvollere
Schöpfung des Valmiki, kann sich mit den Homerischen Gedichten
weder an Klarheit noch an Rundung messen.


Vergleichen wir aber unsere alten deutschen Volksepopöen mit den
Homerischen: so entdecken wir alsbald den mehr nach innen gewandten,
germanischen Geist, welcher die That den Helden in's Gewissen schiebt;
wir finden Züge von mehr dramatischer als epischer Kraft, starke Charaktere,
die auf sich selbst ruhn, jene seltsame Mischung von Treuherzigkeit
und Wildheit, Liebenswürdigkeit und Barbarei, welche dem altgermanischen
Charakter eigen; wir finden die Frauen als bestimmende Mächte,
aus den Tiefen ihres Gemüthes heraus die blutigen Thaten geboren.
Dagegen befremdet uns in der Darstellung das Holzschnittartige, Nüchterne,
Kahle; die farblose Erzählungsmanier, die Gleichgültigkeit gegen
die Bedeutung der Ereignisse, indem oft das Unwichtige ausgemalt, das
Wichtige flüchtig skizzirt wird und eine nicht geringe Zahl roher, nicht
ewig menschlicher Motive, wie z. B. die Bändigung der wilden Brunhild
durch den unsichtbaren Siegfried! Die Helden der „Nibelungen“
und der „Gudrun“ haben bei weitem nicht jene volle menschliche
Bestimmtheit, wie die des Homer; sie werden uns mit einzelnen, oft
abstrakten Zügen geschildert! Und wenn uns auch der Bart des biedern
„Wate“ in der „Gudrun“ mit größerer Anschaulichkeit gemalt wird, als
das blonde Gelock des Menelaos: so können wir uns doch mit diesem
gutmüthigen Frauenschlächter, diesem nordischen Nena Sahib nicht
befreunden. Wenn uns daher die altgermanische Heldenwelt durch ihre
Jnnerlichkeit näher zu treten scheint, als die Homerische: so hat diese
Jnnerlichkeit, in ihrer gewaltsamen Art und Weise, in der Mischung
kecker Kontraste des Gemüthes, doch wieder etwas Befremdendes für
uns; wir fühlen uns den Charakteren Homer's verwandter, denn sie
vertreten das Jdeal einer schönen Menschlichkeit. Selbst die hellenischen
Frauen, die sinnige, häusliche, ausharrende Penelope, die schöne, leichtfertige
Helena entsprechen dem weiblichen Jdeal mehr, als die Mannweiber
der Nibelungen; tritt doch sogar Chriemhild, die anfangs ein |#f0373 : 351|

sanfteres Gegenbild gegen die wilde Brundhild zu sein scheint, nachher
als eine ganze Geschlechter vertilgende Rachefurie auf! Anders verhält
es sich freilich mit der „Gudrun,“ dem würdigen Gegenbilde einer
Damajanti und Penelope, deren in jeder Bedrängniß ausharrende Treue
einen rührenden Eindruck macht. Die Befreiung der Gudrun durch die
Helden des Nordlandes entspricht der Befreiung der Penelope von den
umwerbenden Freiern durch die Hand des Odysseus ─ nach der blutigen
Katastrophe tritt ein sanfter versöhnender Schluß ein, der durch die mehrfachen
Hochzeiten in der „Gudrun“ im Sinne des ritterlichen Epos und
des modernen Lustspieles in luxuriöser Weise ausgeführt ist.


Das große Epos von Jran, das „Schahname“ des Firdusi, ist
in der Naivetät der Darstellung allerdings dem Homerischen verwandt,
indem durch alle Urpoesie gleichmäßig die frischen von keiner Civilisation
abgestreiften Züge echter Menschlichkeit gehn. Doch fehlt diesem Epos
jene streng geschlossene Einheit, welche über alle Episoden übergreift; es
fehlt den Charakteren jene in sich selbst sichere Gediegenheit der Homerischen
Helden, welche den Göttern das Uebermenschliche überläßt. Das
Epos von Jran hat freilich keine Göttermaschinerie; es stellt seine Helden
ganz auf eigene Füße; aber gerade dadurch wachsen sie oft über das
menschliche Maaß hinaus zu urweltlicher Titanengröße. Und fehlt der
heitere Olymp mit seinen Menschengöttern, so rauschen doch unheimliche
Fabelwesen, wie die Simurg, mit düsterm Flügelschlag durch die Dichtung
und wirken bestimmend auf Menschenschicksal ein. Diese Simurg und
die dunkle Welt der Zauberei, die Welt phantastischer und kolossaler
Gestalten, erinnert vielmehr an die germanisch nordische Sagenwelt; und
in der That begegnen wir hier auch der verwandtesten poetischen Form.
Das Epos von Jran ist ein Epos des persischen Ritterthums, ein Cyklus
von Sagen, der über Geschlechter hinübergreift, und dessen einzige Einheit
der Kampf der Fürsten und Helden von Jran gegen ihre Feinde ist.
Es ist ein Krieg der Völker und Massen, wie in der „Jlias;“ blutige
Schlachten werden geschildert; aber, wie dort, bilden auch hier diese sich
hinwürgenden Massen, soviel Zinken- und Tubalärm auch ertönt, soviel
Blut auch vergossen und Staub aufgewühlt wird, mehr den dunkeln
Hintergrund des Gedichts. Der Kampf ist wesentlich ein Zweikampf; die
letzte vollgültige Entscheidung ruht auf der Tapferkeit der Einzelnen, der |#f0374 : 352|

vorleuchtenden Helden. So erinnert „der Kampf der elf Recken“ an den
Kampf der Horatier und Curiatier; so kämpfen Human und Bischen, Rustem
und Jsfendiar. An das deutsche Volksepos erinnert das persische auf der
andern Seite wieder durch jene in die Tiefen des Gewissens zurückgehenden
Konflikte, wie sie im „Untergang des Sijawusch,“ dem Höhepunkt
des Schahname, enthalten sind. Der junge Prinz hat Afrasiab, den
Schah von Turan, in einer dreitägigen Schlacht geschlagen und auf
seine Bitte mit ihm Frieden geschlossen. Doch Kai Kaws, der Vater
des Prinzen, nur auf die vollständige Vertilgung des Todfeindes bedacht,
geräth über diesen Friedensschluß in höchsten Zorn und befiehlt Sijawusch,
die von Afrasiab gestellten Geißeln ihm zuzusenden, den Krieg aber
nichtsdestoweniger fortzuführen. So steht Sijawusch schwankend zwischen
dem Gehorsam gegen den Befehl seines Vaters und Gebieters und
zwischen der Gewissenspflicht, treu zu halten an dem gegebenen Wort
und abgeschlossenen Vertrag. Er entscheidet sich für das letztere, heirathet
die Tochter des Afrasiab, fällt aber den Hofintriguen zum Opfer und
wird in grausamer Weise ermordet. Trefflich ist es motivirt, wie dieser
Prinz des lichten Jran sich in das finstere Turan verirrt, und wie ihn
dort die aufgebäumten Schlangen des mächtigen Reiches erwürgen.
Nichts hätte uns den Gegensatz der beiden Reiche so klar an den Tag
legen können, als dies Hinüberwandeln des Sterns von Jran in die
Sphären von Turan und sein beweinenswerthes Erlöschen am mitternächtigen
Himmel. Doch dieser Konflikt des Sijawusch, in welchem die
freie Selbstbestimmung des Helden in ihrer letzten Spitze die Entscheidung
trifft, ist im höchsten Sinne tragisch, und dieser Abschnitt des
persischen Epos ist noch mehr als die Nibelungen in dramatischer
Weise motivirt. Ebenso giebt es Abschnitte im Schahname, in welchem
die Lyrik überwiegt, wie z. B. „Sal und Rudabe,“ das
Gemälde eines indischen Frühlings, unter dessen Rosen und Jasminen
sich am Anfange der Zeiten zwei für einander geschaffene Wesen begegnen
und den Bund für Leben und Tod schließen. Wenn das Schwelgen in
dem Reize der äußern Erscheinung, das üppigprangende Kolorit in dieser
Darstellung leidenschaftlicher und zugleich zarter Liebe bezeugen, daß dieselbe
unter dem glühenden Himmel entstanden ist, dem wir das „Hohe
Lied“ und die „Gitagovinde“ verdanken, so fehlt doch nicht ein dem |#f0375 : 353|

abendländischen Gefühl verwandter Zug sanfter Schwärmerei und
Schwermuth.“ (Schack.) Mit ebenso reicher lyrischer Fülle ist die Beschreibung
des Lustortes von Sijawusch, Gangdes, und seiner paradiesischen
Umgebung ausgemalt. Während daher das Homerische Epos ein
Muster des streng epischen Kunstwerkes ist, während die „Nibelungen“
dramatisch episch, aber ohne jeden lyrischen Zug sind: gehört das Schahname
mehr zu jenen inkommensurablen Dichtungen, wo Episches, Dramatisches
und Lyrisches sich üppig durcheinander ranken. Das persische
Heldenbuch verleugnet den Charakter orientalischer Poesie nicht, wenn es
auch gegen die kolossale und phantastische Erhabenheit der indischen noch
maaßvoll erscheint. Die hyperbolische Darstellungsweise ist auch bei
Firdusi vorherrschend. Die Hyperbel ist hier kein müßiger Schmuck; sie
liegt den Handlungen und den Charakteren zu Grunde. Um uns einen
Helden interessant zu machen, häuft Firdusi auf ihn eine Fülle des Außerordentlichen,
so daß er durch das Unglaubliche seiner Kraft und seiner
Leistungen hoch über gewöhnliche Menschenkinder hinauswächst.


Wir haben früher als einen gemeinsamen, oft mehr, oft minder ausgeprägten
Zug dieser Volkepopöen das Elegische erwähnt und finden
diesen elegischen Grundton auch bei Firdusi in einigen herrlichen Stellen
angeschlagen. Abgesehn von jenen lyrischen Stimmungen, in denen sich
die Ueberzeugung von der Nichtigkeit der Erscheinungswelt spiegelt,
gewinnt die Klage über das Nichts und den leeren Schein des irdischen
Glanzes in dem Theile der Dichtung, welcher Kai Chosru's Verschwinden
behandelt, objektiv=epische Gestalt. Kai Chosru, der ruhmgekrönte
Sieger über Turan, ein orientalischer Karl V., wird auf der Höhe seines
Glückes welt- und lebensmüde, erklärt seinen letzten Willen, vertheilt
Schätze und Lehnbriefe an die Großen, nachdem er ihrem Rath und ihren
Ermahnungen widerstanden, der dunkeln Gewalt seines Schicksals, dem
tiefen Drang seiner Seele folgend. Er nimmt rührenden Abschied von
den Jraniern und seinen Töchtern, besteigt sein treues, schwarzes Roß
Bahsad, das in der Dichtung mehr eine elegische Rolle spielt, wie
Rustem's Roß Recksch eine heroische, reitet mit seinen treuen Pehlawanen
in das wüste Gebirge und verschwindet dort, während in den Wirbeln
eines Schneesturmes sein ritterliches Gefolge begraben wird. Dieser
Abschnitt hat einen eigenthümlich wehmüthigen, dunkel ergreifenden Zug. |#f0376 : 354|

Man sieht, der Dichter schwelgt hier recht in seinen Lieblingsgedanken,
die hier unter seinen Händen greifbare Gestalt gewinnen.


Eine die Objektivität des Epos ganz verschattende Gewalt gewinnt
indeß diese elegische Lyrik, diese Klage am frühen Grabe jugendlicher
Helden und des heroischen Zeitalters überhaupt in den gälischen Gesängen
Ossian's.
Jn seinen Hauptepen: „Fingal“ und „Temora
ist die Behandlungsweise der klassischen Homer's vollkommen entgegengesetzt.
Beide verherrlichen kriegerische Züge des Kaledonierhäuptlings
nach Jrland: im erstern eilt Fingal einem bedrängten irischen Häuptling
Kuchullin zu Hilfe; im zweiten rächt er die Ermordung des jungen
Königs von Erin Kormak an seinem Mörder Kairba und schlägt das
Heer Kathmor's in die Flucht. Es ist der Völkerkrieg der Jlias; aber
wie träumerisch ist die Behandlung! Jm Nebel wogen die Gestalten
durch einander, und nur flüchtig, wie ein sich durchkämpfender Sonnenstrahl,
erhellt die Poesie Ossian's bald den einen, bald den andern
seiner Helden! Der Komposition selbst fehlt es nicht an Einheit, aber
das Jnteresse der Handlung geht ganz verloren in diesen lyrischen
Schilderungen, welche eine träumerische Beleuchtung der Natur, eine
träumerische Stimmung der Seele zum Mittelpunkte des Gedichtes
machen, so daß die kämpfenden Helden selbst nur wie Schattenbilder
erscheinen, wie „streitende Geister über Wolken gebeugt.“ Vergänglichkeit
des Lebens und des Ruhmes ─ das ist's, was Ossian's Seele am
mächtigsten durchzittert, und so scheint es, als läßt er die Harfe aus der
Hand gleiten, welche die Thaten der Helden feiert, ehe das Lied ausgesungen;
denn die Wehmuth über die Nichtigkeit alles Jrdischen übermannt
ihn:


„Barde,“ sprach Kathmor, „was weckst Du mir
Das Gedächtniß derer, die flohen?
Hat sich ein Geist aus dem düstern Gewölk
Zum Ohr dir geneigt, um so Kathmor
Mit Sagen der Vorzeit zu schrecken?
Jhr Bewohner der wolkigen Nacht,
Eure Stimmen sind nur ein Hauch,
Der das Haupt der Distel erfaßt
Und ihren Bart auf die Bäche verstreut.“
|#f0377 : 355|


Die Kulturwelt Ossian's ist bei Weitem einfacher, als die Homer's,
und beschränkt sich auf einige dürftige Züge. Der König schlägt den
Kampfschild, wenn es zur Schlacht geht; der Barde besingt bei'm Mahl,
wo die Muschel im Kreis geht, die Helden der Vorzeit oder die Geschicke
der Liebe; die dem aufgehenden Mond verglichenen Schilde, die Schwerter,
Speere und Streitwagen erglänzen in flüchtigem Reflex dämmernder
Beleuchtung! Dagegen ist die landschaftliche Natur nicht eine
todte Umgebung der Helden; nicht nur ihre Thaten werden den rasenden
Stürmen und rauschenden Strömen verglichen, nicht nur sie selbst den
verschiedenen Sternen des Himmels ─ nein, diese hervorbrechenden
Waldströme, diese hochaufspritzenden Fluthen des Gestades, diese Winde,
die über die moosbedeckte Heide wehn und den Bart der Distel zerstreuen,
diese Lüftchen im Schilfe des flüsternden Stromes sind ja nur wie
Träume, die bald kühn und wild, bald bang und wehmüthig durch die
Seele der Helden ziehn, diese elegische Natur ist der Spiegel ihres
Jnnern, die Schatten von außen und innen verschmelzen sich zu jener
lyrischen Dämmerung, welche für Ossian die epische Plastik Homer's zu
einer Unmöglichkeit macht. Von den andern Volksepen, von denen wir
noch das Czechy'sche Epos von Zaboj und Slawoj, die serbischen epischen
Volksgesänge von König Lasar und Marko anführen, verdient
das finnische Zauberepos Kalewala besonders erwähnt zu werden, weil
es den eigenthümlichen Charakter dieser Stämme, ihre Sitten, ihre
landschaftliche Umgebung mit großer Wahrheit und Anschaulichkeit schildert.
Die finnischen Götter treten darin Alle auf; die Helden aber sind
große Zauberer, und der Wettkampf der Zauberei, zugleich mit einer
Hochzeitfahrt um die schöne Tochter Lonhi's, der Wirthin des Nordlandes,
bildet den Hauptinhalt des Epos. Es ist interessant, hier Anklängen an
die griechische Sage zu begegnen. So ist Wainämönen der finnische
Orpheus, der größte Sänger, der Erfinder der Leier; alle Wesen, auch
die Thiere, lauschen seinen Tönen. Dagegen ist Jlmarinen der
finnische Pygmalion, ein wundersamer Schmied, der sich selbst von Gold
eine Schöne bildete, die er wieder verließ, als er neben ihr zu ruhn versucht
hatte, weil sie bei aller Vollendung der Form so wenig in seinen
Armen erwarmen wollte, wie das elfenbeinerne Bild des griechischen |#f0378 : 356|

Bildners. Die Behandlungsweise ist nicht Ossianisch nebelhaft, sondern
von jener frostigen Klarheit und scharfen Zeichnung, wie sie dem starren
Winter des baltischen Nordens eigen ist. ──────


Dritter Abschnitt.

Das Kunstepos.


Unter Kunstepos verstehn wir, im Gegensatze zur Volksepopöe,
die Nachdichtungen derselben in einer späteren Zeit, in welcher das goldene
Zeitalter der Kultur, der naive Glauben an die Macht der Götter
und die Größe der Helden dahingeschwunden war und die Phantasie der
Dichter jene fehlende Frische und Unmittelbarkeit durch ihre Erfindungen
zu ersetzen suchte. Als Kunstwerk steht die Volksepopöe, besonders die
Homerische, hoch über ihren Nachdichtungen. Das „Kunstepos“ ist
nicht künstlerischer, sondern nur kunstvoller. Die Epopöe sammelt die
Sagen des Volkes und alle Ueberlieferungen in einer organischen Einheit;
das Epos ergreift einen Stoff der geschichtlichen Welt oder der
Tradition, die aber nur bestimmten Lebenskreisen, nicht dem ganzen Volke
angehört, und schmückt ihn mit Zügen willkürlicher, dichterischer Erfindung
aus. Das Genie eines Homer, Firdusi und Ossian ist größer,
als das eines Tasso, Camoëns und Milton; denn der Maaßstab
der heutigen Tages überschätzten dichterischen Erfindungskraft genügt nicht
für das tiefere Wesen des Genies. Die Bedeutung jener großen Volksdichter
liegt aber darin, daß der Geist ihrer Nation und ihres Jahrhunderts
in ihnen unmittelbar lebendig war, daß der schöpferische Jnstinkt
ihrer Phantasie mit dem politischen und religiösen ihres Zeitalters zusammenfiel,
während die Sänger der Kunstepen eine bereits fertige Kulturwelt
mit unwesentlichen Erfindungen bereicherten. Wohl sind die Epiker
der romanischen Völker Nationaldichter geworden, aber nicht Volks=
dichter im Sinne Homer's. Nur der große Dante hat die Plastik des
Katholicismus mit einer epischen Gewaltigkeit herausgebildet, die ihn
jenen ursprünglichen Volksdichtern nähert. Ueberhaupt steht das religiöse
Epos
späterer Zeiten der Volksepopöe am nächsten, während die
andern Kunstepen sich vergebens bemühten, jenen naiven Verkehr der |#f0379 : 357|

Götter und Helden durch Erfindungen zu ersetzen, welche in Wahrheit
erst den Namen einer Göttermaschinerie verdienten, indem sie an die
theatralischen Flugmaschinen und Wolkenwagen erinnerten.


Die Grundgesetze des epischen Styls gelten natürlich auch für das
Kunstepos, dessen Hauptverdienst es ist, seine Traditionen durch die Jahrhunderte
fortgepflanzt zu haben. Das Ziel des Kunstepos kann nur eine
Erfüllung mit volksthümlichem Gehalte sein; in seinen gelungensten
Schöpfungen steht es diesem Ziele nahe, das auch für unser Jahrhundert
nicht aus den Augen gerückt sein dürfte. Man hat allerdings den Roman
das Epos der Neuzeit genannt; aber so geeignet seine Form für weitgehende
Entwickelungen eines vielseitigen Jnhaltes und der ganzen
realistischen Lebenspoesie ist, so darf man doch nicht vergessen, daß seine
Kunstform nicht die höchste sein, nicht eine höhere für die Gegenwart und
Zukunft ausschließen kann. Denn indem der Roman den Kammerdiener
des Helden zu spielen das Recht hat, ist er der Höhe großer historischer
Persönlichkeiten und Begebenheiten nicht angemessen und läßt zunächst
das Bereich des Weltgeschichtlichen für eine epische Dichtung offen,
welche durch eine mehr würdevolle und getragene Form auch das historisch
Gegebene zu adeln vermag. Schiller trug sich in verschiedenen Epochen
seines Lebens mit dem Gedanken eines solchen modernhistorischen Epos,
zu dessen Helden er bald Friedrich den Großen, bald Gustav Adolph wählen
wollte. Jn Bezug auf den ersteren Stoff schreibt er: „Die Jdee, ein
episches Gedicht aus einer merkwürdigen Action Friedrich's des Zweiten
zu machen, ist gar nicht zu verwerfen, nur kommt sie für sechs bis acht
Jahre für mich zu früh. Alle Schwierigkeiten, die von der so nahen
Modernität dieses Süjets entstehen, und die anscheinende Unverträglichkeit
des epischen Tons mit einem gleichzeitigen Gegenstande würden mich
so sehr nicht schrecken. ─ Ein episches Gedicht im achtzehnten Jahrhundert
muß ein ganz anderes Ding sein, als eines in der Kindheit der Welt.
Und eben das ist's, was mich an dieser Jdee so anzieht. Unsere Sitten,
der feinste Duft unserer Philosophieen, unsere Verfassungen, Häuslichkeit,
Künste, kurz Alles muß auf eine ungezwungene Art darin niedergelegt
werden und in einer schönen harmonischen Freiheit leben, sowie in der
Jliade alle Zweige der griechischen Kultur u. s. w. anschaulich leben. Jch
bin auch gar nicht abgeneigt, mir eine Maschinerie dazu zu erfinden, denn |#f0380 : 358|

ich möchte auch alle Forderungen, die man an den epischen Dichter von
Seiten der Form macht, haarscharf erfüllen. Diese Maschinerie aber, die
bei einem so modernen Stoffe, in einem so prosaischen Zeitalter die größte
Schwierigkeit zu haben scheint, kann das Jnteresse in einem hohen Grade
erhöhen, wenn sie eben diesem modernen Geiste angepaßt wird. Es rollen
allerlei Jdeeen darüber in meinem Kopfe trüb durcheinander, aber es
wird sich noch etwas Helles daraus bilden. Aber welches Metrum ich
dazu wählen würde, erräthst Du wohl schwerlich. ─ Kein anderes, als
ottave rime. Alle andern, das jambische ausgenommen, sind mir in den
Tod zuwider, und wie angenehm müßte der Ernst, das Erhabene in so
leichten Fesseln spielen! wie sehr der epische Gehalt durch die weiche,
sanfte Form schöner Reime gewinnen! Singen muß man es können,
wie die griechischen Bauern die Jliade, wie die Gondoliere in Venedig
die Stanzen aus dem befreiten Jerusalem. Auch über die Epoche aus
Friedrich's Leben, die ich wählen würde, hab' ich nachgedacht. Jch hätte
gern eine unglückliche Situation, welche seinen Geist unendlich poetischer
entwickeln läßt. Die Haupthandlung müßte, wo möglich, sehr einfach
und wenig verwickelt sein, daß das Ganze immer leicht zu übersehen
bleibe, wenn auch die Episoden noch so reichhaltig wären. Jch würde
darum immer sein ganzes Leben und sein Jahrhundert darin anschauen
lassen. Es giebt hier kein besseres Muster als die Jliade.“ Diese Winke
Schiller's sind bedeutsam für die Neugestaltung eines volksthümlichen
Kunstepos, das weder in dem Roman, noch in der poetischen Erzählung
einen vollkommenen Ersatz finden kann. Wir mögen selbst von irgend
einer mythologischen und phantastischen Maschinerie abstrahiren, eine
äußerliche Forderung der Kunstrichter, die Schiller allzusehr imponirte,
obgleich auch auf diesem Gebiete noch ein genialer Treffer möglich war;
wir mögen hinter die ottave rime ein Fragezeichen machen, ohne gerade
den Hexameter an ihre Stelle zu setzen ─ aber im Wesentlichen zeigen
diese Betrachtungen Schiller's unsern Dichtern den Weg zu einer idealeren
epischen Kunstform, zu der sich unsere Poesie aus der jung=deutschen
Prosa-Zersplitterung und ihren Nachklängen, den ersten Gährungen des
modernen Elements, wieder emporraffen muß. Ein historisches Epos in
diesem Schiller'schen Sinne wird ebenso hoch über dem historischen
Roman stehn, wie Goethe's idyllisches Epos: Hermann und Dorothea |#f0381 : 359|

über den modernen Dorfgeschichten. Und dies meisterhaste Epos zeigt
uns zugleich, wie der Roman, auch als Kulturgemälde der Gegenwart,
noch eine höhere epische Form neben oder über sich verträgt! Die liebenswürdige
Jdylle des beschränkt bürgerlichen Lebens, im Gegensatz zu den
großen weltgeschichtlichen Bewegungen, die lebensvoll in sie eingreifen,
während ihre großen Hauptschläge in der Ferne verhallen, kann allerdings
nicht mehr in ebenbürtiger Weise behandelt werden; aber dies Kunstwerk
zeigt uns, daß auch die Verhältnisse unseres modernen socialen Lebens,
unserer Zustände, Einrichtungen, selbst die großen Weltereignisse der Neuzeit
sich nicht blos in der Romanprosa breitschlagen lassen, sondern für
die Jnspirationen einer höheren Begabung auch noch in einer höheren
Form ergiebig sind. Das gute Recht des Romans werden wir später
vertreten; aber er kann nicht den großen dichterischen Styl des Epos
ersetzen, welcher, nach den subjektiven Erhitzungen und Stürmen einer
Durchgangsepoche, deren Niederschlag der Roman ist, gewiß wieder
seinen Meister finden wird.


Wir können das Kunstepos, nach seiner historischen Entfaltung,
in das historische, das romantische, das religiöse und das
komische unterscheiden und wollen auf die einzelnen Arten einen flüchtigen
Blick werfen.


1. Das historische Epos.


Das historische Epos der Griechen und Römer lehnte sich vorzugsweise
an den Sagenkreis der Jliade an; aber es fehlte allen späteren
Dichtern die Homerische Simplicität, Größe und Würde, die Naivetät
der Jnspiration. Die Einheit der Komposition wurde aufgegeben; das
Kunstwerk zersplitterte sich in eine Fülle von Episoden. Die Kykliker
verherrlichten die Geschichte der Helena in biographischer Ausführlichkeit
(Kypria von Stasinos), die Geschichte des Achilleus und des Aethiopierkönigs
Memnon (Aethiopis von Arktinos), die Zerstörung Jlions, die
Rückkehr der „Atriden“ u. s. f.; ja Eugammon gab in seiner „Telegonie“
eine Fortsetzung der „Odyssee,“ deren Held Telegonos, der Sohn
des Odysseus und der Kalypso ist. Andere Kykliker schufen das dorische
Epos, indem sie vorzugsweise in der Thebais, Oedipodie u. s. f. den thebanischen
Sagenkreis ausbeuteten. Aus dem kunstvollen Volksepos wird |#f0382 : 360|

eine Art mythischer Geschichtschreibung in Versen. Spätere epische
Dichter einer Epoche, in welcher sich lyrische und dramatische Poesie
bereits entwickelt hatten, konnten von diesen Einflüssen nicht unberührt
bleiben. So rühmt man an der Thebais des Antimachos, dem
Lieblingsepos des Kaisers Hadrian, den erhabenen Styl und, im Gegensatze
zu Homerischer Einfachheit, die uneigentliche bilderreiche Ausdrucksweise.
Jnteressant bleibt der Versuch des Choerilos, ein streng=historisches
Epos aus der jüngsten Gegenwart zu dichten und in seiner „Perseis
den Sieg der Athener über die Perser ohne jede mythische Beimischung
zu besingen. Die Argonautika des Appolonius Rhodus
dagegen aus dem alexandrinischen Zeitalter schließt sich wieder enger an
das Homerische Vorbild an.


Das große Epos der Römer, die „Aeneis“ des Virgilius Maro,
das Werk eines gewandten Kunstverstandes und patriotischen Sinnes, ist
eine pathetische Nachdichtung der naiven Homerischen Muster. Homer
dichtete durch das Volk, Virgil für das Volk. Ein lebendiges Nationalgefühl,
verbunden mit einer klugen Berechnung, ließ ihn jene Elemente
der alten Sage auswählen, an welche sich die Herrlichkeit und Majestät der
römischen Traditionen ungezwungen anknüpfte. Wie schmeichelhaft mußte
es für die Römer erscheinen, von jenem tapfern Aeneas abzustammen, den
ein Göttergeschick an Latiums Küste führt! Wie fesselnd wußte der Dichter,
unbekümmert um alle Anachronismen, in der Episode von Dido und
Aeneas ein individuelles Geschick zum Spiegel des Völkergeschickes zu
machen und im Scheiterhaufen der von Liebe besiegten Dido den Brand
Carthago's ahnen zu lassen! Und nicht blos an die glänzendsten Reminiscenzen
der römischen Geschichte, an die punischen Kriege erinnerte diese
Episode ─ es lag in ihr zugleich eine feine Schmeichelei für den großen
Cäsar Augustus, der sich ebensowenig wie Aeneas von einer andern
syrisch=lybischen Fürstenschönheit, der üppigen Cleopatra, verlocken ließ,
seiner geschichtlichen Sendung untreu zu werden! Wie imposant erscheint
in der Unterwelt die Weissagung des Anchises von der Zukunft des
völkerbeherrschenden Roms! Und indem so Virgil sein Epos mit allen
jenen schmeichlerischen Zügen ausstattete, welche ihm die Bewunderung
und Dankbarkeit der Quiriten sichern konnten, bewahrte er zugleich auf's
Strengste die künstlerische Einheit der Komposition durch den bestimmten |#f0383 : 361|

und lebendigen Zweck, der die Begebenheiten beherrscht, und wählte seinen
Stoff so glücklich, daß er zugleich die „Aristeia“ und den „Nostos,“
die „Jlias“ und „Odyssee“ vereinigte. Freilich erinnert er oft an diese
Muster und nicht zu seinem Vortheil, indem der Adel und die Würde
seiner Darstellung, ihr feierlicher Gang in einem kunstvoll beherrschten
Rhythmus nicht zu jenen Erfindungen passen will, welche die naive Muse
Homer's in göttlicher Unbefangenheit und köstlicher Frische ausgeführt!
Wo sich dagegen die Handlung mehr zum Pathetisch-Tragischen wendet,
wie im Geschicke der Dido und der Camilla: da macht das reifere Zeitalter
der „Cleopatra,“ welchem bald das der Messalinen folgte, seine
Rechte geltend, und das Pathos energischer Frauenseelen und einer leidenschaftlichen
Liebe wird mit hinreißender Energie ausgeführt! Hier liegen
auch die Uebergänge von dem Epos des Virgil, das durch den letzten
Zweck der Staatengründung und einen durchgängigen prophetischen Zug,
der auf Roms Größe hinweist, einen politischen Charakter hat, zu
dem romanischen Epos des Tasso und Camoëns. Was aber außer
Virgil von römischer Epik bekannt: das Gedicht des Naevius über
den punischen Krieg, Rom's Annalen von Ennius in Verse gebracht,
die Pharsalia des Lukan, des römischen Choerilos, der den naheliegenden
Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompejus ohne alle Mythik
mit rhetorischem Schwung schildert, des Silius Jtalicus Dichtung
über den zweiten punischen Krieg, des Papinius Statius Thebais
und Achilleis: das bewegt sich entweder gänzlich im Gleise der überlieferten
hellenischen Formen oder erstickt das freie Spiel dichterischer Erfindung
und Darstellung unter der Wucht des historischen Pathos.


Der Jtaliener Torquato Tasso, der eine Epoche zügelloser
romantischer Erfindung wieder mit einem einheitlichen Epos, die freigeistigen
Spiele chevaleresker Phantasie wieder mit kirchlichem Ernst
abschließt, ist in seinem „befreiten Jerusalem“ der Wiedererwecker
des historischen Epos, der Virgil des Mittelalters. Auch er traf, wie
Virgil, mit richtigem Jnstinkt einen Stoff, der für das neue Rom, die
Beherrscherin des Mittelalters, von gleicher Bedeutung war, wie der
Stoff der Aeneis für das alte, die Beherrscherin der alten Zeit. Der
erste Kreuzzug, die Eroberung Jerusalems durch die Schaaren Gottfried's
von Bouillon koncentrirt die ganze Völker bewegende Energie des kirchlichen |#f0384 : 362|

Glaubens. Doch wie abgeschwächt erscheint dieser bei Tasso, im
Vergleich mit Dante! Wie frostig abstrakt, ähnlich den Göttern des
Virgil, erscheinen bei ihm Gott und Teufel, die christlichen Merkure, die
Engel, und der heidnische Hofstaat des Satans! Dagegen greift die
Zauberei der Nekromanten thatkräftig in die Handlung ein, zu Ungunsten
der Helden, welche ihre Siege oft nur durch Zaubergewalt davontragen.
Die ariostischen Episoden, Rinaldo und Armida, die Zauberin, die von
der Tigerin gesäugte Clorinde, die wilde Heidin, welcher eine späte
Nothtaufe das Tigerblut heiligt, und Tankred, Episoden, von denen
besonders die erstere fast zum Mittelpunkt der Handlung gemacht wird,
wollen zum Ernste des gläubigen Kampfes nicht passen! Wie schwächlich
sind diese Helden, der üppige Rinaldo, dessen Hauptthat, die Entzauberung
des verrufenen Waldes, durchaus als eine innerliche Entsühnung
erscheint, der sentimentale Tankred in seinem unritterlichen
Jammer! Auch die Erfindungskraft des Dichters erscheint gering ─ das
Schema Virgil's und Homer's schwebt ihm fortwährend vor; eine große
Zahl von Schilderungen erinnert bis in's Einzelne an die Gesänge des
Schwans von Mantua, während die mehr phantastischen Bilder zum
großen Theil der reichen Phantasie des Meisters Ludoviko und seiner
Vorgänger entlehnt sind! Dennoch genügt das, was dem Tasso eigen,
die Wärme eines romantischen Liebesgefühls, das weiche glänzende
Kolorit der Darstellung und die unnachahmliche Magie einer in sehnsüchtigen
und zauberischen Rhythmen ergossenen Sprache, seinem Heldengedicht
eine dauernde nationale Bedeutung zu sichern. Wie Tasso steht
auch Camoëns an der Grenze des Mittelalters; aber wie jener den
Blick rückwärts wendet, so dieser vorwärts in die Zukunft! Es ist das
frische rührige Leben seefahrender Nationen,


Die Zauberluft, die ihren Zug umwittert,


die moderne Thatkraft und der Reiz exotischen Lebens, der seine „Lusiade,
deren Mittelpunkt die Entdeckung Ostindiens durch Vasco de
Gama ist, zur portugiesischen Nationaldichtung gemacht hat. Aber der
wackere Krieger und Seemann, der frisch aus dem eigenen Erlebniß heraus
dichtete, war wohl glücklich in der Schilderung, besonders in unübertrefflicher
Seemalerei, aber unglücklich in eigenen reizvollen Erfindungen und
seine wettergebräunte Muse vermischte mit der Ungenirtheit eines Seemannes, |#f0385 : 363|

der sich um theologische Fragen nicht kümmert, die heidnische und
die christliche Sagenwelt. Einen ähnlichen exotischen Stoff behandelte der
spanische Epiker d'Erzilla in seiner „Araucana,“ die Besiegung der
Rebellen von Arauko an der Küste von Chili durch die Spanier.


Die neue Zeit sucht vergebens nach einer Form für das historische
Epos,
das dennoch eine dichterische Nothwendigkeit ist und durch den
historischen Roman nicht ersetzt werden kann. Voltaire, der in seiner
Henriade“ den Homer und Virgil erreichen wollte, erreichte kaum
den Lucan, dem er durch die Wahl eines nationalen Stoffes aus einer
Zeit der Bürgerkriege verwandt ist. Seine allegorische Maschinerie
macht einen nüchternen Eindruck; Erfindungen, wie die Reise Heinrich's
V. zu Elisabeth, befremden als unhistorisch; der Palast der Schicksale,
der Anblick der Thronfolger Heinrich's, erinnern an den Besuch des
Aeneas in der Unterwelt und die Prophezeiungen des Anchises. Doch
sind einzelne Schilderungen, wie die der Bartholomäusnacht, lebendig ─
und die Feier der Toleranz im geöffneten Himmelreich entspricht dem
Zeitalter der Aufklärung. Glover's „Leonidas“ ist einfach kräftig,
aber ohne Bedeutung; ebenso wie die „Kolumbiade“ der Madame
du Bocage. Neuere epische Versuche, wie die Napoleonischen Gedichte
von Barthélemy und Méry, Pyrker's „Tunisias“ und „Rudolfias,“
Scherenberg's „Waterloo“ und „Leuthen,“ denen sich mein
Carlo Zeno“ und „Sebastopol“ anreiht, scheinen ihre Bedeutung
darin zu finden, daß sie als Studien des epischen Styles betrachtet
werden können, der sich zu reiner und plastischer Objektivität aus den
episch=lyrischen Mischungen Byron's, Lenau's, Meißner's herauszuarbeiten
sucht. Dieser epische Styl würde dann in einem modernen
Kunstepos, wie es Schiller vorschwebte und das vorzugsweise ein historisches
sein würde, der Träger der Dichtung werden. Die epische Tradition
des Kunstepos von Virgil her, die sich durch Tasso, Camoëns,
Voltaire
u. A. hindurchzieht und eine etwas blasse Charakteristik, eine
abstrakte Göttermaschinerie und die stereotype Wiederkehr derselben pathetischen
und prophetischen Situationen im Gefolge hat, muß aufgegeben,
mit einem neuen epischen Schema vertauscht werden. Wie Tasso die
Aventuren der Rittergedichte in sein Epos aufnahm: so verträgt das
modern=historische Epos die novellistische Episode, die spannend sein |#f0386 : 364|

darf und soll, aber zugleich ein Kulturbild geben muß. Der Weltgeist,
der Geist des historischen Fortschritts, im Bewußtsein und in den Thaten
der Helden lebendig, ersetzt die alte Göttermaschinerie. Eine schöne dichterische
Form aber wird die Nothwendigkeit des historischen Epos und
seinen Unterschied vom Roman von selbst in das klarste Licht setzen.


2. Das romantische Epos.


Diese freiere epische Form, welche die organische Einheit des strengern
Epos zerbricht, das Historische in freie Phantasiespiele auflöst, die Volkssage
durch eigene sagenhafte Erfindungen ersetzt, persönliche Geschicke an
die Stelle des Weltgeschickes setzt, deren Muse nicht die göttliche Begeisterung,
sondern die irdische Phantasie ist, gehört eigentlich dem Mittelalter
an als üppige Blüthe aller Licenzen des Ritterthums in der Welt
des Herzens und auf dem Gebiete der That. Dennoch findet ihr großes
Muster Ariosto bereits im Alterthum ein glänzendes Vorbild an dem
geistvollsten Dichter Roms, Ovidius Naso, der in seinen „Metamorphosen
die Abenteuer der Götter und Menschen, nicht mit Homerischer
Naivetät, nicht mit gläubiger Andacht, sondern mit dem üppigen
Behagen einer freispielenden Phantasie darstellte, welche in den alten
Mythen einen willkommenen Stoff für bunte und lebendige Schilderungen
und die Arabesken einer geistvollen Reflexion fand. Obgleich wir
weder an die Götter des Alterthums, noch an die Wunder der Ritterwelt
glauben: so fühlen wir uns doch bei Ovid und Ariosto vollkommener
heimisch; denn diese Dichter setzen einen Glauben nicht voraus, der ihnen
selbst fremd ist. Für ihre Phantasie hat die Welt keine Schranken, alle
Schwere des Stoffes ist aufgehoben, die Gesetze der Kausalität sind in
ihrer Märchenwelt suspendirt ─ und diese Schrankenlosigkeit erweckt bei
uns dasselbe Behagen, von dem jene Dichter durchdrungen sind, und das
sich als ein Lächeln feiner Jronie in ihren Zügen spiegelt. Die Darstellung
ist bei Ovid und Ariosto oft echt episch, aber der Eindruck, den
sie hervorbringt, ist kein epischer. Das Talent dieser Dichter ist größer,
als das von Virgil und Tasso; aber an die Stelle des ordnenden
Kunstverstandes tritt bei ihnen das willkürliche Spiel der Phantasie.
Jn den „Metamorphosen“ herrscht eine eigenthümliche Seelenwanderung; |#f0387 : 365|

Thiere, Bäume, Blumen haben eine menschliche Vorgeschichte.
Wölfe, Hunde, Schwalben und Nachtigallen, Schwäne und Eisvögel,
Lorberbäume, Eichen, Anemonen, Narcissen und Hyacinthen ─ Alles zeigt
uns auf einmal ein menschliches Gesicht und plaudert die Märchen seiner
Verzauberung aus! Wie sinnreich ist die Geschichte des Phaëthon
und die des Narciß, wie pathetisch bewegt die der Medea, des Ajas,
wie glänzend, geistreich, farbenreich der Styl des Ovid überhaupt, ein
buntes Kaleidoskop zusammenschießender Mythenbilder! Sein mittelalterlicher
Nachfolger gab im „rasenden Roland“ zwar nicht blos
eine Reihenfolge von einander unabhängiger Erzählungen; aber doch
eine Mosaik von Episoden aus dem Karolingischen Sagenkreise, deren
Zusammenhang durchweg äußerlich und locker! Die Phantasie des
Ariosto war bei den Alten, besonders bei Ovid, in die Schule gegangen
─ die alten Mythen treten in neuer Einkleidung wieder auf! Wer
erkennt nicht in der an den Felsen geschmiedeten, dem Meerungeheuer
preisgegebenen Angelika und ihrem Befreier Ruggiero die Andromeda
und den Perseus wieder? Wer nicht in Orko den Polyphem, in Medea
den Nisus, in der auf einsamer Jnsel verlassenen Olympia die
Ariadne? Wieviel ist aus Lucan, Virgil, Homer, wieviel aus
den nordfranzösischen Ritterepen, wieviel aus Pulci, Bojardo und
andern Vorgängern entnommen! Die Originalität des Ariosto besteht
aber in der freiironischen, das Ritterthum in Phantasterei auflösenden
Auffassung. Ein Hauptmittel dieser Jronie ist die Hyperbel! Die
Hyperbel des Ariosto unterscheidet sich wesentlich von der naiven
Hyperbel der orientalischen Poesie. Die Tapferkeit der Ritter z. B. und
die Liebesinnigkeit der Frauen wurde vorzugsweise von den ritterlichen
Dichtern gefeiert. Doch wenn im Ariosto Rüdiger und Makramant mit
ihren Lanzen so hart aneinanderstoßen, daß die Splitter bis in die feurigen
Kreise des Himmels hineinfliegen und einige wieder angebrannt
herunterfallen, wenn Bradamante so glühende Seufzer auf Rüdiger's
Brief haucht, daß dieser in Feuer aufgegangen wäre, wenn nicht gleich
wieder ihre strömenden Thränen ihn benetzt hätten: so liegt in dieser
hyperbolischen Verzerrung im Vexirspiegel der Phantasie zugleich eine
freigeistige Verspottung jener für das Ritterthum wesentlichen Tugenden |#f0388 : 366|

und ihm heiligen Empfindungen! So ist das „tolle Zeug“ des Meisters
Ludovico, dies phantastische Schellengeläute der Phantasie, zugleich
ein Grabgeläute des Ritterthums.


Ernster gemeint ist die Romantik im höfisch ritterlichen Epos der
Deutschen, als dessen Höhepunkte Wolfram von Eschenbach's
Parcival“ und Gottfried von Straßburg'sTristan und
Jsolde
“ zu bezeichnen sind. Das mystische Element, das dem Sagenkreise
des heiligen Graals angehört, vermag indeß dem „Parcival
keine höhere, über das Abenteuerliche und rein Jndividuelle hinausgehende
Bedeutung zu geben! Und die sündig=sinnliche Liebesgluth in
„Tristan und Jsolde“ ist in ihrer reflektirenden Leichtfertigkeit von den
üppigen Phantasiespielen des Ariosto zu ihrem Nachtheile verschieden.
Neben glänzenden Höhepunkten der Darstellung findet sich in diesen Dichtungen
viel Einzelnes von ermüdender Breite, Schilderungen ohne Kraft
und Poesie, äußerliche Malereien, und die einförmigen Verse mit den
monoton wiederkehrenden Reimen machen einen ermüdenden Eindruck.
Jn England verdienen Chaucer's romantische Nachdichtungen und
Spencer's allegorisches Epos: Fairyqueen, dessen Nachwirkungen
noch bei Byron und Shelley nachzuweisen, unter den romantischen
Epen aufgeführt zu werden. Jn neuer Zeit haben die Ritterepen von
Alxinger und vor allen Wieland's „Oberon“ das romantische
Epos wieder aufzuwecken versucht, und Wieland's behaglich sinnige
Phantasie hat darin den Preis davongetragen. Die romantischen Dichtungen
Tieck's sind in dramatischer Form geschrieben ─ Brentano's
„Romanzen vom Rosenkranz,“ reich an diabolischer Genialität und an
den lieblichsten Stellen, zeigen bereits eine polemische Wendung gegen die
Zeit! Hiermit war die Harmlosigkeit des romantischen Epos aufgehoben,
und wenn auch Ernst Schulze in seiner „Cäcilie“ noch einmal seine
umfangreiche Verjüngung versuchte, in der „bezauberten Rose“ eine
letzte duftige Blüthe auf sein Grab legte, beides Dichtungen von harmloser
Phantastik, so war doch sowohl der „Amaranth“ von Oscar
von Redwitz, als auch Eichendorff'sJulian,“ „Robert und
Guiscard
“ u. a. bereits mit einer so feindseligen Reaktionspolemik
gegen den Geist der Gegenwart zersetzt, daß die echt romantische Heiterkeit
und Unbefangenheit gänzlich verloren gegangen ist. Jn der That |#f0389 : 367|

bedürfte Redwitz eines neuen Meister Ludoviko, der seine Charaktere
mit hyperbolischem Humor aufbliese und ausweitete, und sein Held
Jungwalter, der aufdringlich predigerhafte Ritter, eines neuen Astolf,
der ihm seinen Verstand in einer Flasche vom Monde herunterholte!


3. Das religiöse Epos.


Das religiöse Epos benutzt die Gestalten des Glaubens nicht als
eine in die Geschicke der Menschen eingreifende Göttermaschinerie, sondern
es macht sie zu selbstständigen Helden großer Dichtungen! Gehören diese
Gestalten dem dogmatischen Kreise des christlichen Glaubens an, so liegt
die Gefahr nahe, daß die epische Plastik verloren geht, daß an ihre Stelle
verschwimmende Umrisse treten, indem die Jnnerlichkeit und Vergeistigung
dieser Religion keine Skulpturbilder der Vorstellung duldet. Auf
der andern Seite schien dem Kunstepos eine neue Volksthümlichkeit zu
erblühn, indem es religiöse Stoffe wählte, welche im Herzen der Nation,
im Herzen der ganzen Christenheit lebendig waren. Die große Trias
der religiösen Ependichter Dante, Milton und Klopstock hat, bei
aller Bedeutung ihres Genius, die erste Klippe nicht vermeiden können,
aber ebenso durch die Wahl ihrer Stoffe eine tiefgreifende Volksthümlichkeit
gewonnen.


Dante und Milton haben vor Klopstock voraus, daß ihre religiösen
Epen zugleich eine politische Bedeutung haben, daß Dante die hervorragendsten
Männer seiner Zeit vor das erhabene Tribunal seiner weltgerichtlichen
Muse lud, daß Milton seinen kühnen puritanischen Rebellengeist
dem höllischen Lucifer lieh. Dante hat sich in seiner „göttlichen
Komödie,“ hervorgerufen durch die antiken Vorbilder, die Homerische
und Virgilische Schilderung der Unterwelt, auf welche er die Ueberlieferungen
seines Glaubens übertrug, von allen diesen Dichtern die größte
Freiheit der Phantasie bewahrt und verdankt der religiösen Vorstellung
nur den jenseitigen Kosmos, den er frei mit den Gestalten seiner Einbildungskraft
bevölkert. Die Weltgeschichte als Weltgericht in das Jenseits
verlegt, ─ das ist der Stoff seiner großartigen und unerschöpflichen
Jntuition in der divina commedia. Dabei war dieser große Ghibelline
volksthümlich in des Wortes strengster Bedeutung! Denn gerade was
ihn zum Liebling der heutigen gelehrten Analyse macht, die bis in's |#f0390 : 368|

Einzelne gehende Fülle von Gestalten, Thaten, Begebenheiten aus seiner
Zeit, deren fragmentarische Chronik er in den Abgründen seiner „Hölle,“
wie in den lichten Himmeln des Paradieses giebt: das war ja seiner
Gegenwart, für die er dichtete, durchaus vertraut, an's Herz gewachsen,
ohne jeden Kommentar verständlich! Seine nachahmenswerthe Bedeutung
für alle Zeiten besteht ja gerade in der frischen und freudigen Hingabe
an seine Zeit, von der er freilich auch die Mystik, den Scholasticismus
und die Liebe für symbolisirende Darstellung mit überkam! Die
sinnliche und lebensvolle Plastik des Katholicismus tritt am kräftigsten
in dem „Jnferno“ hervor! Hier ist Größe der Anschauungen, eine architektonische
Klarheit, welche den Grundriß des höllischen Trichters nirgends
aus den Augen verliert, sondern ihn bis in jeden einzelnen Abgrund
mit Treue und Genauigkeit ausführt; hier ist eine Meisterschaft der
Zeichnung mit großen, bestimmten, sichern Zügen; hier eine Fülle
ergreifendster Schilderungen von dem süßen Liebesgeflüster einer Francesca
da Rimini bis zu Ugolino's Hungertod; hier eine erstaunenswerthe
Erfindungskraft in Bezug auf das gigantische Marterzeug in dieser
Folterkammer der Menschheit! Jm „Purgatorio“ tritt an die Stelle
der gewaltigen Plastik eine sanftere Malerei, welche im „Paradiso“ von
einem ätherisch=scholastischen Hymnenschwung abgelöst wird, von einem
vorwiegend musikalischen Element!


Milton und Klopstock legten von Hause aus ihrer Phantasie
Fesseln an, indem sie aus dem alten und neuen Testament Stoffe entnahmen,
die für den Glauben einen so festen und unerschütterlichen
Jnhalt haben, wie keine profane Ueberlieferung. Die dichterische Erfindung
war daher auf einen kleinen Kreis beschränkt und mußte selbst mit
vorsichtiger Schonung des heiligen Jnhalts zu Werke gehn. Milton's
großer Genius dichtete in die Ueberlieferung des alten Testaments einen
tiefen Sinn hinein, welcher dem Bewußtsein seiner Zeit angehörte! Als
Puritaner fand er im Akt sinnlicher Liebe die Ursünde der Menschheit ─
diese Ursünde ist das Motiv des „verlorenen Paradieses.“ Jn
Adam und Eva schilderte er die typischen Urmenschen, sein „Paradies“
ist eine reizende Jdyllik landschaftlicher Natur. Der epische Kampf aber
spielt zwischen Himmel und Hölle, die hier in ihrem polaren energisch
bewegten Gegensatz geschildert werden. Der Fürst dieser Hölle, Lucifer, |#f0391 : 369|

der Urahn der Byron'schen und Shelley'schen skeptischen Teufel, ist weder
ein Dante'sches inkarnirtes Ungethüm, noch ein lustiger Volksteufel ─
er ist der Urprotestant, dem Himmel und Hölle gleichgültig, weil der
Geist seinen Himmel und seine Hölle in sich selbst trägt! Die ewige
Rebellion des freien Gedankens gegen die Autorität ist der religiösphilosophische
Gegensatz in Milton's „lost paradise,“ das reich ist an oft
bizarren, oft aber überaus anmuthigen und schönen Schilderungen! Wenn
in ihm, neben dem Gedankenvollen, das Malerische überwiegt, so in
Klopstock's „Messiade“ das Musikalische, ein theologischer Schwung
aus voller Brust, ein Hymnen- und Oratorienstyl mit oft erhabenen, oft
gedankenleeren Anläufen. Die Umdichtung der alten Evangelien=
Harmonieen im Element einer neuen, antikbiblischen Form und durch
einen schwunghaften Genius mußte für unsere literarische Entwickelung
Epoche machend sein, erreichte aber bei weitem nicht die plastische Größe
des Dante'schen „Jnferno,“ die Gedankenhoheit des Milton'schen Paradieses.



Jn Dante und Milton ist der religiöse Stoff philosophisch erfaßt
─ noch mehr wird unsere Gegenwart das religiöse Epos in das philosophische
verwandeln. Byron's Mysterien, Goethe's „Faustiade“ und
andere hier einschlagende Dichtungen haben zwar keine strenge, sondern,
wie schon Dante's divina commedia, eine über die Gattungen übergreifende
Kunstform. Doch läßt sie die dialogisirte Einkleidung, die
Nachahmung der alten Mysterien, Moralitäten und Volksschauspiele der
dramatischen Dichtung einreihn. Dagegen dürfte Julius Mosen's
Ahasver“ beweisen, daß ein religiös=philosophisches Epos in strenger
Form auch für unsere Zeit noch zu dichten ist; ja es scheint uns zweifellos,
daß die plastische Form des Epos, die auch ein geistiges Universum
zu spiegeln vermag, sich besser für religiös=philosophische Dichtungen eignet,
als die dramatische, indem der Dialog nicht die Breite und Fülle einer
universellen Darstellung ersetzen kann.


4. Das komische Epos.


Wie für das Erhabene, ist die epische Darstellungsweise auch für das
Komische geeignet, das die Breite der Sinnlichkeit liebt. Das Komische
kann geradezu als Parodie des Erhabenen auftreten ─ so parodirte der |#f0392 : 370|

„Froschmäusekrieg“ den Homerischen Styl überhaupt, die „travestirte
Aeneis“ von Blumauer den Virgil mit kritischem Scharfblick für seine
Schwächen, die „pucelle“ von Voltaire die Romantik der heroischen
Jungfrauen mit größerer Plastik, trotz alles Cynismus, als seine „Henriade“
bietet.


Dann kann aber das komische Epos selbstständig einen Stoff aus
unserem Leben behandeln. Auch hier liegt eine parodirende Auffassung
zu Grunde, indem der Epiker ein ganz unbedeutendes Objekt mit allem
Aufwande epischer Erhabenheit, Anrufung der Musen, Göttermaschinerie
u. dgl. m. behandelt. Doch gewinnt hier die Komik durch eine scherzhafte
Phantastik und scharfe schlagende Satyre eine selbstständige Bedeutung.
Hierher gehören einige in ihrer Art vortreffliche Dichtungen der vorigen
Jahrhunderte: Tassoni's „geraubter Wassereimer,“ Butler's „Hudibras,“
Boileau's „Kirchenpult,“ Pope's „Lockenraub und Dunciade,“
Zachariä's „Renommist, Schnupftuch“ u. s. w. Die allegorischen Maschinen,
wie z. B. Boileau's Zwietracht, Nacht und Trägheit, sind hier
besser, als in der Henriade, an ihrem Platze. Wir erinnern nur an
Pope's reizende neckische Silfen, an die ausgezeichnete Schilderung der
Göttin „Langeweile“ in Zachariä's „Schnupftuch,“ um darauf hinzudeuten,
wie dies komische Epos verdient, in der Gegenwart wieder angebaut
zu werden. Ueberall in der Poetik ist es unser Bestreben, auf
ältere Formen hinzuweisen, die, längere Zeit vernachlässigt und scheinbar
veraltet, nur des schöpferischen Talentes harren, welches den Geist der
Gegenwart in sie hineinbannt; überall betonen wir wieder die strengere
Kunstform für den jugendlich modernen Geist, der seine jungdeutsche
Genialität endlich einmal ausschäumen muß in der fragmentarischnovellistischen
Feuilletonprosa, um auf allen Gebieten eine klassische
Sicherheit und Formenschönheit zu erringen. Kleinere komische Epen
nach Pope's und Boileau's Muster in gereimten Jamben von abwechselnden
Füßen oder in Freiligrath'schen Alexandrinerstrophen sind für ein
graziösmodernes, an der feinen Eleganz des neufranzösischen Feuilletonstyles
herangebildetes Talent gewiß eine willkommene Dichtform, die sich
durch die humoristische Novellette nicht ersetzen läßt. Denn das ideale
Element, das einmal in der rhythmischen Form und im Reim liegt, läßt
sich durchaus nicht als gleichgültig veranschlagen; es trägt auch die |#f0393 : 371|

komische Muse, giebt ihr einen heiter phantastischen Schwung und ihren
gelungenen Wendungen eine dem Gedächtniß der Nation sich einprägende
Form. Auf der andern Seite werden solche mehr plastische Formen dazu
dienen, unsere komische Muse von der stereotypen Heine'schen Manier zu
befreien, an welcher sie krankt. Jn Otto Roquette's „Waldmeisters
Brautfahrt“ liegt ein ansprechender Versuch in dieser Gattung vor.


Das größere satyrische Thierepos, das im Wesentlichen allegorisch
ist, indem in ihm die Thiere als personificirte Eigenschaften auftreten, hat
im alten „Reinecke Fuchs“ sein klassisches Muster, das Goethe, Glaßbrenner
u. A. in verschiedener Weise zu modernisiren suchten. Ueber
diese feststehenden Typen wird eine neuere Erfindung nicht hinausgehn
können, wenn auch Heine's „Atta Troll“ eine geistvolle Variation auf
das alte Thema ist. Als Gipfelpunkt des komischen Epos bezeichnen wir
das humoristische, das in der derb=volksthümlichen Holzschnittmanier
der „Jobsiade,“ als genialer Welt- und Lebensspiegel aber in Byron's
„Don Juan“ seine Muster findet. Hier kann auch die ernstere epische
Muse ihren ganzen dichterischen Reichthum entfalten; hier kann ein
großer Genius, ohne in die Blasirtheit des weltmüden Lords zu verfallen,
ein echt modernes Weltepos dichten, das künstlerischen Werth und
Volksthümlichkeit vereinigt. Das Burlesk-Joviale, wie es in Glaßbrenner's
„verkehrter Welt“ hervortritt, hat indeß ebenfalls sein gutes Recht. ──────


Vierter Abschnitt.

Die dichterische Erzählung.


Durch die Auflösung des Kunstepos, dessen Wiedergeburt in strenger
Form wir nicht nur für möglich, sondern für wünschenswerth halten,
entstanden in neuer Zeit zwei beliebte epische Formen: die poetische Erzählung,
in welcher die Totalität des epischen Weltbildes aufgegeben
wurde, um ein einzelnes Ereigniß mit dichterischer Kunst, die aber meistens
in's Lyrische übergreift, auszumalen, und der Roman, in welchem die
Totalität des Weltbildes festgehalten, die künstlerische Form aber in die
Breite der Prosa verflacht wurde. Beide Formen gingen indeß auch dem
großen Epos zur Seite! Die Erzählung ist die selbstständig losgelöste |#f0394 : 372|

epische Episode und als solche des epischen Geistes und Styls theilhaft.
Dennoch hat die neuere Zeit, die sie mit großer Vorliebe gepflegt,
das Lyrische in aller Fülle mit in sie aufgenommen, während das Didaktische
schon von den Griechen und Römern mit ihr verschmolzen wurde.
Wir wollen ihre Formen in aller Kürze betrachten.


1. Die strengepische Erzählung.


Die Jdylle (εἰδυλλιον , kleines Bild) vertritt vorzugsweise diese
Gattung in allen Zeitaltern. Einfachheit der Handlung, plastische Wahrheit
der Darstellung sind ihr ebenso wesentlich, wie jene arkadische
Beseligung,
die aus der unbefangenen Einheit der Natur und
Kultur hervorgeht. Jn der vollkommenen Harmlosigkeit der Existenz
besteht der ganze Reiz der Jdylle. Wohl sind Konflikte nicht ausgeschlossen,
aber sie dürfen nicht den Rahmen des Genrebildes sprengen.
Deshalb sind die meisten modernen „Dorfgeschichten“ keine Jdyllen, weil
sie Konflikte einer ausgebildeten Kulturwelt, Konflikte juristischer und
confessioneller Art, rohe, wüste Leidenschaften u. dgl. m. mit in ihren
Kreis hinübernehmen. Der frische Duft der Ackerfurche allein kann den
arkadischen Hauch nicht ersetzen. Es fehlt das Vollglück, die Harmonie
innerhalb enger Schranken! Eher verträgt die Jdylle einen leisen komischen
Anstrich ─ man denke z. B. an den verliebten Alten Aegon in Theokrit's
Rinderhirten. Reizende humoristische Prosaidyllen von der größten
geistigen Tiefe, deren diese Form fähig ist, hat Jean Paul geschrieben.
Auch einzelne Genrebilder aus Auerbach's ersten Dorfgeschichten sind
treffliche idyllische Burlesken. Das arkadische Vollglück der Jdylle darf
indeß nicht in die klare Empfindung ihrer Helden gelegt werden, sondern
nur wie ein leiser Hauch epischer Stimmung um das plastische Bild
zittern. Wir selbst empfinden uns in jene objektiven Situationsbilder
hinein, und der Kontrast einer einfach kindlichen Welt, die sie darstellen,
mit den verwickelten Verhältnissen, in denen wir uns bewegen, kann in
uns eine elegische Rührung hervorrufen. Geßner griff hierin fehl,
indem er seinem Helden eine geschmückte Sentimentalität ankränkelte,
welche an die arkadischen Komödieen des Hofes von Trianon erinnert.
Die neue Jdylle braucht sich nicht, wie Theokrit, Bion, Moschus,
Virgil,
auf das ländliche Leben der Fischer, Schnitter, Hirten zu |#f0395 : 373|

beschränken, um so mehr, als dies Thema durch die Pegnitzschäferdichtungen
und Geßner bis zu widerwärtiger Unnatur ausgebeutet worden ist;
alle einfachen Lebensverhältnisse sind einer idyllischen Behandlung fähig,
und selbst die geistige Bildung ist nicht ausgeschlossen, sobald sie nur als
fest, konservativ, fertig auftritt, ohne Kampf, Gährung, Zerrissenheit. So
hat Voß in seiner „Louise,“ einer von frischer und gesunder Landluft
durchwehten norddeutschen Jdylle, die Poesie eines ländlichen Pfarrhauses
dargestellt ─ hier fehlt nicht die Zeitung und der kunstvoll bereitete Kaffee
und die geistliche Weisheit, doch bleiben die Zustände einfach, nur angeflogen
von der Kultur. Noch kunstvoller läßt Goethe in seinem idyllischen
Musterepos: „Hermann und Dorothea“ nur Naturelemente
walten, frische Rheinluft und selbstgezogenen Rheinwein; aber der
Pfarrer und Apotheker sind, trotz ihrer gelehrten Bildung, echte Helden
der Jdylle. Jean Paul's Schulmeister Wuz und Fibel können für
Muster solcher Helden gelten. Der landschaftliche Hintergrund ist schon
von Theokrit und Virgil mit Meisterschaft dargestellt worden. Der
frische, freie Duft, der über der Landschaft schwebt, gehört mit zum Zauber
der Jdylle; doch bleibt die Landschaft nicht todte Scenerie, sie hat Beziehung
auf den Menschen. So z. B. in Virgil's erster Ekloge:


O glückseliger Greis, hier zwischen vertraulichen Bächen
Und an heiligen Quellen erfrischt dich schattige Kühlung,
Wo der Zaun hinab an benachbarter Grenze des Feldes
Stets hybläische Bienen in Weidenblüthe bewirthet,
Wiegt ein leises Gesummse Dich oft in gemächlichen Schlummer:
Hier am hangenden Fels singt hoch in die Lüfte der Winzer,
Während indeß dein Liebling, die heitere Taube des Waldes,
Rastlos girrt, und die Turtel vom lustigen Wipfel der Ulme.

(Nach Voß.)


Die Naturumgebung bei Voß ist eine bäuerliche Feld- und Gartenprosa;
bei Geßner sind es gemalte Koulissen ohne den geringsten
Schweizer Berg- und Mattenduft! Dagegen schwebt die Poesie des
Rheinthales, ohne alle Aufdringlichkeit, reizvoll über Goethe's „Hermann
und Dorothea,“ eine Magie, welche Wolfgang Müller in seiner
Maikönigin,“ trotz breiter ausgeführter Schilderung, nicht zu erreichen
vermochte. Die Dorfnovelle hat in neuer Zeit den idyllischen Hexameter
verdrängt. Ein Versuch Moritz Hartmann's in „Adam und |#f0396 : 374|

Eva,“ ihn wieder einzuführen, hat wenig Anklang gefunden, vielleicht
weil zu viele Elemente moderner Bildung und Reflexion z. B. Betrachtungen
über Humboldt's Kosmos mit in die Waldeinsamkeit hinübergenommen
waren; doch verdient er schon als künstlerische Reaktion gegen
die immer seichter werdende Prosa der Dorfgeschichten Beachtung.


2. Die didaktisch-epische Erzählung.


Diese Erzählung ist sich nicht Selbstzweck; sie stellt eine Moral, eine
Weisheitslehre in anschaulichen Bildern dar. Ton und Styl sind episch;
aber das Lehrhafte liegt zu Grunde. Die epische Unbefangenheit wird
einer darzustellenden Bedeutung geopfert. Wir können zwei Hauptarten
unterscheiden:


a. Die Fabel.


Die Fabel ist die erdichtete Geschichte eines besondern Falls, in
welchem wir anschauend eine allgemeine Wahrheit erkennen. Der
größte Theil der Fabeln hat Thiere zu handelnden Personen, weil die
Thiere wegen der allgemein bekannten Bestimmtheit ihrer Charaktere für
die Zwecke des Fabeldichters am bequemsten sind. Die Schranken ihrer
Natur werden zwar insofern erweitert, als man ihnen Sprache und
vernünftige Absichten leiht; aber ihr wesentlicher Charakter darf nicht
verändert werden. Der Fabeldichter darf das Schaf nicht verwegen, den
Wolf nicht sanftmüthig, den Esel nicht feurig vorstellen. Die Fabel ist
naiv; sie stellt ihre Geschichte weder als eine Allegorie, noch als ein
Wunder dar, sondern als eine Wirklichkeit, die sich in einer Zeit zugetragen,
in welcher die Voraussetzungen des „Fabeldichters“ selbstverständliche
Geltung hatten. Die Moral der Fabel ist entweder in ihr latent,
oder sie kann noch besonders am Anfange oder Schlusse ausgesprochen
werden. Wir können die Fabel eintheilen in die epigrammatische,
die Fabel des Aesop, und in die humoristische, die Fabel des Lafontaine.
Die erste giebt in der Darstellung des besondern Falles Nichts
als was zur Anschauung des allgemeinen Satzes gehört; sie ist präcis
und von lapidarischer Kürze. Jhrer objektiven Haltung steht die subjektive
der zweiten entgegen, welche mit heiterer Geschwätzigkeit hin und
her schweifende Arabesken um den Rahmen der Geschichte flicht. Lessing's
scharfer Verstand, der immer nur auf den Kern dringt, hält die erste für |#f0397 : 375|

allein berechtigt; doch kann sich die freispielende und scherzende Phantasie
mit gleichem Rechte des Fabelstoffes bemächtigen. Die metrische Form
und der Reim geben der Fabel sowohl pointirten Abschluß, als auch
lapidarische Haltung ─ und wenn Lessing seine Fabeln in Prosa schrieb,
so mag für ihn seine eigene Entschuldigung gelten: er habe die Versifikation
nie so in seiner Gewalt gehabt, daß er auf keine Weise besorgen
dürfen, das Sylbenmaaß und der Reim werde hier und da den Meister
über ihn spielen.


Wir erwähnen als Fabeldichter den Griechen Aesop, den Römer
Phädrus, den Jndier Bidpai, den Araber Lokman, den Engelländer
Gay, den Franzosen Lafontaine, der den Konversationston des Salons
auf das Thierreich übertrug. Von älteren deutschen Fabeldichtern ist
Stricker, Boner, Burkard Waldis anzuführen. Gellert war
weitschweifig wie Lafontaine, aber in seiner Redseligkeit mehr doktrinair
als humoristisch; kürzer waren Pfeffel, Gleim und besonders
Lichtwer und Lessing. Jn neuer Zeit ist die Fabel wenig angebaut,
nur der Schweizer Fröhlich verdient Erwähnung.


b. Die Parabel.


Die Parabel stellt ebenfalls wie die Fabel einen allgemeinen Satz
in der Form eines besondern Falles dar; aber für die Fabel ist dieser Fall
Wirklichkeit, für die Parabel Möglichkeit, für die Fabel Geschichte,
für die Parabel Beispiel. Die Parabel wählt daher in der
Regel alltägliche menschliche Handlungen, die nicht einmal geschehn
sind, sondern immer wieder geschehn. Der Sämann z. B., der seinen
Samen ausstreut, ist kein bestimmtes Portrait; er vertritt nur die Millionen
Ackersleute der Erde. Die Parabel veranschaulicht in der Regel eine
volksthümliche Wahrheit an einem volksthümlichen Beispiele. Deshalb
muß sie durchsichtig sein ─ der Sinn meist von Anfang an durch die
krystallklare Darstellung der Thatsache hindurchschimmern. Die schönsten
Parabeln enthält das neue Testament. Die Herder'schen „Paramythien“
sind mythische Parabeln, in denen der besondere Fall, das Beispiel, einem
alten oder neu umgedichteten Mythos angehört. Einige scherzhafte Parabeln
hat Goethe gedichtet.

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3. Die lyrisch-epische Erzählung.


Wir haben bereits bei der Darstellung der Lyrik die Ballade erwähnt,
als das epische Lied, das ein Erlebniß oder Begebniß ganz in Empfindung
auflöst. Jhr gegenüber tritt die Romanze als die lyrische
Erzählung,
in welcher die Begebenheit als solche in den Vordergrund
tritt und nur die lyrische, aber nicht liederartige, sondern farbensatte
Behandlung mit der epischen wechselt. Bei größerem Umfange wird die
„Romanze“ zum erzählenden Gedichte, zu welchem schon ein
Romanzencyklus den Weg bahnt. Mit diesen „erzählenden Gedichten“
ist heutzutage der literarische Markt überfluthet ─ sie sind die Lieblingsform
der Gegenwart, da sie immer reichen Wechsel von Schilderungen,
Reflexionen und Empfindungen verstatten.


Schiller's „Balladen,“ wie: „der Kampf mit dem Drachen,“ „die
Kraniche des Jbykus,“ „die Bürgschaft“ u. a. vertreten auf's Klarste den
modernen Romanzenstyl; auch die Balladen Bürger's gehören, trotz
ihres volksthümlichen Styles und oft gespenstigen Jnhaltes, hierher;
ebenso Goethe's „Braut von Korinth,“ „des Sängers Fluch“ von
Uhland, viele Balladen von Körner, Kerner, Schwab, Pfizer,
Chamisso, Thomas Moore, Puschkin, Heine
im „Romanzero
u. A. Die liederartige Ballade ist eine Seltenheit ─ die Romanze
und das erzählende Gedicht hat sie verdrängt.


Jn der freien Mischung des Epischen und Lyrischen muß dennoch eine
bestimmte Gesetzmäßigkeit walten, das Vorwiegen des epischen Elementes
gesichert sein. Wiegt die Lyrik vor: so werden wir einen Reichthum
glänzender Einzelheiten, stimmungsvoller Schilderungen, geistvoller Reflexionen
erhalten; aber die fortgehende Handlung wird durch die beständigen
Eingriffe des Subjekts zur Unzeit unterbrochen werden; wir vergessen
über dem Dichter die Begebenheit, die er darstellt. Schiller's
„Romanzen“ enthalten glänzende Beispiele einer streng epischen Darstellung
─ wir erinnern nur an „den Kampf mit dem Drachen“ selbst,
an den Umgang des tragischen Chors in den „Kranichen des Jbykus,“
an „Fridolin's Gang nach dem Eisenhammer.“ Dagegen wiegt in
Byron's „erzählenden Gedichten“ „der Braut von Abydos,“ „der
Korsar,“ „der Giaur“ der subjektive Schwung des Dichters vor, der |#f0399 : 377|

Handlung und Charaktere in das Element seiner eigenen leidenschaftlichen
Stimmung untertaucht. Da diese Stimmung bei Byron selbst
ebensoviel Größe wie Tiefe hat, so war sein Vorbild verführerisch für die
episch=lyrische Dichtung der Gegenwart. Der Stoff der Erzählung
erschien als gleichgültig ─ man konnte ja jedem ein glänzendes Kolorit
geben, in jedem die Fülle der eigenen Seele niederlegen. Thomas
Moore's
„Lalla Rookh“ hatte orientalische, farbenschimmernde Erzählungen
im Gefolge! Das exotische Element begann in dieser Form eine
große Rolle zu spielen. Die transatlantische Welt wurde von Longfellow
und noch mehr in der deutschen Dichtung von Böttger,
Strodtmann
u. A. verherrlicht. Bodenstedt's „Ada“ schilderte
uns Natur, Leben, Volkssitte und Kampf im Kaukasus, Puschkin altrussisches
Leben und die Tartarenreminiscenzen der Krimm, Carl Beck
im „Janko“ ungarische Volkssitten, während Annette von Droste=
Hülshoff
in ihren „erzählenden Gedichten“ das einheimische Kolorit
der westphälischen Eichenkämpe und Sumpfmoore festhielt. Walter
Scott
in seinen dichterischen Erzählungen, „der Jungfrau vom See“
u. a., in denen der epische Ton außerordentlich glücklich getroffen ist, verherrlichte
die schottischen Hochlande. So schien das Kolorit auf der
einen Seite zur Hauptsache zu werden, während auf der andern nach
Byron's Vorbild die subjektive Wendung, die Begeisterung für die
Reform, für den Fortschritt der Menschheit z. B. in Lenau's „Albigensern“
und „Savonarola“ die dichterische Erzählung mit einem geistigen
Pathos erfüllte! Es giebt kaum einen Ton, der von ihr in neuester Zeit
nicht angeschlagen worden wäre. Die lyrisch=epische Erzählung ist der
Modeartikel des Tages geworden.


Es ist keine Frage, daß sich das „romantische Epos“ in solche Erzählungen
auflösen läßt; daß wir schon Ovid ebenso an dieser Stelle hätten
anführen können, daß besonders die ritterlich höfische Epik des Parcival,
Titurel, Tristan, Lohengrin
hierher gerechnet werden kann. Schon
im Mittelalter ging diesen größeren Epen die kleine Erzählung zur Seite.
Der Cid selbst ist nur ein Cyklus von Romanzen. Doch tritt in allen
diesen Schöpfungen das Lyrische mehr zurück, als in der modernen
poetischen Erzählung, die auf eine Erschlaffung der Gattungsunterschiede
hinzudeuten scheint. Wir haben schon einmal darauf hingewiesen, |#f0400 : 378|

daß die schärfere Herausbildung des episch=plastischen Styles für die
„poetische Erzählung“ das nächste Stadium des künstlerischen Fortschrittes
bezeichnen wird, und daß die Lyrik sich in dieser Pseudoepik, wie im
Drama, auf jene Stellen beschränken muß, wo die Handlung selbst Stoffe
der Empfindung berührt, wie z. B. in der Darstellung der Liebe. Sonst
bleibt die poetische Erzählung zwitterhaft, herüber und hinüberschillernd
und schielend; das subjektive Pathos zersetzt die historische Plastik; die
eigentliche Begebenheit wird chronikartig erzählt und diese Chronik überwuchert
von lyrischen Arabesken, die selbst wieder kein fertiges Bild geben
können, ─ kurz, wir erhalten statt eines Kunstwerkes eine fashionable
Miniaturausgabe, wo epische Dürre und lyrische Fülle zur Unzeit sich
ablösen, die That lyrisch besungen, die Liebe episch beschrieben wird und
der glatte Firniß einer gebildeten Sprache, „die für den Dichter dichtet
und denkt,“ vergebens den klaffenden Spalt zu verdecken sucht, der die
verschiedenartigen, principlos zusammengeschweißten Dichtformen trennt. ──────


Fünfter Abschnitt.

Der Roman und die Novelle.


Der Roman wird das Epos der Neuzeit genannt, weil er, wie
das Volksepos, ein umfassendes Kulturgemälde des Jahrhunderts giebt!
Da aber die Kultur unseres Jahrhunderts durch eine große Kluft von
den Zuständen des heroischen und patriarchalischen Zeitalters geschieden
ist, da die Sonderung der Stände und Beschäftigungen, die Vervollkommnung
und Vereinzelung der Technik, die verwickelte Organisation
des Staatslebens, die Ausbreitung der Jnteressen des Handels und Verkehrs
über die ganze Erde, die Vielseitigkeit der geistigen Richtungen, die
Leidenschaftlichkeit der Tendenzen auf religiösem, politischem und socialem
Gebiet unsere Kultur in die Breite und Tiefe entwickelt und nach allen
Seiten hin in schwierige Probleme verstrickt haben: so erscheint die alte
Kunstform des Epos, deren wesentliche Voraussetzung eine leicht zu überschauende
Einfachheit der Zustände ist, als ungenügend, ein großes und
ganzes Gemälde der Zeit zu entrollen, und es muß an seine Stelle eine |#f0401 : 379|

geräumige und bequeme Form treten, welche auch die realistische Prosa
der verwickeltsten Kulturverhältnisse in sich aufzunehmen und wiederzuspiegeln
fähig ist. Der Roman, das moderne Epos in Prosa, das sich
nur an die allgemeinsten Gesetze des epischen Styles bindet und sonst die
größten Freiheiten der Auffassung und Behandlung verträgt, ist daher
ein willkommener Ersatz für die alte Volksepopöe! Wir haben indeß
schon früher erwähnt, daß wir seine ausschließliche Berechtigung für die
epische Darstellung des Kulturlebens der Gegenwart nicht anerkennen;
daß wir ein modernes rhythmisches, kunstgeadeltes Epos im strengeren
Styl für möglich halten, in welchem zwar unsere Kultur nicht erschöpfend
bis in ihre Einzelnheiten, aber doch in ihren Höhenpunkten, in ihren
wesentlichen Zügen genugsam dargestellt wird, um der Nachwelt ein dichterisch
markirtes Gemälde unseres Jahrhunderts zu hinterlassen. Es
bedarf nur eines großen Genius und eines kühnen Griffes zum thatsächlichen
Beweise unserer Ansicht. Was aber ein Kulturgemälde der Vergangenheit
betrifft, so werden wir stets dem historischen Epos den Vorzug
vor dem historischen Roman ertheilen.


Wir wollen nun sehn, was dem Roman mit dem Epos gemeinsam
ist, und was beide von einander unterscheidet. Das Epos entrollt sein
Kulturgemälde, indem es meistens einen Völkerkampf darstellt; der
Roman hält sich an ein individuelles Erlebniß! Das Epos wählt zu
seinen Helden hervorragende Charaktere, geschichtlich gefeierte Namen;
der Roman vermeidet sie und sucht das Weltbild, das er darstellt, an das
Geschick erfundener Helden zu knüpfen. Dies hängt damit zusammen,
daß der epische Dichter das naive Organ seines Volkes ist, der Romandichter
dagegen sein Werk mit dem vollen Bewußtsein einer frei erfindenden
Phantasie schafft. Wenn er in der Darstellung der äußern Welt den
Regeln des epischen Styles folgt: so darf er dagegen auf die innern Entwickelungen,
auf die Dialektik der Empfindungen, auf die Geheimnisse
des Seelenlebens, auf die Magie und wechselnde Beleuchtung der Gedankenwelt
eine sinnige, eingehende Betrachtung wenden ─ die psychologische
Malerei ist bis zu mikroskopischer Ausführung verstattet. Die Würde
und Erhabenheit des heroischen Epos kann der Roman nicht erreichen;
dagegen darf er von einer größeren pathologischen Wärme durchdrungen |#f0402 : 380|

sein und an geeigneter Stelle selbst den Pulsschlag einer lyrischen Phantasie,
das Pathos des Dramatikers entfalten!


Die Göttermaschinerie des Epos wirkte besonders durch den volksthümlichen
Reiz des Wunderbaren, durch eine Fülle olympischer
Ueberraschungen, welche in das Geschick der Sterblichen eingriffen. Das
Rittergedicht, das romantische Epos, ersetzte die klassischen Mythen durch
phantastische Zaubermärchen; der Roman, der sich schon als letztes
Erzeugniß der hellenischen Poesie von der Grundlage des Mythos sonderte,
als Ritterroman eine volksthümliche Prosaauflösung des Rittergedichtes
war, nahm das Wunderbare ebenfalls mit aus dem Epos in
seine freiere Form hinüber; aber er begann bereits damit, ihm eine andere
Gestalt zu geben und die himmlischen Wunder in Ueberraschungen des
Zufalls und seine abenteuerlichen Eingriffe in das Menschengeschick zu
verwandeln. Schon in jenen ersten griechischen Romanen des Antonius
Diogenes, Jamblichos, Lukianos, Heliodoros, Achilleus
Tatios
u. A. tritt die Abenteuerlichkeit des ungewöhnlichen Begebnisses
an die Stelle des göttlichen Mythos und der thätig eingreifenden
Erscheinung des Gottes. Die Geheimnisse der Erde, des Kosmos
mußten sich enthüllen! Und wenn auch Lukian mehr persiflirend das
Leben der Sonn- und Mondbewohner schildert, so stellt uns doch Antonius
Diogenes in den „Unglaublichkeiten jenseits Thule“ eine Reise um die
Welt, eine Nordpolexpedition u. dgl. m. mit phantastischem Ernst dar.
Wie wunderbar sind in Jamblichos „babylonischen Geschichten“ die Geschicke
des Rhodanes und der Sinonis, wie spannend die Verfolgung
der Liebenden durch den König Garmus, welch' überraschender Wechsel
im Schicksal des Rhodanes, der, schon an's Kreuz angenagelt, wieder
herabgenommen und noch König von Babylon wird. Wie seltsam im
Heliodor die äthiopische Königin, die im Augenblick der Empfängniß ein
Bild der Andromeda angeblickt hatte und nun mit einem weißen Kinde
niederkam, die daraus entstehenden Verwickelungen, die Keuschheitsprobe
der Chariklea u. s. f., wie unterhaltend die Räubergeschichten in den
„Erotika“ des Tatios! Das Absonderliche, Ueberraschende tritt überall
an die Stelle des mythisch Wunderbaren! Aehnlich in den ersten Romanen
des Mittelalters, den Amadisromanen! So wird Amadis, der
Sohn der Prinzessin Elisena, von ihr in einer Wiege ausgesetzt, von |#f0403 : 381|

einem schottischen Ritter aufgefischt und unter dem Namen des Kindes
der See erzogen!


Diese Wunder des Zufalls und des Schicksals gehn nun auch durch
den modernen Roman und haben hier dasselbe Recht, wie die mythischen
Wunder in der Epopöe. Nur darf mit ihnen kein Mißbrauch getrieben
werden und das Stoffartige, das im Roman überhaupt schon über
die lockere Kunstform hinauswächst, nicht im Jnteresse einer prickelnden
Neugierde ganz in den Vordergrund treten. Die Spannung nach der
Vergangenheit hin, bereits von uns als episches Grundgesetz entwickelt,
darf im Roman zu vollster Geltung kommen. Die Charaktere des
Romans dürfen bei ihrem ersten Auftreten etwas Geheimnißvolles haben;
ihr Totalbild entrollt sich uns erst allmählich, indem aus ihrem vergangenen
Leben ein immer wachsendes Licht auf ihren Charakter fällt! Es
gehört zur Technik des Romans, diese Enthüllungen in überraschender
Weise vor sich gehn zu lassen, ihnen den Reiz des Unverhofften und Wunderbaren
zu geben. Trotz der Polizeiregister und Kirchenbücher, trotz Aufenthaltskarten
und Taufscheinen kann die Phantasie auch in die Verhältnisse
unserer Civilisation des Abenteuerlichen viel hineinzaubern. Ein Hauptmittel
dieser Zauberei beruht auf jener Lösung der Verwickelungen, die aus
der alten Tragödie in den hellenischen Roman überging unter dem Namen
der Anagnorisis, „Wiedererkennung.“ Seit den Romanen des Heliodoros
und Longos bis in die neuesten von Eugen Sue, Dickens,
Gutzkow
spielt diese „Wiedererkennung“ eine große Rolle. Sie hat die
Verwickelungen der Descendenz zur Voraussetzung; geraubte, vertauschte
Kinder, natürliche Kinder, die spät erst ihren Vater und ihre
Mutter entdecken, liberi adulterini und die verschiedensten Arten der
geheimnißvollen Kindschaft. Das Dunkel, das um ihre Wiege schwebt,
die zufällige Begegnung, das rührende Wiedersehn, die Lösung, die der
Leser im Voraus zu errathen sucht, da ihn der Romandichter, unähnlich
dem Dramatiker, nicht zum Vertrauten seiner Geheimnisse macht ─ das
alles sind Momente aus diesem Verwickelungskreise, welche die Spannung
des Lesers wacherhalten. Hierher gehören auch dunkle Thaten der
Vergangenheit, welche in das Leben der Helden mit schwarzer Magie
hineinragen, deren Schleier zu lüften die Neugierde brennt ─ man denke
an Bulwer's „Eugen Aram.“ Oder ein zufälliges Begegnen gruppirt |#f0404 : 382|

eine Menge von Personen nebeneinander, bringt sie in die verschiedenartigsten
Beziehungen, und erst später ergiebt sich ein tieferes Jnteresse,
ein ethisches Band, das sie schon früher und vielleicht in entgegengesetzter
Weise verknüpft, als ihre jetzige Gemeinsamkeit. Oder dieselbe Person
tritt in doppelter Verkleidung auf, führt zwei kontrastirende Rollen durch
und überrascht, wenn sie die Maske abnimmt, wie z. B. in Balzac's
„Clotilde von Lusignan.“ Das Jnkognito ist für die Romanhelden
wesentlich; erst später knöpfen sie ihren Rock auf und zeigen uns ihren
Stern. Diese Romantik gehört einmal zum modernen Roman, und
wenn man sie tadeln wollte, so verkennt man das Wesen einer Dichtform,
die überhaupt einen vorwiegend stoffartigen Charakter hat und an
der Grenze der Prosa steht. Sie bildet das Gegengewicht gegen die
breite geordnete Prosa unserer Verhältnisse, welche dem Menschen von
Hause aus das polizeiliche und staatsbürgerliche Etikette anhängt und
ihn in den bestimmten Rubriken irgend eines Registers von der Wiege
bis zum Grabe unterbringt. Es kommt nur darauf an, daß die romantischen
Grenzen in den aufgeschwemmten Schichten unserer Kultur mit
richtigem Jnstinkt aufgespürt werden. Da sind zunächst die großen
Centralpunkte der Weltstädte, wo die Häufung aller Jnteressen die wunderbarsten
Kollisionen erzeugen kann! Das fahrende Vagabondenthum
in seiner Ungebundenheit emancipirt sich von der Strenge der bürgerlichen
Sitte. Jhm gehört die schönste Zauberblüthe der geheimnißvollen
Romantik an, Goethe's Mignon. Neuerdings hat Holtei dies Vagabondenleben
mit erschöpfender Gründlichkeit in seinem bekannten Roman
behandelt. Jhm am nächsten steht das Leben der Künstler und Literaten,
dessen Romantik aus dem fast durchgängigen Mißverhältniß einer schöpferischen,
auf das Jahrhundert wirkenden Geisteskraft und der socialen
Lebensstellung hervorgeht! Diese Romane sind nach dem Vorgang unserer
romantischen Schule sehr beliebt. Kampf des exklusiven Genius,
dem Alles erlaubt ist, mit den Schranken der Gesellschaft ist ihr Grundthema!
Dennoch ist diese Romantik dem Roman nicht günstig ─ die
Literatur in der Literatur, die Kunst in der Kunst, das ist ein ästhetischer
Cirkel, der zu sehr in sich selbst verläuft. Die Räuber, Piraten, Ritter
und Geister, die noch in den Leihbibliotheken spuken, sind ebenfalls solche
kräftig exceptionelle Gestalten, an deren Stelle der höhere Roman das |#f0405 : 383|

vornehme Gaunerthum, die Schmuggler u. dgl. setzt. Vortheilhaft für
die Romantik des Romans sind alle größeren Krisen der Gesellschaft,
Revolutionen, Kriege, in denen die stagnirende Fluth stereotyper Zustände
aus ihrer trüben Ruhe emporgerüttelt wird. Hierher gehört seit der
Odyssee der Zauber der Ferne, der Reiz des Unbekannten, Unentdeckten,
der fernen Länder und Meere und ihrer Abenteuer, ein Zauber, den sich
der See- und exotische Roman, ein Marryat und Sealsfield, zu Nutze
machen. Doch auch der Prosa unserer Kultur wird ein begabtes Talent
ihre Poesie abgewinnen ─ wir erinnern nur an Dickens, Hackländer u. A.


Die Komposition des Romans muß, um diese Romantik unserer
Zustände auszubeuten und die epische Spannung unserer Zustände durchzuführen,
bestimmte Gesetze der Technik beobachten. Der Anfang des
Romans führt uns gleich in das bewegte Leben; wir orientiren uns in
unbekannten Physiognomieen und Verhältnissen, bis unser Jnteresse an
ihnen lebendig, diese Lebendigkeit durch die Verschleierung einzelner Zustände
und Charaktere gesteigert wird. Lange Beschreibungen von Gegenden,
Verhältnissen, Charakteren sind besonders am Anfange des Romans
von ertödtender Wirkung; der Faden einer fortgehenden Begebenheit muß
uns diese Entwickelungen bieten. Die allmählich wachsende Klarheit soll
mehr durch die Handlung, durch Gespräch und Brief, durch eine selbstständige
Entwickelung der Helden von innen heraus hervorgerufen werden,
als durch die Beschreibung des Dichters. Der Anfang des Romans ist
gewiß am glücklichsten entworfen, wo wir gleich in irgend eine fesselnde
Situation, einen Knotenpunkt der Handlung versetzt werden, dessen Fäden
zugleich nach rückwärts und vorwärts weisen.


Die Mitte des Romans führt nun diese Fäden weiter zu immer
neuen Knotenpunkten der Entwickelung. Das Drama hat nur eine
Kollision; der Roman verträgt deren mehrere neben- und nacheinander.
Hier wird die eine gelöst, dort eine andere neuangeknüpft. Doch das
vollkommene Austönen derselben in der Mitte muß von dem Romandichter
vermieden werden. Ganz neue Anfänge sind hier gefährlich!
Es muß alles ineinandergreifen, mindestens an einem Punkte der
Bewegung. Wir haben schon früher gesehn, daß der Epiker spannt,
indem er an einer fesselnden Stelle der Handlung abbricht und den Leser
mit einer künstlich erzeugten Unbefriedigung entläßt. Dies Geheimniß |#f0406 : 384|

der Technik ist für den Romandichter wesentlich. Er wandert von einer
der verschiedenen Gruppen seines Romans zu andern und wählt gerade
den Moment, in welchem die eine in eine spannende, noch ungelöste
Situation versetzt ist, um sie zu verlassen und zur anderen fortzuschreiten.
Die gleichsam verzauberte Gruppe steht noch lebendig vor unserer Phantasie,
während wir weiter eilen ─ sie gemahnt uns wie eine alte Schuld
des Dichters, auf deren Abzahlung wir gespannt sind. Je größer der
Kredit ist, den der Romandichter für seine poetischen Schulden in
Anspruch nehmen darf, desto größer ist seine Kunst. Jede Erfindung des
Romans ist ein Wechsel, der erst am Schluß fällig ist.


Der Schluß des Romans selbst hat nun nicht jene logische Nothwendigkeit
und Bestimmtheit, wie der Schluß des Drama's. Jm Allgemeinen
nimmt man an, daß der Schluß des Romans, wie der des Epos
überhaupt, ein glücklicher sei, daß das bestimmte Ziel, das dem Helden
oder dem Dichter vorschwebe, nach mancherlei Verwickelungen und
Jrrungen erreicht werde, daß der Schluß nach vielen Dissonanzen eine
versöhnende Harmonie bringe. Doch ist das Gegentheil, ein tragischer
Abschluß, keineswegs ausgeschlossen. Jm breiten Verlaufe des Romans
werden eine Menge von Fäden angeknüpft, treten eine große Zahl Personen
auf, über deren Schicksal uns der Abschluß des Romans nicht im
Dunkeln lassen darf. Hier ist besonders eine übereilte Abfertigung zu
vermeiden. Der Roman ist voll eingeläutet und muß auch voll austönen
─ dem Geschick jeder Persönlichkeit, die unser Jnteresse wachgerufen,
muß ein unverkümmertes Recht zu Theil werden. Für jene modernen
Romane, deren Jnhalt die innere, den Kreis der verschiedensten
Verhältnisse durchlaufende Bildung des Einzelnen ist, wie Goethe's
„Wilhelm Meister,“ Jean Paul's „Titan,“ Jmmermann's „Epigonen,“
Laube's „junges Europa,“ die „Wandelungen“ der Fanny Lewald u. a.,
ist ein Abschluß nicht leicht zu finden, da der Prozeß der Bildung ein bis
zum Tode fortdauernder ist und nur willkürlich an dieser oder jener
Stelle unterbrochen werden kann. Der Roman schließt daher in der
Regel, wo die Romantik der Existenz aufhört und ihre Prosa anfängt;
er läßt eine Beruhigung des hin und hergehenden Strebens durch eine
harmonische Ehe, die Wahl eines bestimmten Berufes u. dergl. eintreten.
Dieser Schluß ist ohne schärfere dramatische Konsequenz; aber er genügt |#f0407 : 385|

für den Roman, der ja nur ein Segment aus dem breiten Kreise des
socialen Lebens herausschneidet und nicht, wie das Drama, eine scharfe
Kollision in entscheidender Weise zum Ziele führt.


Dies Verlaufen in die Prosa des Lebens läßt die Grenzen des
Romans nicht so scharf hervortreten, daß er als ideales Kunstwerk auf sich
selbst ruhen könnte. Sein Zusammenhang mit äußerlichen Jnteressen, die
für eine poetische Verklärung nicht durchsichtig genug sind, tritt nun auch
in seinem Verlauf hervor; seine Form hat nicht genügende künstlerische
Begrenzung, um das Hereinbrechen einer überfluthenden Prosa zu verhindern.
Besonders nach zwei Seiten hin wird die reine Linie der
Schönheit leicht überschritten: das unästhetisch sinnliche, materiell
prickelnde, und das tendenziös didaktische Element trüben die künstlerische
Reinheit des Romans und machen seine bequeme und geduldige Form
zu einem Gefäß für die verschiedenartigsten Zwecke, welche außerhalb der
selbstgenugsamen Harmonie des Schönen liegen. Die Effekthascherei
durch grelle Situationen und eine gewaltthätige Spannung, wie sie in
den alten Ritter- und Räuberromanen und in vielen neufranzösischen
Socialromanen herrscht, zerstört die reine Wirkung des Schönen, indem
sie mehr die Nerven, als den Geist in Erregung zu bringen sucht. Hierher
gehört auch das erotische Element, das schon den Hellenischen
Anfängen des Romans in starker Dosis beigemischt war. Der Roman
gewährt bereitwillig den Raum zu einer behaglichen und breiten Ausmalung
des sinnlich Ueppigen, der erotischen Situation. Seit dem
Priapeischen Roman des Petronius bis zum Ritter Faublas von Louvet,
bis zu Schlegel's „Lucinde,“ den sinnlichen diableries von Paul de
Kock, der schönheitstrunkenen Orgiastik von Heinse, den harmlosen
Nuditäten in Gutzkow's „Wally“ und den Pariser Salons von Heine
ist der sinnliche Reiz und die sinnliche Spannung ein wesentliches Ferment
der Romanliteratur geblieben. Wieland in seinen hellenisirenden,
die George Sand in ihren geistvollen und klassisch schönen Socialromanen
haben sich von diesen sinnlich üppigen Auswüchsen nicht freigehalten,
zu denen die Form des Romans selbst durch ihre gewährenlassende Breite
herausfordert. Auf der andern Seite giebt es kaum eine religiöse,
philosophische, politische, pädagogische, sociale Tendenz, welche nicht in
neuester Zeit versucht hätte, im Gewand des Romans größere Beliebtheit |#f0408 : 386|

und Verbreitung zu gewinnen. Wenn der Roman eine bestimmte
Jdee durchzuführen sucht, so ist er dabei wie jedes Kunstwerk in seinem
guten Rechte! Einige Romane der George Sand zeigen die Harmonie
von Form und Jnhalt, die ungetrübte künstlerische Meisterschaft,
auch wo sie in einem Lebensbilde einen bestimmten reformatorischen
Gedanken darstellen, der mit überzeugender Nothwendigkeit aus dem
konsequent gehaltenen Kunstwerk hervorgeht! Wenn dagegen die Tendenz,
wie z. B. in dem Roman: eritis sicut Deus, sich mit all ihrer
Absichtlichkeit in den Vordergrund drängt, wenn der Roman in Pasquille
und Abhandlungen zerfällt, zu einem Parteiprogramm oder einer ausgeschmückten
Biographie wird, dann zeigt sich die bedenkliche Nachbarschaft
der Romanform und der didaktischen und polemischen Prosa, von
der sie nur durch eine leicht angelehnte Thüre getrennt ist. Denn da dem
Roman auch die rhythmische Getragenheit fehlt, so ist seine Prosa von
der Rhetorik und Geschichtschreibung, ja vom Styl der Zeitung und des
Feuilletons nur durch jene Grenzen geschieden, welche das Talent des
Romanschriftstellers selbst zu ziehn vermag. Diese Prosa kann markig
und charakteristisch, fein und zierlich, plastisch klar, pathetisch, humoristisch
sein ─ sie kann aber auch traditionell und stereotyp werden und in Phrasenhaftigkeit
und Verwaschenheit des erzählenden Styles ausarten.
Unsere Klassiker, Goethe, Wieland, Schiller im „Geisterseher“
haben dem Romanstyl ein bestimmtes, künstlerisches Gepräge gegeben,
welches besonders in Goethe's Romanen dem epischen Jdeal entspricht.
Jean Paul zersetzte seinen Prosastyl durch die seltsamsten Reagentien
des Humors, so daß der Strom desselben selten ein klares Bette gewann.
Wo Ludwig Tieck seinen Phantasus zu bändigen vermochte, da war
sein Styl von jener ironischen Behaglichkeit, die in echt epischer Weise
wirkte. Dagegen war der Styl Arnim's chronikenhaft geziert, der
Brentano's phantastisch wild, der des Novalis von visionairer
Erhabenheit! Die jungdeutsche Epoche wollte die Reform der Literatur
durch eine Reform der deutschen Prosa ausführen, in welche sie alle poetischen
Formen aufzulösen suchte. Seit Heine und Börne wurde die
„geistvolle Prosa“ die Loosung des Tages ─ und in der That gewann der
prosaische Styl unter den Händen der jung deutschen Autoren Glanz,
Schärfe, Beweglichkeit und Reichthum. Die französischen Muster gaben |#f0409 : 387|

hierin den Ton an, aber die Lyrik und Dramatik in Prosa konnte sich
in Deutschland nicht behaupten; es war nur eine neue Art zuchtloser
Romantik. Dagegen ist die jungdeutsche Reform für die deutsche Romanprosa
von günstigem Einfluß gewesen; gerade der moderne Schliff, die
geistsprühende Beweglichkeit und Form, die alle Elemente der Zeit in sich
aufzunehmen vermag, ist dem Roman förderlich, der doch im Wesentlichen
ein Zeitgemälde ist! Wenn Walter Scott, Bulwer, Dickens
und Thackeray in England, die Staël und George Sand, Victor
Hugo, Alfred du Vigny, Nodier, Balzac, Eugène Sue, Paul
de Kock, Alphonse Karr
in Frankreich sowohl die Höhepunkte, als
auch die prismatische Vielfarbigkeit des Romanstyles vertreten: so brauchen
wir nur an Gutzkow, Laube, Auerbach, Freytag, König, Hackländer
u. A. zu erinnern, um die vielseitige Ausbildung der neuen
deutschen Romanprosa in das günstigste Licht zu stellen. Den epischen Ton,
der sich für größere Schöpfungen eignet, scheint uns besonders Gutzkow
in den „Rittern vom Geiste“ getroffen zu haben.


Der Jnhalt des Romans ist der Jnhalt unseres socialen Lebens und
in keine bestimmten Rubriken zu fassen. Dennoch giebt er zunächst das
Princip der Haupteintheilung des modernen Romans her, indem dieser
entweder historisch ist und seinen Stoff aus der Geschichte entlehnt,
oder Zeitroman, welcher aus unserer Kulturepoche, aus der Gegenwart
freierfundene Stoffe schöpft.


1. Der historische Roman.


Der historische Roman ist die Darstellung einer der Geschichte
entlehnten Begebenheit in selbsterfundener Ausführung und in einem
umfangreichen, die geschichtliche Epoche nach allen Seiten hin spiegelnden
Gemälde. Auch kann der Held und die Hauptbegebenheit des Romans
vom Dichter selbstständig erfunden, und nur der Hintergrund von der
Geschichte gegeben sein. Da indeß dem historischen Roman, der sich der
prosaischen Form bedient und seinem Wesen nach bis in's Einzelne malt,
die Mittel fehlen, in der Darstellung der großen Persönlichkeiten und
Ereignisse die Geschichtschreibung zu übertreffen oder auch nur zu erreichen:
so muß ausdrücklich betont werden, daß seine Domaine nicht die Weltgeschichte
ist, sondern die Specialgeschichte, und daß er es dem Epos, |#f0410 : 388|

das eines idealen Schwunges fähig ist, und der Tragödie, welche die
Höhenpunkte des innern Lebens in dichterischem Fluge streift, überlassen
muß, die großen bekannten Helden und Katastrophen der Geschichte zum
Gegenstande zu wählen. Die Tragödie hat sogar das Recht, die Geschichte
bis zu einem gewissen Grade von innen heraus umzudichten, da sie
energische ideale Hebel ansetzt, und der Pragmatismus der geschichtlichen
That zuletzt doch mit jenen innersten Mysterien des Charakters zusammenhängt,
zu deren Entzifferung der Dichter eher den Schlüssel hat, als der
Historiker. Der Roman aber geht von außen an seinen Stoff heran; er
stellt ihn in einer Breite der Beziehungen dar, deren wesentliche Voraussetzung
die historische Treue ist. Da er sich ganz auf gleichem Boden
mit der Geschichtschreibung bewegt, gleicher Entwickelungen und Vermittelungen
bedarf: so ist er durch ihre feststehenden Daten bei allen
Begebenheiten, die sich auf der Höhe der Weltgeschichte bewegen, beschränkt.
Historische Romane, welche diese ihre Schranke nicht beachten, werden
daher zu Zwitterbildungen der Geschichtschreibung und Romandichtung,
in denen abwechselnd die Geschichte und die Dichtung die Arabesken des
Bildes bilden. Da erhalten wir äußerlich ausgeschmückte Biographieen
von „Mirabeau,“ auseinandergefaserte Memoiren u. s. f. Der Schöpfer
des historischen Romans, Walter Scott, ist zwar in einzelnen Werken mit
diesem mißlichen Beispiele vorangegangen; aber in seinen Hauptromanen,
wie z. B. „Waverley“ und „Quintin Durward,“ hat er nicht
einen Fergus Mac Jvor und Ludwig XI. zum Helden, nicht die pragmatische
Entwickelung des schottischen Rebellenkampfes und des französisch
burgundischen Krieges zum Mittelpunkte des Romans gemacht,
sondern die freierfundenen abenteuerlichen Schicksale selbstgeschaffener
Helden, in welche dann jene historischen Persönlichkeiten miteingreifen.
Der historische Roman soll uns das Kulturgemälde einer vergangenen
Epoche entrollen und uns am Geschicke seiner Helden zeigen wie das
menschliche Handeln und Empfinden durch die Bedingungen dieser Kultur
bestimmt wird. Freilich liegt hier die Gefahr nahe, im Ausmalen des
Kulturbildes in eine antiquarische Genauigkeit zu verfallen und das
beschreibende Element in ungehöriger Breite auszubilden, eine Gefahr,
die Walter Scott selbst um so weniger vermieden hat, als ihn gerade
seine Vorliebe für antiquarische Studien, für die Denkmäler und Reminiscenzen |#f0411 : 389|

Schottlands dazu trieb, das erzählende Gedicht, weil es ihm
nicht Raum genug bot für die ausführliche Darstellung der geschichtlichen
Alterthümer seines Vaterlandes, mit dem bequemeren Roman zu vertauschen.
Das patriotische Jnteresse kann diesem Roman für einen engern
Kreis einen erhöhten Reiz geben, wie ihn z. B. die brandenburgischen
Romane von Wilibald Alexis für Preußen haben; oder die geschichtliche
Epoche, welche der Romanschriftsteller darstellt, liegt der Gegenwart
näher, ist ihr geistig verwandt und nimmt dadurch eine größere Theilnahme
in Anspruch, wie z. B. in der „hohen Braut“ und den „Klubbisten
von Mainz“ von Heinrich König. Niemals darf indeß die Absicht
des Autors, ein Kulturgemälde zu entrollen, aufdringlich in den Vordergrund
treten, sondern das Bild der ganzen Epoche muß sich ungezwungen
aus den Ereignissen selbst ergeben, deren bunter und spannender Wechsel
die Phantasie, nach dem alten Grundrechte des Romans, beschäftigt.
Die künstlerische Bedeutung des historischen Romans bleibt dennoch eine
unsichere, und wir glauben ihm keine Zukunft versprechen zu dürfen.


Walter Scott ist sein Schöpfer und Meister ─ frühere ähnliche
Dichtungen, wie z. B. in Deutschland: Lohenstein's „Arminius und
Thusnelda,“ schlugen eine ganz andere Richtung ein. Die Fehler und
Vorzüge Walter Scott's sind für den historischen Roman maaßgebend
geblieben ─ nur daß die geringere Begabung seiner Nachahmer, z. B.
eines James, noch mehr die nüchterne Prosa der historischen Staatsaktionen
hervorkehrte. Für untergeordnete Geister war die Walter
Scott'sche Form willkommen, um den Spektakel der Ritter- und Räuberromane,
an die schon Jvanhoe und Robin der Rothe erinnern, die
wilde Romantik der Walpole'schen und Redcliffe'schen Schauerromane mit
dem Schein einer neuen Berechtigung wieder aufleben zu lassen. Geistreiche
Schriftsteller dagegen, wie Bulwer im „Rienzi“ und zum Theil im
„letzten der Barone,“ einem Werke, das auf der andern Seite wieder ein
ausgezeichnetes Kulturgemälde ist, verfielen in ein mehr dramatisches
Pathos, indem sie große weltgeschichtliche Kollisionen ausmalten. Victor
Hugo
ließ in „Notre dame“ seiner Vorliebe für mittelalterliche Kunst in
einer sonst mit narkotischem Effekt gewürzten Erzählung die Zügel schießen.
Gleichbedeutend steht Alfred de Vigny da in seinem Cinq-Mars,
während Alexander Dumas bereits die Verflachung des historischen |#f0412 : 390|

Romans in eine stoffartig wirkende, drastisch pikante Memoirenfolge
bezeichnet. Von deutschen historischen Romanschriftstellern hat besonders
Rehfues in „Scipio Cikala“ den epischen Ton in einer oft meisterhaften
Darstellungsweise getroffen, während Spindler sich durch eine erfindungsreiche
Phantasie auszeichnet. Außerdem sind Wilibald Alexis,
Heinrich Laube, Gustav Kühne
und vor Allen Heinrich König
in seinem dem Socialroman der Gegenwart nahestehenden historischen
Romane zu erwähnen*).


2. Der Zeitroman.


Der Zeitroman verlegt die Begebenheiten, die er um einen
Mittelpunkt des Gedankens oder um die Persönlichkeit eines Helden
gruppirt, in unsere Zeit und schafft, indem er das Leben der Gegenwart
nach allen Richtungen hin erfaßt, zugleich für die Zukunft. Seine Berechtigung
ist eine ungleich höhere, als die des historischen Romans!
Sein Jnhalt ist frei erfunden, seine umfassende epische Form auf diesem
Gebiete vollgültig, weil sie die Mannichfaltigkeit geistiger Strömungen
und die unerschöpfliche Fülle des realen Lebens bequem und behaglich in
sich aufnimmt. Wir dürfen von ihm nicht nur anschauliche Objektivität in
Darstellung der Außenwelt verlangen, sondern auch geistigen Reichthum,
psychologische Feinheit, Anatomie des Herzens und der Leidenschaft! Er
darf ebenso tief nach innen, wie breit nach außen gehn und muß die
Längen seiner Form dazu benutzen, das innere Leben bis in seine geheimsten
Abgründe zu verfolgen. Wenn der Dramatiker ein durchgreifendes
Motiv wählt, da darf der Romanschreiber jene ganze Kette verschlungener
Motive entwickeln, aus denen das Handeln zuletzt in seiner Bestimmtheit
hervorgeht, alle Vorstellungen, welche die Schwelle der Seele übersteigen,
sich kreuzen, mit einander kämpfen, bis die einen über die andern den Sieg
davontragen. Ebenso muß der moderne Romanschriftsteller alle objektiven
Lebensverhältnisse kennen ─ er muß Arzt, Kriminalist, Publicist,
Oekonom zugleich sein und mit dem Organismus des menschlichen Leibes

*)
Vergl. über den neuesten historischen Roman in Deutschland meine „deutsche
Nationalliteratur in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts“ Bd. II. p. 509
und folgd.
|#f0413 : 391|

ebenso Bescheid wissen, wie mit dem Mechanismus der Staatsmaschine.
Zu einem umfassenden Kulturgemälde der Zeit hat Eugen Sue in
seinem: Juif errant, der mit seinen Mysterien keineswegs in eine Linie
zu stellen ist, zuerst den Anlauf genommen, er hat um einen geschickt
erfundenen Mittelpunkt eine Fülle von Persönlichkeiten und Handlungen
gruppirt, in denen sich wesentliche Richtungen des Jahrhunderts spiegeln.
Alle diese Typen, der Napoleonische Veteran, der Jesuit, der Fabrikarbeiter,
die Grisette, die vornehme Dame, sind indeß französisch; der
Jesuitismus steht als Hauptagens im Vordergrund! Es handelt sich im
Ganzen um praktische Jnteressen, um die Macht des Geldes, um jene
riesige Erbschaft, deren Millionen so feeenhaft wirken, wie die Millionen
des Monte-Christo. Eine nie verlegene, zauberisch reiche Phantasie überbietet
sich in Erfindungen, die oft grell und wüst sind, oft an der äußersten
Grenze des Wahrscheinlichen stehn, aber mit der Magie der arabischen
Märchen fesseln. Ein ähnliches umfassendes Kulturgemälde des Jahrhunderts
hat Karl Gutzkow in seinen „Rittern vom Geiste“ geliefert,
nur daß hier der Mittelpunkt kein jüdischer Hort von Millionen ist,
sondern der Bund der „Ritter vom Geiste,“ kein materialistisches, ein
idealistisches Centrum, und daß, dem Grundgedanken angemessen, hier sich
die ganze Fülle geistiger Richtungen auf allen Gebieten des Staats, der
Religion, der Gesellschaft entbindet und bekämpft, ein schlagendes Bild
vom Unterschiede des französischen und deutschen Geistes!


Neben diesen großen Kulturgemälden entwickelt sich der Roman des
socialen Problems,
der nur einzelne Abschnitte des ganzen Kreises
behandelt. Wir begleiten entweder den Helden auf seinen Jrrfahrten
durch die Gesellschaft, bis er in ihr einen festen Halt gefunden, wie den
„Wilhelm Meister,“ den „Hermann“ in Jmmermann's Epigonen u. s. f.;
oder eine bestimmte Frage wird ohne aufdringliche Tendenz an einem
konkreten Fall des socialen Lebens dargestellt. Hierher gehört besonders
die Physiologie der Ehe in Goethe's „Wahlverwandtschaften,“ in
den Romanen der George Sand, z. B. in der „Jndiana“, dem
Jacques,“ und ihren zahlreichen Nachahmungen. Von derselben
Schriftstellerin wird die sinnliche und platonische Liebe in der „Lelia“
geistvoll kontrastirt, der Handwerkerstand verherrlicht u. s. f. Der Gegensatz
der Stände, der Kampf der Bourgeoisie und Aristokratie, die Ueberflügelung |#f0414 : 392|

der letztern durch den Genius des tiers-etat, bildet in Gustav
Freytag's
„Soll und Haben“ den Mittelpunkt der Handlung. Freigeistige
Auflockerung in streng konservativen, autonomischen Kreisen ist die
Grundstimmung in Schücking's „Romanen,“ während den Gegensatz
von Arbeit und Besitz, Erfindung und Ausbeutung auf industriellem
Gebiete Prutz in seinem „Engelchen“ behandelt. Fanny Lewald liebt
konfessionelle Konflikte der religiösen und politischen Ueberzeugung in den
Vordergrund zu stellen. Hier liegt die Gefahr der Tendenz nahe, an der
eine Menge neuer Romane scheitern.


Jn Beziehung auf den Lebenskreis, in welchem sich der Roman
bewegt, kann man den Salonroman, den Volksroman und den
bürgerlichen Familienroman unterscheiden. Der Salonroman
führt uns in die fashionabeln Konflikte des aristokratischen Lebens; wir
sind hier den Sorgen der materiellen Existenz entnommen, und diese höhere
Freiheit läßt die Fragen des Herzens zu ihrem ungetrübten Rechte
kommen. Die Gefahr liegt hier in der Verfeinerung der Empfindung,
in ihren üppig selbstgefälligen Schwelgereien, in der Ueberhebung einer
exklusiven Lebensstellung! Das Resultat dieser ausschließlichen Beschäftigung
mit dem eigenen Herzen ist entweder der Ehebruch oder das Kloster.
Die Staël in „Corinne“ und „Delphine“ ging hier voran; Bulwer
in „Pelham,“ „Devereux“ folgte; die Gräfin Hahn-Hahn in
ihren kapriciösen, aber geistvollen Romanen, der elegante Sternberg
u. A. vertreten den Salonroman in der deutschen Literatur. Jm Gegensatz
entwickelte sich in Deutschland der Volksroman zur Dorfgeschichte,
ohne den Humor des Lesage und Smollet! Derbe Realität, sogenannte
tüchtige Charaktere von altem Schrot und Korn, rustikale Zustände bis
in alle juristischen und kriminalistischen Verwickelungen hinein, bis in alle
Subtilitäten bäuerlicher Standesunterschiede treten in den Vordergrund;
die Faustinen verwandelten sich in Baarfüßele, die Ulrich's in Lehnholde;
Uli der Knecht fesselte mehr, als Sternberg's „Paul der Herr;“ aber
dieser Jdylle fehlte der Frieden, das Glück, die arkadische Beleuchtung;
die herbsten Konflikte wurden in sie verlegt; sie war entweder bäuerlich
roh oder von Reflexionen einer ihr fremden Bildung durchzogen, so daß
weder das Talent eines Auerbach und Rank, noch die kapriciöse und
naturwüchsige Originalität eines Gotthelf diesen Schöpfungen eine |#f0415 : 393|

längere Dauer und Geltung verbürgen. Jn die Mitte zwischen Volks=
und Salonroman tritt der Familienroman, welcher die Jnteressen
der bürgerlichen Familie, die einfachen Konflikte des häuslichen Lebens
behandelt. Richardson in seiner „Pamela,“ „Klarissa“ u. A. ist der
Schöpfer dieses Romans; Oliver Goldsmith gab in seinem „Vikar
von Wakefield“ sein glänzendstes Muster. Rührende Jdyllik des Hausstandes,
Verführungsgeschichten, Nahrungssorgen, die Welt aus der Perspektive
des Wohn- und Schlafzimmers bildet ihren Jnhalt. Hermes
verpflanzte den Richardson'schen Roman, der sich wenigstens durch
organische Gliederung und einen wenn auch noch so weitschweifigen
innern Zusammenhang auszeichnete, nach Deutschland. Hier bildet er
seit Lafontaine's Zeit die undurchdringliche Mitte einer umfangreichen
Unterhaltungsliteratur ─ wir brauchen blos Clauren, Gustav Schilling,
Laun
u. A. zu erwähnen. Die Engelländerin Currer Bell mit
ihren psychologisch interessanten Gouvernantenromanen, und die Schwedin
Friederike Bremer sind die Führerinnen jener großen Schaar, welche
das Werg des Familienglücks und Unglücks am häuslichen Herde spinnt.


Als eine Spezialität des Romans erwähnen wir noch den exotischen
und Seeroman, welcher an den „Urroman,“ die Odyssee, und an die
ersten hellenischen Romane anknüpft. Seinen Jnhalt bilden die Abenteuer
des Meers und der Fremde, das Seeleben, der Urwald und die
exotische Landschaft, die Sitten fremder Völker, die socialen Raçenkämpfe
in fremden Welttheilen. Einen solchen exotischen Reiz üben auf uns die
national patriotischen Romane eines Cooper aus, der indeß an genialer
Darstellungsgabe, glänzendem Kolorit, kosmopolitischem Weltblick und
tiefem Humor bei weitem von Sealsfield übertroffen wird. Den
Seeroman insbesondere vertritt Eugen Sue mit greller, aber phantasiereicher
Marinemalerei und Marryat mit derb kräftigem Humor und
farbensattem Realismus.


Wenn das humoristische Element in alle diese Romane mit hineinspielt
und in einzelnen Charakteren, Situationen und Schilderungen zur
Geltung kommt: so tritt es stylbeherrschend in dem humoristischen
Roman
auf. Der Humor beeinträchtigt allerdings das epische Grundgesetz
der Objektivität; denn wenn er auch dem objektiv Komischen zu
seinem Rechte verhilft, so hat das freie und glänzende Spiel des Geistes, |#f0416 : 394|

das die Welt kaleidoskopisch zusammenschüttelt, doch bei ihm das Uebergewicht.
Die objektive Komik tritt in jenen realistischen Possenbildern,
wie sie sich in den Romanen eines Smollet und Fielding finden, noch
mehr aber in jener ironischen Darstellungsform hervor, welche mit der
Treue des naiven Epikers ernst, sorgfältig, unerschütterlich den Zusammenhang
von Begebenheiten erzählt, welche der Spiegel der menschlichen
Thorheit sind. Das unsterbliche Muster dieser Darstellungsweise ist der
„Don Quixote“ des Cervantes, dessen humoristischer Doppelstern
Don Quixote und Sancho Pansa für alle Zeiten den idealistischen und
realistischen Pol der menschlichen Thorheit repräsentirt. Auch der satyrische
Roman eines Jonathan Swift, besonders sein Hauptwerk
„Gulliver's Reisen,“ gehört in dies Gebiet objektiver Komik. Die burlesk=humoristischen
Romane eines Rabelais und Fischart wenden sich
bereits von der streng=epischen Darstellung ab und ergehn sich in allen
erdenklichen Sprüngen der Laune und des Witzes, bald phantastisch, bald
cynisch, mit handgreiflichen Angriffen auf einzelne Stände der Gesellschaft.
Dagegen nimmt der sentimentale Roman bei Sterne einen
Anlauf zu vollkommener Verflüchtigung des Epischen in die ätherischen
Gase eines Sentiments, das sich kaum noch um das Thatsächliche kümmert,
sondern nur seinen eigenen, launisch launigen, fast hysterischen
Anwandlungen folgt. Eine glänzende Vereinigung der satyrischen Ader
Swift's, der Sentimentalität Sterne's und der derben Komik Fielding's
in einem reichen, tiefen, allseitig gebildeten Genius findet sich in den
humoristischen Romanen Jean Paul's, deren Form indeß die Licenzen
des Humors mißbraucht und in vollkommene Styllosigkeit ausartet. Zu
einer mehr epischen Darstellungsweise kehrt der humoristische Roman
eines Dickens, Thackeray, Hackländer zurück, wenn auch die Ader
Sterne's keineswegs in diesen mehr realistischen Formen ganz versiegt ist.


3. Das Märchen und die Novelle.


Aus dem Märchen, der phantastischen Novelle, bildete sich die moderne
Novellistik, was historisch unschwer nachzuweisen ist. Das indische Fabelbuch
des „Bidpai,“ die sieben weisen Meister, die disciplina clericalis
von Petrus Alfonsi, die gesta Romanorum, in denen arabische Märchen
stark vertreten waren, bildeten neben den französischen Fabliaux der Trouvères |#f0417 : 395|

die Hauptquelle der italienischen Novellistik, welche die ersten und
bedeutendsten Muster dieser epischen Nebenform enthält. Mit den
Märchen von Tausend und Einer Nacht, dem Papageienbuch haben diese
italienischen Novellenbücher eine bestimmte Einkleidung gemein, indem
eine Situation vorausgeschildert wird, aus welcher jene Erzählungen
fließen. Diese Situation ist in den sieben weisen Meistern, in dem
Märchen von Tausend und Einer Nacht bekannt. Aehnlich läßt Boccaccio
im „Decamerone“ seine Novellen in einem Kreise von Herren und
Damen erzählen, welche vor der Pest aus Florenz geflohn. Noch abenteuerlicher
ist die Einkleidung in dem „Pecorone“ des Ser Giovanni,
wo der Geliebte einer Nonne, der Mönch und Kaplan geworden, um in
ihrer Nähe zu sein, und diese selbst im Sprechzimmer des Klosters sich
fünfundzwanzig Abende lang diese Novellen erzählen. Ebenso unglücklich
ist die Einleitung zu den „Diporti“ des Girolamo Parabosco,
der uns erzählt, wie siebenzehn Herren fischen gehn wollen, sich aber, weil
das Wetter zu schlecht, zusammensetzen und Geschichten erzählen. Cinthio
läßt in seinen „Hecatommiti“ zehn Frauen und zehn Herren der
Plünderung Roms entfliehen, nach Marseille segeln und sich unterwegs
Novellen erzählen. Das Muster des Boccaccio ahmte bekanntlich auch
Chaucer in seinen „Canterbury tales“ nach, indem er diese Geschichten
von Pilgern, bei Gelegenheit der alljährlichen Frühjahrswanderung nach
dem Grab des Märtyrers Thomas Bekket in Canterbury, Abends
bei Tisch erzählen läßt. Neuerdings sind Tieck im „Phantasus,“ dem
romantischen Märchenbuch, und Goethe in den mehr novellistischen
„Unterhaltungen der Ausgewanderten“ diesen Beispielen gefolgt. Und
in der That eignet sich ein solcher erzählender Faden trefflich zur Anreihung
einer größeren Zahl von Märchen und Novellen. Das Märchen
ist eine phantastische Erzählung, welche nur dem freien Fluge der
Phantasie folgt und die Schranken der Realität nicht achtet. Wie die
Sage aus der Auflösung des Mythos hervorgegangen, unterscheidet es
sich von dieser durch die gänzliche Unbestimmtheit in Bezug auf seine
Helden, auf Ort und Zeit. Die Sage vollzieht den Proceß der Entgötterung,
indem sie die Götter in Halbgötter, Heroen und wunderbare
Helden verwandelt, aber dabei die bestimmte That, den bestimmten
Namen festhält. Das Märchen rettet dagegen die Ungebundenheit des |#f0418 : 396|

Wunderbaren, für welches jeder feste Anhalt aufgegeben wird. Naiv,
kindlich, spielend oder gespenstig, schauerlich schlägt es eine ganze Skala
von Tönen an; aber mit der Virtuosität der selbstgenugsamen Phantastik.
Es bewegt sich in der Region des Traumes und besitzt seine ganze
Magie. Es verzaubert die Natur, läßt Thiere reden, aber nicht wie in
der Fabel als allegorische Repräsentanten einer bestimmten Eigenschaft,
sondern in aller bunten Frische und Freiheit der Jndividualität. Die
Metamorphose ist seine Praxis, die Seelenwanderung sein Dogma. Es
schwelgt in Glanz und Pracht, im feeenhaften Kolorit, im Kolossalen und
Ueberraschenden, in einer hyperbolischen Wirklichkeit. Sein traumartiger
Charakter schließt alles Lehrhafte, jede bestimmte Moral aus und läßt
nur hier und dort eine Bedeutung, einen Sinn ahnungsvoll in seine
vorüberfliehenden Erscheinungen hineinspielen. Die orientalischen Märchen
sind farbenreich, die deutschen, von den Gebrüdern Grimm in den
„Kinder- und Hausmärchen“ gesammelt, treuherzig und sinnig. Was
die Romantiker, der Däne Andersen und andere Kunstdichter auf diesem
Gebiete geleistet, welches vor Allem der schöpferischen Phantasie des Volkes
überlassen bleiben muß: das enthält theils des Wirren und Tendenziösen,
theils des Süßlichen und Kindischen zuviel, um, besonders wo es
von der Tradition abweicht oder gänzlich neuerfindet, auf ein anderes
Publikum, als das des Boudoirs, zu wirken.


Die Novelle, die das Wunderbare des Märchens ausstößt, ist die
kleine prosaische Erzählung einer Begebenheit, in welcher der rasche und
spannende Fortgang der Situationen zu einer entscheidenden Krisis die
epische Breite des Romans, seine tiefere Charakteristik und ausgeführte
Seelenmalerei vertritt. Die Novelle verhält sich zum Roman, wie die
poetische Erzählung zum Epos. Sie ist leichter, frischer, energischer und
erinnert mehr an den rascheren Fortschritt, Scenen- und Situationswechsel
und innern Zusammenhalt des Drama. Die Novelle darf nur
einen Knoten schürzen und lösen; sie erfordert deshalb Erfindungsreichthum
und Gewandtheit, glücklichen Griff, kühnen Wurf, ineinandergreifende
Komposition. Sie soll unterhalten ─ es kommt nur darauf an,
ob die Unterhaltung mehr oder minder geistreich ist. Gerade durch ihre
größere Kürze kann die Novelle pikant und drastisch wirken, sie kann ein
sinnreiches Zeit- und Lebensbild geben; sie kann aber auch blos durch |#f0419 : 397|

abenteuerliche Schürzungen des Zufalls fesseln. Aus den romanischen
Literaturen, in denen der Jtaliener Boccaccio und der Spanier Cervantes
als novellistische Muster hervorragen, wurde sie besonders durch
die romantische Schule nach Deutschland verpflanzt, welche sie, wie das
Märchen, anfangs zum Vehikel ihrer abenteuerlichen Erfindungen machte.
Später hat besonders Ludwig Tieck die sociale Zeitnovelle
geschaffen, in welcher er, oft mit ironischer Meisterschaft, oft mit doktrinairer
Schwatzhaftigkeit, vielen Richtungen der Zeit den Spiegel vorhält.
Die geistvolle Freiheit der Darstellung räumt diesen „Novellen“ einen
hohen Rang ein; nicht blos Anhänger und Geistesverwandte Tieck's,
Steffens, Bülow
u. A. bildeten diese Richtung weiter aus, sondern
auch die jungdeutsche Schule benutzte nach Tieck's Vorgang die novellistische
Form für ihre gährenden Reformtendenzen. Eine einsame Stellung
unter den Novellisten der Gegenwart behauptet Leopold Schefer,
der die Tiefe seiner „magischen“ Weltanschauung in jede seiner farbenreichen,
aber traumhaft motivirten Novellen hineingeheimnißt. Das
Ueberwuchern der Novelle, die aus allen Journal- und Zeitungsspalten
hervorkeimt, als beliebige Erzählung zufälliger, oft sinn- und bedeutungsloser
Begebnisse in einer meist styllosen Prosa, deutet auf eine belletristische
Verflachung, welche den Dilettantismus allzusehr in den Vordergrund
treten läßt. ──────


Sechster Abschnitt.

Das didaktische Gedicht.


Man hat die didaktische Poesie als eine vierte, selbstständige
Hauptgattung der Dichtkunst, die durch ihre ausgesprochene Lehrhaftigkeit
an der Grenze der Prosa steht, von den übrigen abgezweigt! Doch
giebt weder ihre Darstellungsweise noch ihr Jnhalt ein Recht dazu, ihr
eine so bedeutende und unabhängige Stellung einzuräumen*), so groß
auch die aufgehäufte Masse derartiger Gedichte ist. Tritt der Zweck zu

*)
Vergleiche Moritz Carrière „das Wesen und die Formen der Poesie.“
S. 183 u. flgde.
|#f0420 : 398|

belehren und über irgend einen Gegenstand Unterricht zu ertheilen mit
ausgesprochener Bestimmtheit auf: so muß die dichterische Einkleidung,
wie es bei den meisten Lehrgedichten der Fall ist, nur als eine zufällige
erscheinen. Dann gehört das didaktische Gedicht in den Kreis der prosaisch=poetischen
Misch- und Zwitterformen. Doch auch hier wird der
Ton der Darstellung ein epischer sein! Jch kann nur über einen
Gegenstand belehren, indem ich ihn beschreibe ─ die Beschreibung
ist aber ein isolirtes episches Moment. Dies ist auch der innige
Zusammenhang zwischen dem beschreibenden und didaktischen
Gedichte, die beide zu ungehöriger Selbstständigkeit ausgebildete Theile
des epischen Organismus sind. Tritt aber das Lehrhafte nicht
so unmittelbar und direkt auf, sondern nur als der Sinn einer dichterischen
Einkleidung, als das Resultat einer dichterischen Entwickelung:
so vertheilt es sich an die verschiedensten Gattungen der
Dichtkunst, an die lyrische, epische und dramatische! Die Fabel
und Parabel, die wir bereits unter den Erzählungen angeführt,
die „Satire“ und „Epistel“ sind didaktische Formen des epischen
Styles, an deren dichterischer Vollgültigkeit man nicht zweifeln sollte, da
eine echt künstlerische Behandlungsweise hier wie auf jedem Gebiete der
Dichtkunst Einkleidung und Bedeutung zu schöner Einheit verbinden
kann. Wir unterscheiden als Formen des didaktischen Gedichtes das
Epigramm, das Lehrgedicht, die Satire und Epistel.


1. Das Epigramm.


Das Epigramm (Sinngedicht) ist aus den alten Aufschriften auf
Denkmälern hervorgegangen und die lakonische Urform des Epos.
Die Jnschrift auf dem Denkmal einer That, dem Grabmal eines Helden
faßt diese That, das Leben und Wirken des Helden in gedrängtester
Epik
zusammen. Aus diesem Ursprung leitet auch Lessing seine
bekannte Definition her, indem er das Sinngedicht für ein Gedicht erklärt,
„in welchem, nach Art der eigentlichen Aufschrift, unsere Aufmerksamkeit
und Neugierde auf irgend einen einzelnen Gegenstand erregt und mehr
oder weniger hingehalten werden, um sie mit eins zu befriedigen.“
Erwartung und Aufschluß sind also die beiden Theile des Epigramms! |#f0421 : 399|

Die Erwartung wird durch die episch objektive Darstellung
erregt; der Aufschluß tritt als überraschende sinnige Deutung auf.
Wesentlich für das Epigramm ist, daß es aus diesen beiden Theilen
besteht, daß jeder scharf ausgeprägt ist, daß das Bild nicht mit andern
Zügen ausgemalt wird, als sie die Deutung erfordert, weil sonst der Aufschluß
eine noch auf Weiteres gerichtete Erwartung nicht befriedigen
würde. Der bloße Denkspruch ist ebensowenig Epigramm, wie das
kurze Histörchen ─ dort fehlt die Erwartung, hier der Aufschluß.
Jenes sind Gnomen, Weisheitssprüche, dies Anekdoten im
Lapidarstyl. Die epigrammatischen Bienen unterscheiden sich noch von
den Heuschreckenschwärmen einer moralisirenden Gnomik. Jn der
Bibel, in der griechischen Anthologie, in den orientalischen Frucht= und
Rosengärten finden sich zahlreiche GnomenSalomon und Solon,
Theognis
und Saadi, Rückert in der „Weisheit des Bramahnen
ergehen sich in solchen aphoristischen Offenbarungen. Der schärfste,
satyrische Epigrammatiker ist der Römer Martial. Seine neulateinischen
Nachahmer erwähnen wir nicht! Der Franzose Scarron, die
älteren deutschen Dichter Logau, Wernicke, Kästner, Goethe und
Schiller in den Xenien, litterarisch=kritischen Epigrammen einer
anmaßenden Diktatur, haben das Epigramm weiter ausgebildet! Seine
beliebteste Form ist das Distichon ─ schon das einzelne Distichon
genügt zum Epigramm, als sein vollkommenes formales Schema, indem
der Hexameter die Erwartung, die sich weit erschließt, der Pentameter
den kurz zusammenfassenden Aufschluß giebt. Doch eignet sich auch der
leichtfüßige, kurze Jambus in passenden Reimverschlingungen zum rhythmischen
Träger des Epigramms. Jn der neuesten Zeit hat man das
Epigramm in selbstständiger Form wenig ausgebildet ─ dagegen durch
die beliebte Vermischung der Formen, die in allen Uebergangsepochen
eintritt, die epigrammatische Pointe auf Dichtungen übertragen,
deren Reinheit sie entstellen muß. Nach Heine's Vorbild ist selbst unsere
Liederdichtung und Reflexionspoesie von solchen epigrammatischen
Pointen angekränkelt, welche den musikalischen Schmelz des
Gefühls und den Schwung des Gedankens zerstören. Eine Befreiung
der Lyrik von diesen Pointen des Weltschmerzes, der Blasirtheit und des |#f0422 : 400|

spielenden Witzes würde durch einen selbstständigen Anbau des Epigramms
erleichtert werden ─ seine Bienenstöcke würden dann aus unsern
lyrischen Blumengärten entschwinden.


2. Das Lehrgedicht.


Das Lehrgedicht ist die in eine dichterische Form gekleidete Auseinandersetzung
irgend eines Gegenstandes aus dem Gebiete der Moral,
des Lebens, der Wissenschaft und Kunst. Hier hört die freie Durchdringung
von Form und Jnhalt auf; der bestimmte einseitige Zweck verdrängt
den Selbstzweck der Schönheit, um so mehr, als die wissenschaftliche Analyse,
deren sich das Lehrgedicht in Definitionen, weitläufigen Erörterungen,
welche das Ganze in seine Theile auseinandernehmen, bedient, der
poetischen Synthese geradezu entgegengesetzt ist. Wir haben dies schon
früher, bei dem beschreibenden Gedicht, erwähnt, das ebenfalls durch den
analytischen Gang, durch die Mosaik von Einzelnheiten den poetischen
Zauber einbüßt. Beide Dichtformen sind für die Gegenwart verschollen,
von ihrer ästhetischen Bildung verurtheilt und haben deshalb nur noch
das Jnteresse einer geschichtlichen Kuriosität. Von diesem Gesichtspunkte
aus bleibt der Aesthetik nur noch der kurze literarhistorische Nachweis
übrig, an wie vielen Stoffen sich diese lehrhafte Muse versucht.


Der Grieche Hesiod beginnt mit seinen „Tagen und Werken,“ die
reich an nüchternen Beschreibungen im Kalenderstyl, an Regeln der
Lebensweisheit, der Oekonomie u. s. f. sind, den Reigen. Die patriarchalische
Einfachheit der Lebenszustände übt hier auf uns noch einen poetischen
Reiz aus. Jn Virgil's „Georgika“ verschwindet dieser Reiz, trotz
einzelner glänzender Schilderungen, gegen die weit ausgeführte Prosa der
Agrikultur. Gedichte wie Ovid's „ars amandi“ und des Lucretius
„de rerum natura“ erheben sich, indem sie Stoffe der Empfindung und
des Gedankens behandeln, über das Niveau der blos technischen Lehrgedichte.
Auch die „ars poetica“ des Horaz und die Poetiken des
Vida, Pope und Boileau finden in ihrem Stoff einige dichterische
Oasen. Jn neuerer Zeit hat Tiedge's sentimental=religiöse „Urania“
einen mehr elegisch=lyrischen Charakter. Wir fügen hier einen nicht einmal
vollständigen Katalog der literarhistorischen Kuriositätensammlung
des Lehrgedichtes bei.

|#f0423 : 401|


Von neulateinischen Dichtern schrieben in Versen: Vida
„über das Schachspiel“ und „die Seidenzucht,“ Fracastoro „über die
Syphilis,“ Giuseppe Milio „über den Gartenbau,“ Kardinal
Adriano und Natale Conti „über die Jagd,“ Angelio Bargeo
„über die Dressur der Jagdhunde,“ Marco Tullio Berrò zehn
Bücher rusticorum.


Von italienischen Dichtern: Giovanni Rucellai nach Virgil's
Vorbild „über die Bienen,“ Alamanni „über den Landbau,“ Baldi
„über die Nautik,“ Berlingheri eine Geographie in terze rime,
Tessauro „über die Seidenzucht,“ Giambullari „über die Beschwerden
des Ehestandes“ im „Sonaglio delle Donne,“ Fiordano
gab eine gereimte Naturgeschichte der Fische, Duchi schrieb „über das
Schachspiel,“ Valvasone „über die Jagd,“ Riccoboni „über die
Schauspielkunst,“ neuerdings Bartolomeo Lorenzi „über den Bergbau,“
Cesare Arici „über den Olivenbau und die Korallen,“ Niccolini
„über den Cedernbau“ u. s. f.


Von englischen Dichtern: John Davies „nosce te ipsum,“
über die Unsterblichkeit der Seele, Buckingham „über die Dichtkunst,“
Roscommon „über die Uebersetzungskunst,“ John Phillips
„über die Bereitung des Aepfelmostes,“ Hill „über die Schauspielkunst,“
Dyer „über die Wolle,“ Armstrong, „über die Diätetik,“
Grainger „über das Zuckerrohr,“ Pope „über den Menschen,“
Akenside „über die Freuden der Phantasie,“ Young „über die Kraft
der Religion“ u. A.


Von französischen Dichtern: Louis Racine „de la grâce,“ und
„de la réligion,“ Dorat „über die theatralische Deklamation,“
Delille „über die Gartenkunst und den Landbau,“ Boisjolin „über
die Botanik,“ Castel „über die Pflanzen,“ Erménard „über die
Schifffahrt,“ Lalane besang den Küchengarten, Gudin und Daru
die Astronomie, Légouvé das Verdienst der Frauen, St. Victor die
Hoffnung u. A.


Von deutschen Dichtern schrieb Martin Opitz „den Vesuv“ und
„Trostgedicht in Widerwärtigkeit des Krieges,“ Haller „die Alpen,“
Cronegk „die Einsamkeiten,“ Uz „die Kunst stets fröhlich zu sein,“
Kästner „über die Kometen“ und „einige Pflichten des Dichters,“ |#f0424 : 402|

Lichtwer „über das Recht der Vernunft, Dusch „über die Wissenschaften,“
Neubeck „über die Gesundbrunnen“ u. A.


3. Die Satire.


Die Satire, eine Dichtung, welche die Jrrthümer, Thorheiten,
Laster der Zeit mit scharfem Spott, sittlichem Pathos und in komischer
Darstellung geißelt, darf den Zweck der Belehrung und Besserung nicht
offen zur Schau tragen, wenn sie nicht in die Fehler des Lehrgedichtes
verfallen will, sondern sie muß aus ihrer Darstellung selbst den Spott
und die Züchtigung der Thorheit unmittelbar hervorleuchten lassen.
Geht sie aus einer humoristischen Weltanschauung hervor, besitzt der
Dichter objektive Darstellungskraft: so schwindet das Lehrhafte der
Satire zu unbedeutender Nichtigkeit, und sie behauptet einen episch=humoristischen
echt dichterischen Charakter. Auch das Pathos sittlicher Entrüstung
stört diesen nicht, wenn es sich nicht selbstständig in den Vordergrund
drängt, sondern nur die innere Gluth, die Kraft und das Mark
der Darstellung hergiebt. Die gefährliche Klippe der Satire ist die
Karikatur, in welche sie leicht übergeht, da die Thorheit um so
schärfer hervorgehoben wird, je mehr sie sich mit einem Menschen, einer
Epoche zu identificiren scheint. Als Vers der Satire wurde der Jambus
von Archilochos, der Hexameter von Horaz, der Alexandriner von früheren
deutschen Dichtern angewendet. Wir halten die Freiligrath'schen
Alexandriner und die gereimten Jamben noch heutzutage für empfehlenswerthe
Formen der selbstständigen „Satire,“ die mit Unrecht in Mißkredit
gekommen ist, seit sich die satirische Ader nur durch die Romanprosa
(in Jean Paul's Extrablättern, Jmmermann's Münchhausen,
Gutzkow's Blasedow u. a.) oder durch die Feuilletonliteratur hindurchzieht.
Wir glauben zwar nicht, daß die „Satire“ noch jene Wirkungen
haben wird, wie die schmähenden Jamben des Archilochos, deren Opfer
sich selbst aus Verzweiflung erhängten; wir wünschten auch dem persönlichpasquillartigen
Ton der Pope'schen „Dunciade,“ der spießbürgerlichen
Prosa Rabener's und andern einseitigen historischen Gestalten keine Wiedergeburt;
doch wir erinnern nur an die liebenswürdige Sittenmalerei
des epikuräischen Horaz, an den finstern stoischen Zorn des Persius,
an des Juvenalis Rembrandt'sche Kulturbilder, an diese Denkmäler |#f0425 : 403|

einer in ihren Lastern kolossalen Zeit; wir erinnern an Boileau und
Voltaire, Swift und Pope, an die vortrefflichen deutschen Muster
eines Lauremberg und Liskow, um unsere Generation zur Wiederbelebung
der selbstständigen satirischen Form anzuregen. Die Satire
als eine Stimmung des Gemüthes, welche die Wirklichkeit am Jdeal
mißt, kann freilich die verschiedensten dramatischen und epischen Formen
durchdringen; doch hat sie ebensogut ein Recht, sich ihre eigene Form zu
schaffen, welche durch rhythmische Getragenheit einen lapidaren Charakter
annimmt, den die charakterlose Humoreskenprosa des Feuilletons ihr
nicht gewähren kann. Auch auf diesem Gebiete werden die Nachwehen
der Heine'schen Richtung am besten durch eine künstlerische Fassung und
Anlehnung an antike Muster bei echt moderner Weltanschauung verwunden
werden.


4. Die Epistel.


Auch diese Form verdient die Beachtung der modernen Dichter. Jn
ihrer geschichtlichen Behandlung wiegt oft das Lehrhafte, oft das Satirische,
wie bei Horaz, Pope, Wieland u. A. vor; doch die freiere
Form der Epistel, als des poetischen Briefes, der ein individuelles
Leben gewinnt durch die Person, die ihn schreibt und durch die, an welche
er gerichtet ist, erscheint geeignet für humoristische Ergüsse, welche eben
durch diese fast dramatischen Beziehungen zweier Charaktere und durch
die metrische Form einen künstlerischen Halt gewinnen. Wenn wir auch
die römische „Heroide“ des Ovid, und ihre Nachbildung von Pope,
Dorat, Laharpe, Hoffmannswaldau
und Lohenstein, als die
pathetische Epistel, in welcher berühmte Männer und Frauen des
Mythos und der Geschichte die Helden des Briefwechsels sind, für bedenklich
halten, weil sie zu Monologen verführt und ungeeignet ist, einen
weltgeschichtlichen Charakter in seiner Bedeutung darzustellen: so giebt sie
doch einen lehrreichen Wink, welcher verschiedenartigen Ausbildung die
Epistel fähig ist. Ein lebendiges humoristisches Kulturbild der Gegenwart
läßt sich in einer solchen „Epistel“ vortrefflich vorführen; sie ist die
dichterisch geadelte Humoreske und Novellette; ja selbst einer Welt
von Stimmungen, psychologischen Entwickelungen, Reflexionen, für
welche nur die Prosa des Romans heutzutage eine Stätte bietet, eröffnet |#f0426 : 404|

sie ein erwünschtes Asyl. Es ist keine Frage, daß die ernste „Epistel“ in
der Hand des rechten Talents dichterische Bedeutung gewinnen kann.
Von neueren Dichtern hat sich nur der vielversuchende Rückert auf ihren
Boden gewagt. Doch würden wir statt des Horazischen Hexameters
lieber den Jambus Pope's und Gay's, am besten in freier Behandlung
mit wechselnden Füßen, wie bei Uz, Michaelis, Nikolai und
andern deutschen Vorbildern des vorigen Jahrhunderts, empfehlen. Auch
dürften für einige Gattungen der Epistel sich die Platen'schen Parabasenverse,
die Anapästen und Trochäen, eignen. Der Humor gewinnt
in der Epistel noch dadurch freies Spiel, daß sie nicht an eine bestimmte
Person gerichtet zu sein braucht ─ man kann auch, wie Sedaine, Episteln
schreiben „à mon habit“ oder wie De Pezay: „A la maitresse que
j'aurai.“

|#f0427 : E405|

Drittes Hauptstück.

Die dramatische Dichtung. ──────

Erster Abschnitt.

Wesen und Begriff des Drama.


Das Dramatische ist die Blüthe der Dichtkunst, die Vereinigung des
Epischen und Lyrischen in der unmittelbaren Lebendigkeit einer gegenwärtigen
sich nach der Zukunft hin entwickelnden Handlung. Wir
schauen in das Herz der Menschen, aus dem ihre Handlungen hervorgehn,
und zugleich in das Herz der Welt, welche durch die That der
Menschen verwandelt wird. Jenes ist das Lyrische, dies das Epische;
doch weder die thatlose Empfindung, noch die todte Aeußerlichkeit hat ein
Recht im Drama, welches zwar jene Elemente vereinigt, aber in einer
durchaus neuen Gestalt. Das Epos erzählt die vergangene Begebenheit,
die Lyrik stellt die gegenwärtige Empfindung dar; das Drama
führt uns eine gegenwärtige Handlung vor, die aber nach der Zukunft
hin gespannt ist, das Werden und Wachsen der Zukunft ist ebenso das
eigentliche Lebenselement des Drama, wie das Verweilen in einer das
Gemüth bewegenden Gegenwart das Lebensprincip der Lyrik, die Hingabe
an eine erfüllte Vergangenheit das des Epos ist. Die Lyrik
verharrt in der Jnnerlichkeit, das Epos entwickelt von außen nach innen,
das Drama von innen nach außen; doch wenn auch die Verschmelzung
des Epischen und Lyrischen eine chemische Vereinigung ist, die einen
neuen Stoff schafft: so treten doch in der Entwickelung der dramatischen
Handlung analytische Vorgänge ein, welche den beiden Faktoren des
chemischen Produktes eine selbstständige Geltung verschaffen. Die äußerliche |#f0428 : 406|

Welt zwar ist im Drama zur Dekoration geworden; die epische
Beschreibung flüchtet in eine Scenerie, deren vollkommene Belebung
allerdings erst die wirkliche Aufführung des Stückes vollzieht. Flüchtige
Züge aus der Außenwelt verwerthet der Dramatiker nur für die Beleuchtung
des Seelengemäldes ─ wir erinnern an Shakespeare's Dunkan,
der die milde Luft und die nistenden Tauben in Macbeth's Burg, diesem
Tod bringenden Asyl, erwähnt. Dagegen wird die epische Erzählung
im Dramatischen stets Platz greifen müssen, und die hellenische Tragödie,
die, wie die hellenische Lyrik, den plastisch=epischen Grundcharakter der
griechischen Muse nicht verleugnete, macht einen ausgedehnten Gebrauch
von ihr. Da nicht die ganze Handlung auf der Bühne, unter der wir
zunächst nur die innere Bühne der Vorstellung verstehn, vor sich gehn
kann: so muß ein großer Theil der Handlung, der hinter den Koulissen
spielt, erzählt werden. Es entsteht nun die Frage, ob die Erzählung
nur das für den dramatischen Fortgang Wesentliche zu berühren habe,
oder sich in einer selbstständigen epischen Darstellung ergehen dürfe. Jn
den antiken Mustern ist das letztere unbedingt der Fall, ebenso wie sich die
Lyrik in dem tragischen und komischen Chor ein selbstständiges Organ
schuf. Auch bei Shakespeare und Schiller finden sich Erzählungen,
in denen die epische Darstellungsweise angewendet ist ─ wir erinnern
z. B. an Raoul's Erzählung in der „Jungfrau,“ an die des schwedischen
Hauptmanns im „Wallenstein.“ Doch muß als Regel festgehalten
werden, daß die epische Erzählung im Drama nur dann erlaubt ist,
wenn sie ein neues, den Fortgang der Handlung förderndes Moment
hinzubringt, wenn sie ein Hebel und nicht ein Hemmniß der dramatischen
Spannung wird. Nach zwei Seiten hin färbt schon die dramatische
Form die Erzählung in anderer Weise, als das Epos. Der epische
Erzähler ist objektiv, unbefangen, nur der Sache hingegeben ─ der
dramatische steht selbst unter der Macht des Eindrucks, den er hervorbringt.
Man denke an die vibrirende Siegesfreude in Raoul's, an
die gedämpfte Wehmuth in des schwedischen Hauptmanns Erzählung.
Dann aber hören wir im Drama nicht blos den Erzähler, sondern wir
sehn auch die Wirkung, die er hervorbringt, in unmittelbarer Lebendigkeit.
Die Erzählung ist episch, aber ihre epische Ausführung wirkt pathologisch!
Während der schwedische Hauptmann erzählt, sehn wir in der |#f0429 : 407|

Seele der Thekla den Kampf der stummen Affekte, aus denen sich der
dramatische Entschluß erzeugt. Diese Muster belehren uns, wann die
Erzählungen im Drama undramatisch und müßig sind. Am unstatthaftesten
sind sie am Anfange und Schluß des Drama in der Exposition
und der Lösung! Die Exposition soll durch die Handlung selbst, durch
frische Bewegung und Berührung der Charaktere vor sich gehn ─ der
Schluß aber die nothwendigen Konsequenzen der Handlung lebendig vor
uns entrollen! Besonders ist jeder Abschluß verfehlt, wo die Erzählung
einer bisher unbekannten Begebenheit den Knoten löst.


Ebenso wie das epische Element kann sich das lyrische aus dem dramatischen
zur Selbstständigkeit entbinden! Keine Handlung, die nicht
von Empfindung begleitet wäre ─ der Affekt, die Leidenschaft, die Höhenpunkte
der subjektiv=dramatischen Entwickelung sind ebenfalls Höhenpunkte
der Empfindung. Das Lyrische wird daher an mehreren Stationen
der dramatischen Handlung zum Durchbruch kommen. Jn der antiken
Tragödie war der Chor das Organ einer schwunghaften, selbstständigen
Lyrik, welche die Anregungen der dramatischen Handlung in freien Ergüssen,
in denen freilich das Episch-Gnomische vorwog, in sich verarbeitete.
Der Versuch, den Chor wieder einzuführen und der Lyrik im Drama ein
anerkanntes Privilegium zu ertheilen, mißglückte ebenso in Ben Jonson's
„Catilina,“ wie in Schiller's „Braut von Messina.“ Dagegen
hatte nicht nur die Calderon'sche Romantik eine Fülle glühender Lyrik
in den handelnden Charakteren des Stückes selbst verbunden, sondern
auch der größte Dramatiker Shakespeare die tiefsinnigen Reflexionen und
lyrischen Stimmungen des griechischen Chors in den Mund seiner Helden
verlegt! Wie hätte dieser Dichter die Leidenschaft der Liebe in
„Romeo und Julie“ mit so meisterhaften Zügen schildern können, wenn
ihm nicht der volle Ausdruck einer seelenvollen Lyrik zu Gebote gestanden!
Je tiefer das Drama in das Jnnere des Menschen zurückging, die geheimsten
Stimmungen der Seele belauschte, die Genesis der Leidenschaft durch
alle ihre Stadien verfolgte: desto mehr mußte ein lyrischer Zug sich in
das Dramatische verweben, ja es läßt sich behaupten, daß ohne dies
lyrische Element sich keine dramatische Situation in ihrer Tiefe erschöpfen
läßt. Wodurch unterscheiden sich die großen Dramatiker, ein Shakespeare
und Schiller, von den verständigen dramatischen Technikern, |#f0430 : 408|

Lessing, Jmmermann und Laube, als durch diesen Zauber einer latenten
Lyrik, durch den geheimnißvollen Reiz der echt dichterischen Beseelung?
Doch latent muß die Lyrik im Drama sein, nicht vorlaut, von innen
heraus wirkend, nicht von außen aufgetragen, dem Dramatischen gehorchend,
nicht es beherrschend, intensiv, nicht zerflossen! Die lyrischen Formen
des spanischen Drama, die Sonette und Stanzen sprengen den
Rahmen der bestimmten Kunstgattung. Wie anders ist die Lyrik in
Shakespeare's „Romeo und Julie,“ die Trägerin einer sich rastlos fortentwickelnden
Leidenschaft! Hieraus ergiebt sich die Berechtigung der
Lyrik und ihre Schranke! Die Lyrik im Drama ist nur ein aromatischer
Hauch, der über den Situationen und Charakteren schwebt! Die Lyrik ist
ausgesprochene Stimmung ─ jeder Charakter des Dramas macht in
seinem Fortgang eine Reihe von Stimmungen durch, die ausgedrückt
werden müssen! Doch zunächst dürfen diese Stimmungen nur dann einen
prägnanten lyrischen Ausdruck finden, wenn sie Ursache und Wirkung der
dramatischen Handlung, und nicht müßige Zwischenstationen sind; dann
aber darf diese Lyrik nicht eine bestimmte lyrische Form annehmen, sondern
sie muß sich der dramatischen Rhythmik unterordnen. Die Schillerschen
Monologe, in denen häufig Stanzen, anapästische, gereimte Verse
den reimlosen, fünffüßigen blanc-vers unterbrechen, sind nicht von lyrischer
Zerflossenheit freizusprechen.


Die dramatische Handlung selbst liegt nun, wie alles menschliche
Handeln, zwischen den beiden Polen der freien Selbstbestimmung und
der verhüllten Nothwendigkeit! Aber während das Epos sich mehr nach
dem zweiten hinneigt, mehr das menschliche Handeln unter das allgemeine
Weltgesetz stellt, sein Pathos unter die Naturgewalt beugt: stellt
das Drama die That des Menschen auf die Spitze seiner freien Entscheidung
und läßt die Handlung ohne jeden Eingriff der Natur aus
Wirkung und Gegenwirkung der handelnden Charaktere hervorgehn. Die
Welt des Dramas ist das Reich des freien Willens und der sittlichen
Zurechnung. Damit ist die Darstellung des Charakters in seiner Naturbestimmtheit
nicht ausgeschlossen! Gerade der Dramatiker stellt den Helden
in jener originalen Urbildlichkeit dar, wie sein Charakter „von Haus
aus“ erscheint, wie er unter den Einwirkungen der Verhältnisse geworden
ist. Der dramatische Charakter ist ganz; seine Entwickelung zieht nur |#f0431 : 409|

das letzte Facit seines Wesens. Der Konflikt muß nicht in seinen Eigenschaften,
in innerer Zerfahrenheit und Haltlosigkeit liegen, sondern in
seinem Geschick! Der Held darf zwischen zwei Entscheidungen schwanken,
aber dies Schwanken verliert alles Jnteresse, wenn es eine Eigenthümlichkeit
seines schwächlichen Charakters und daher eine alltägliche Lebensgewohnheit
ist! Das Räthsel des Verhaltens der menschlichen Freiheit
und Nothwendigkeit löst das Drama, wie das Leben selbst. Die Weltgeschichte
ist das Weltgericht! Lear, Hamlet, Otello müssen, ihrer
Charakteranlage nach, so handeln, wie sie handeln; aber ihre That gehört
vor das sittliche Gericht, dessen Urtheilsspruch in der Katastrophe und
dem Schluß des Drama liegt! Der Zufall ist von der Peripherie des
Drama nicht ausgeschlossen, wohl aber von seinem Mittelpunkt. Er
darf nicht in die wesentliche Entwickelung eingreifen, nicht die Katastrophe
herbeiführen. Fiesko darf nicht, auf einem Brett ausgleitend, in's
Meer stürzen ─ dazu gehört die That des Republikaners Verrina. Der
Zufall ist in der Tragödie nur der Regisseur des Schicksals, er setzt nur
die Nothwendigkeit in Scene. Was z. B. in „Romeo und Julie“ als
Zufall erscheint: das ist nur Offenbarung der sich überstürzenden Leidenschaft!
Der Dichter wählt eine Variation des Zufalls; er hätte vielleicht
auch eine andere wählen können, wie im Schach verschiedene Züge zu dem
gleichen Resultat führen; aber jede Variation ist in sich nothwendig und
aus der Nothwendigkeit der Charaktere und des ganzen Plans hervorgegangen.
Ein freieres Feld hat der Zufall im Lustspiel! Da erfreun wir
uns an seinem bunten Spiel, an jenem geheimnißvollen Luftzug, der die
Gestalten des Lebens zusammen und durcheinander weht! Doch auch hier
muß aus seinen neckischen Eingriffen, die das Unberechenbare im menschlichen
Leben in heiterer Weise vertreten, schließlich nur das hervorgehn,
was in den Menschen und Verhältnissen selbst liegt.


Schon die epische Handlung verfolgte ein bestimmtes Ziel, noch mehr
gilt dies von der dramatischen, deren letzter Endzweck aus einer energischen
Kollision der Zwecke hervorgeht. Die Charaktere des Drama
interessiren uns wesentlich durch ihre Zwecke! Deshalb ist müßige Charaktermalerei
episch! Der dramatische Charakter kann nicht so voll, so reich
an Zügen, so behaglich ausgeführt sein! Er ist von Hause aus gespannt
auf einen bestimmten Zweck und nur nach dieser Seite hin voll beleuchtet |#f0432 : 410|

Freilich muß der Dramatiker die Fabel so wählen, daß die Handlung
gerade den innersten Schwerpunkt des Charakters klar macht! Die
Achse, um welche die Handlung rotirt, muß auch die Achse des Charakters
sein ─ dann rotirt er mit ihr um sie und enthüllt in vollständigem Umschwung
eine Seite nach der andern. Aristoteles nennt die „Tragödie“
nicht die Nachahmung von Personen, sondern von Handlungen und
Lebensverhältnissen und Glück und Unglück (denn auch dieses beruht auf
Handlung), und ihr Endzweck ist eine Handlung, nicht eine Beschaffenheit.
Nun besteht aber die Beschaffenheit der Handelnden in ihren
Sitten, ihr Glück oder Unglück aber in ihren Handlungen. Also ist die
Handlung nicht zum Behuf der Sittenschilderung da, sondern der Handlungen
wegen wird die Sittenzeichnung mit umfaßt; und somit sind die
Situationen und die Fabel der Endzweck der Tragödie:

der Endzweck aber ist überall das Höchste. Ohne Handlung ist keine
Tragödie möglich, ohne Sittenzeichnung aber ist sie möglich. Wenn
man diesen Satz als Axiom festhält: so läßt sich die dramatische Auffassung
des Charakteristischen bei Shakespeare und Molière nur dadurch
mit ihm versöhnen, daß wir für die Handlung und für den Charakter
ein gemeinsames Centrum suchen. Die Vertiefung des Jndividuellen
gehört der modernen Zeit an! Unsere Charakteristik verhält sich zur
antiken, wie die bewegte Mimik unserer Darsteller zur regungslosen
Maske der alten. Dennoch darf der Kreis der Handlung sich nicht zu
einer Ellipse verschieben, wo die Bahn der handelnden Charaktere dem
Mittelpunkte bald näher, bald ferner ist! Es ist fraglos, daß den alten
Dramatikern zuerst die Fabel feststand, daß sie ganz naiv die Handlung
erfaßten, während einem Shakespeare im „Timon“ und „Hamlet,“
einem Ben Jonson im „Alchymisten,“ einem Molière im „Avare“
zuerst das Charakterbild vor der Seele schwebte, das in seinem Umschwung
den Kreis der dramatischen Handlung beschreibt. Die Goetheschen
Dramen sind fast alle Charaktergemälde, nicht einmal im Sinne
Jonson's und Molière's, mit kräftigen dramatischen Handhaben, sondern
meistens duftige Seelengemälde. Goethe gelang es nicht, die
Handlung zum Mittelpunkte seiner Dramen zu machen und die Charaktere
an ihr und durch sie zu entwickeln. Bei ihm überwiegt die Gesinnung,
das Ethos, die wechselnde Beleuchtung der Seele. Dagegen entsprechen |#f0433 : 411|

die Schiller'schen Tragödieen vollkommen dem Grundsatze des
Aristoteles, nur den „Carlos“ und „Tell“ ausgenommen, und verdanken
dem energischen Fortgang der Handlung ihre großen und verdienten
Erfolge.


Was die dramatischen Charaktere betrifft, so verlangt Aristoteles, daß
sie edel, angemessen, gleichartig und konsequent seien. Aristoteles
spricht nur von der Tragödie, und von ihr, der Nachahmung des
Edleren, verlangt er eine Charakteristik „nach Art der guten Portraitmaler,
welche, indem sie die individuelle Gestalt wiedergeben, sie zugleich
wohlgetroffen und idealisirt malen.“ Diese Jdealität erleidet daher in
der Komödie einige Modifikationen, obgleich die derbe Realität auch hier
in den freieren Farben des Humors schimmern muß. Schon das Gleichniß
des Aristoteles giebt dem Dramatiker ein Recht, die Fülle der Eigenthümlichkeit
zu entwickeln, wenn sie nur mit dem Schimmer der Jdealität
bekleidet ist, das schärfste Profil zu malen, aber nicht die Narben, Warzen
u. s. f. Die ideale Haltung darf nur nicht in das Aetherische übergehn,
weder den Charakter zu einem Musterbild des Guten, zu einer Mosaik
von lauter vortrefflichen Eigenschaften machen, noch in seiner Darstellung
allzufeine Tinten der Seelenmalerei wählen, indem die innern Wallungen
der Schönseligkeit keine dramatische Handlung gestalten können. Auf
der andern Seite ist das inkarnirt Böse, die absolute moralische Mißgestalt,
fehlerhaft, wenn sie, wie z. B. Franz Moor, nur als eine individuelle
Verkrüppelung erscheint! Jst diese diabolische Energie dagegen
nur das Gegenbild einer schwächlich verkümmerten Welt, wie Richard III.,
so gewinnt das Böse, als das Dämonische der Menschheit, eine höhere Berechtigung.
Ueberhaupt ist auch das absolut Böse noch immer dramatischer,
als das absolut Gute, weil es mit Energie seine bestimmten Zwecke verfolgt.
Dies Dämonische der Leidenschaft aber, welche den Menschen von That
zu That fortreißt und immer tiefer in das Gewebe des Bösen verstrickt,
ist wahrhaft tragisch ─ wir weisen nur auf Macbeth und Othello hin.
Ueberhaupt bedürfen die dramatischen Charaktere der Energie. Denn
nur durch diese Energie identificiren sie sich mit den Zwecken, die sie verfolgen,
woraus die dramatische Spannung und das Jnteresse an der
Handlung hervorgeht. Schwächliche und schwankende Charaktere können
dies Jnteresse nicht erwecken, da sie nur halb sich ihren Zwecken hingeben.

|#f0434 : 412|


Was die Angemessenheit der Charakteristik betrifft, so erläutert
sich diese Forderung von selbst. Horaz in seiner „Epistel an die Pisonen“
(114 und folg.) erwähnt eine doppelte Angemessenheit, zunächst
eine ethische:


Viel verschlägt's, ob ein Gott sei der redende oder ein Heros;
Ob ihn das Alter gereift, ob er noch von blühender Jugend
Braus', ob stolze Matron' auftret', ob geschäftige Amme,
Ob weitschweifender Krämer, ob Wirth des befruchteten Gütchens;
Kolcher oder Assyrer, ob Theb', ob Argos ihn aufzog;


dann aber eine historische:


Stellst du von neuem in Schrift den ehrenvollen Achilles,
Feuriges Muths, jähzornig, ein unerbittlicher Rächer,
Sag' er der Rechte sich los; nichts bleib' unertrotzt mit dem Schwerte.
Frech sei Medea gesinnt, unerschütterlich; Jno bethränet,
Jo gescheucht; Jxion verrätherisch, finster Orestes.

(Nach Voß.)


Dagegen können wir aus der von Aristoteles verlangten Gleichartigkeit
einige für das Drama der Gegenwart ersprießliche Folgerungen
ziehn. Die Charaktere müssen einerseits der Empfindungsweise der
Zeit und Nation, andererseits der allgemein menschlichen gleichartig sein.
„Für den Römer,“ sagt Schiller, „hat der Richterspruch des ersten Brutus,
der Selbstmord des Cato subjektive Wahrheit. Die Vorstellungen
und Gefühle, aus denen die Handlungen dieser beiden Männer fließen,
folgen nicht unmittelbar aus der allgemeinen, sondern mittelbar aus der
besonders bestimmten menschlichen Natur. Um diese Gefühle mit ihnen
zu theilen, muß man eine römische Gesinnung besitzen, oder doch zu augenblicklicher
Annahme der letzteren fähig sein.“ Der moderne Dichter, der
heutzutage einen Brutus und Cato wählt, vergreift sich in seinem Helden;
denn ihnen fehlt die Gleichartigkeit für unsere Zeit. Siegfried, der aus
Treue gegen seinen Lehnsherrn die Brunhild in der Brautnacht bändigt,
verstößt gegen die Empfindungsweise unserer Zeit! Wer aber seine Gestalten
frisch aus dem Geiste seines Jahrhunderts herausschafft, aus
seinem Denken, Glauben und Fühlen, aus seinen sittlichen Voraussetzungen:
der erreicht die rechte Gleichartigkeit, welche den Beifall der Zeitgenossen
und das Jnteresse der Nachwelt zur Folge hat. Diese „Gleichartigkeit“ |#f0435 : 413|

schließt auch die paradoxe Charakteristik aus, die sowohl bei
den Zeitgenossen Shakespeare's, einem Massinger, Ford u. A., als
auch bei Hebbel, Ludwig, Meißner in neuer Zeit beliebt ist. Ausnahmenaturen
und Ausnahmemotive können kein allgemeinmenschliches
Jnteresse erwecken. Eine Leidenschaft, wie der Ehrgeiz des „Macbeth,“
die Eifersucht des „Othello,“ die, Allen gemeinsam, vom Dramatiker nur
zu tragischer Größe gesteigert wird, erweckt durch ihre Gleichartigkeit
unsere Sympathie; aber die befremdende Handlungsweise von Massinger's
„Sforza“ und Hebbel's „Herodes,“ von Massinger's „Molefort“
und Hebbel's „Graf Bertram,“ das Abnorme, Krankhafte, organisch
Fehlerhafte, die Marotte als Motiv der Tragödie, das verstößt gegen
jenes nicht genug hervorzuhebende Grundgesetz des Aristoteles. Die
Konsequenz der Charakteristik, die vierte Forderung des Stagiriten,
das Verharren des Charakters auf seinem Schwerpunkte, schließt natürlich
die Zeichnung eines inkonsequenten Charakters nicht aus, der nur
ebenfalls in seinem ganzen Wesen mit Treue durchgeführt sein muß. Doch
scheint es bedenklich, inkonsequente Charaktere in den Vordergrund des
Drama zu stellen, da ihr beständiges Abspringen von der geraden Linie
den energischen Verlauf der Handlung stört.


Diese Handlung selbst bedarf nun der Einheit; alle ihre Fäden
müssen in einem bestimmten Knotenpunkte zusammentreffen. Schon
Aristoteles nennt die Tragödie die Nachbildung einer abgeschlossenen und
vollständigen Handlung, die einen gewissen Umfang hat. (VII. 2.) Die
Einheit der Handlung ist eine einfache, wenn überhaupt nur eine
Handlung dem Drama zu Grunde liegt, eine zusammengesetzte,
wenn zwei oder mehrere, anfangs mit anscheinender Selbstständigkeit
abgezweigte Handlungen sich im Verlaufe des Dramas zu einem Hauptstamme
vereinigen. Diese Kompositionsweise war im altenglischen
Drama sehr beliebt, ─ Shakespeare gab ihr eine tiefere Bedeutung,
indem er nicht nur die äußerliche Vereinigung mehrerer Handlungen zu
einem Ganzen mit großer Gewandtheit bewerkstelligte, sondern ihnen auch
von Anfang an eine innere Beziehung zu einander gab, indem jede den
gleichen Grundgedanken des Dramas spiegelte. Lear und Gloster,
Antonio und Shylock neben Bassanio und Portia sind hierfür erläuternde
Beispiele. Die Einheit der Handlung fehlt, wenn sich zwei Helden |#f0436 : 414|

mit ihren Zwecken nacheinander ablösen, wie Carlos und Posa,
Cäsar
und Brutus, wenn das Drama ein Konglomerat von Genrebildern
ist, wie „Götz von Berlichingen,“ oder eine epische Massenhandlung,
in welcher die That des Einzelnen sich verliert, wie „Wilhelm Tell.“
Die Logik des Dramas ist so zweckvoll, so unerbittlich, daß keine Episode
in ihm Platz greifen darf. Doch wird oft als Episode bezeichnet, was
im wesentlichen Zusammenhang mit der Haupthandlung steht und
besonders durch einen Grundgedanken mit ihr verknüpft ist. So spiegelt
sich der Konflikt Wallenstein's in Max Piccolomini! Die Dialektik
von Treue und Verrath, welche durch diese Tragödie geht, die wir bei
dem Haupthelden selbst, bei Butler und Octavio wiederfinden, zeigt
sich hier in einer neuen Fassung! Der Kampf und Untergang der jugendlichen
Lieb eund Treue bildet einen wehmüthigen Kontrast mit der Tragödie
des Hochverraths. Doch würde die dramatische Einheit noch fester
und zweifelloser gewahrt sein, wenn es dem Dichter gelungen wäre, dem
Untergange des Max Piccolomini eine nicht blos in das Empfinden,
sondern auch in das Geschick Wallenstein's und seines Planes
eingreifende Wendung zu geben.


Man spricht in der Regel von drei aristotelischen Einheiten
und führt, außer der Einheit der Handlung, noch die des Ortes und der
Zeit als Gesetze des griechischen Aesthetikers an. Es ist bekannt, mit
welcher Strenge das klassische Theater der Franzosen diese Regeln beobachtete,
und mit welcher Genialität die altenglische Dramatik sie vernachläßigte.
Dort mußte die dramatische Fabel im engen Zeitraum von
einem oder wenigen Tagen auf einer unwandelbaren Scene abgespielt
werden; hier zog sich die Handlung durch lange Jahre hin; die Scene
wechselte fast mit jedem Auftritt und führte die Phantasie, innerhalb
eines und desselben Aktes, über weite Länder und Meere. Die Schiller'sche
Tragödie dürfte in dieser Beziehung die rechte Mitte halten und
neuern Bestrebungen als Muster gelten. Der Schnürleib der französischklassischen
Regelrechtigkeit hatte eine poetische Engbrüstigkeit zur Folge,
welche die hellenischen Klassiker nicht kannten. So weit entfernt waren
sie von einer strengen Beobachtung der Einheiten der Zeit, daß z. B. in
den Trachinerinnen des Sophokles die Seereise von Thessalonien
nach Euböa dreimal vollbracht wird, und in den Schutzgenossinnen |#f0437 : 415|

des Euripides während eines einzigen Chorgesanges ein ganzer Feldzug
von Athen gegen Theben vorging und der Feldherr nach einer gewonnenen
Schlacht zurückkehrt. Jn den Dramen Corneille's und Racine's
dagegen ist alle Freizügigkeit der Phantasie aufgehoben, ihre Helden
sind glebae adscriptitii, und eine beengende Leibeigenschaft des
Geistes die Folge ihres Haftens an der Scholle. Bringt der Stoff
ungezwungen die Einheit der Zeit und des Ortes mit sich: so ist kein
Grund vorhanden, warum der Dramatiker diese Vorzüge des Stoffes
nicht unbefangen benutzen sollte. Doch wenn er dieser Technik nur das
geringste Opfer in Bezug auf höheren dichterischen Gehalt bringen muß:
so ist ihre Beobachtung verwerflich, ein kleinlicher Götzendienst vor hölzernen
Formen. Deshalb sind die neuern Versuche, durch scenische Künsteleien
das Jdeal jener Einheiten zu erreichen, spurlos vorübergegangen.
Auf der andern Seite wäre es noch mißlicher, jene scenischen Licenzen
des altenglischen Theaters nachzuahmen, das, durch seine einfache Einrichtung
begünstigt, indem die veränderte Scene nur durch einen Zettel
angezeigt wurde, an die Phantasie der Zuschauer die größten Zumuthungen
stellte. Der bunte, häufige Scenenwechsel, die maßlose Ausdehnung
in Zeit und Raum bringt nothwendig eine Zersplitterung des Jnteresses
und eine Zerfahrenheit der Handlung hervor, welche ihre innere Einheit
oft gefährdet, oft unmöglich macht.


Goethe hat in seinem „Götz von Berlichingen“ den Beweis geliefert,
daß die Nachahmung der Shakespeare'schen Regellosigkeit der Komposition
kein Stück von einheitlicher Handlung und fesselndem Jnteresse
hervorzubringen vermag, und widerlegt so durch sein eigenes Beispiel die
geniale Theorie seiner Sturm- und Drangepoche, die er mit den Worten
ausspricht: „Es ist einmal Zeit, daß man aufgehört hat, über die Form
dramatischer Stücke zu reden, über ihre Länge und Kürze, ihre Einheiten,
ihren Anfang, ihr Mittel und Ende, und wie das Zeug alles hieß, und
daß man nunmehr stracks auf den Jnhalt losgeht, der sich sonst von selbst
zu geben schien. Das Zusammenwerfen der Regeln giebt keine Ungebundenheit,
und wenn ja ein Beispiel gefährlich sein sollte, so ist's doch
im Grunde besser ein verworrenes Stück machen, als ein kaltes.“ Dagegen
geißelte schon zu Shakespeare's Zeiten einer der geistvollsten Zeitgenossen
die scenische Ungebundenheit des altenglischen Schauspiels. |#f0438 : 416|

Sir Philipp Sidney sagt in seiner „Vertheidigung der Poesie“ in
Bezug auf die Bühne Shakespeare's: „Jhr habt Asien auf der einen,
Afrika auf der andern Seite und soviele Reiche dazwischen, daß der
Schauspieler, wenn er auftritt, immer erst sagen muß, wo er sich befindet,
damit er nur verstanden werde. Da treten plötzlich drei Damen
auf und sammeln Blumen, und wir müssen annehmen, daß die Bühne
ein Garten sei ─ dann ist von einem Schiffbruch die Rede, und die
Bühne muß uns als ein Felsen erscheinen. Auf diesem zeigt sich ein häßliches,
feuerschnaubendes Ungeheuer ─ dann müssen die bedauernswerthen
Zuschauer die Scene für eine Höhle halten, während zwei
Armeen, von vier Schwertern und Schilden dargestellt, hereinstürmen
─ wer würde sich da nicht erbitten lassen, in der Bühne ein Schlachtfeld
zu erblicken? Jn der Zeit ist man noch weniger ängstlich, denn gewöhnlich
verlieben sich ein Prinz und eine Prinzessin ineinander, nach vielen
Zwischenfällen genest sie eines Knaben, eines schönen Buben; er geht verloren,
wird ein Mann, verliebt sich und zeigt sich bereit, selbst Kinder zu
bekommen, und das alles in einem Zeitraum von zwei Stunden.“ Wir
sehn, daß schon die Romantik des alten Englands ihren Platen fand;
und wenn auch die von Sidney gerügte Unklarheit der englischen Bühne
durch die Dekorationen unseres Theaters beseitigt ist, so bleibt doch sein
Tadel für den stürmischen Scenenwechsel der Stürmer und Dränger und
der Romantiker, eines Tieck, Jmmermann und ihrer Nachbeter zu Recht
bestehn, um so mehr, als auch die größere Hälfte der Shakespeare'schen
Stücke durch ihre scenische Zerfahrenheit ihre übrigen Vorzüge wesentlich
beeinträchtigt. Die altenglische Tragödie macht den Eindruck eines
Urwaldes, der erst durch Lichtung für den guten Geschmack zugänglich
wird. Das Hin- und Herfahren der Shakespearomanie auf der einen,
die gezwungenen Einheitskünsteleien auf der andern Seite haben dem
modernen Drama in seiner Entwickelung sehr geschadet. Wir glauben
als Prinzip feststellen zu dürfen: die Einheit von Ort und Zeit muß
insoweit beobachtet werden, als es die Einheit der Handlung verlangt.
Verwandlung der Scene findet nach jedem Akte, der zugleich ein nothwendiger
Einschnitt der Handlung ist, Statt. Jnnerhalb des Aktes dürfen
die Verwandlungen höchstens zweimal stattfinden, weil ein öfterer
Scenenwechsel die Stimmung nothwendig unterbricht. Aus dem gleichen |#f0439 : 417|

Grund sind allzugroße Sprünge im Ortswechsel, z. B. von einem Welttheile
nach dem andern, zu vermeiden! Die Phantasie folgt ihnen zwar
mit Leichtigkeit; aber die Stimmung wird unterbrochen, die Handlung
in eine andere Athmosphäre, unter andere Bedingungen versetzt. Das
paßt nur für die Posse, für den Weltumsegler wider Willen! Die Weite
des Raumes, welche die Phantasie durchfliegen muß, wirkt wie ein
episches, retardirendes Motiv. Auch darf sich der Kredit des dramatischen
Talentes nicht durch solche Anleihen bei der Phantasie des Publikums
erschöpfen. Ebensowenig darf der Zeitraum des Drama die
Grenze der einzelnen Lebensalter überschreiten. Ein Kind, das später
als Jungfrau oder als Mann auftritt, eine Jungfrau, die sich in eine
Matrone, ein Held, der sich in einen Greis verwandelt ─ das sind unerlaubte
Verpuppungen der dramatischen Chrysalide. Biographische Lebensläufe
in auf- und absteigender Linie passen nicht in den abgerundeten
Kreis des Drama. Die Einheit der Handlung verlangt vor Allem die
innere Einheit der Charaktere, nicht blos die Einheit des Objektes; denn
sonst könnte man einen Wetzlar'schen Reichsgerichtsprozeß, der über ein
Jahrhundert hinaus dauert, in Scene setzen und ganze Generationen in
ihrer Aufeinanderfolge zu Helden machen. Nach allen diesen Seiten hin
ist nicht Shakespeare mit seinen Verirrungen, die höchstens einem
Kotzebue, einer Birch-Pfeiffer und der neufranzösischen Boulevardsromantik
zu gute kommen, sondern der kunstgerechteste Dramatiker der
ganzen neuen Zeit, Schiller, als klassisches Muster hinzustellen. Den
Jnhalt der dramatischen Handlung bildet nun die Fabel des Stückes,
welche der Dichter selbst erfinden oder der Geschichte und dem Mythos
und der erzählenden Literatur entlehnen kann. Es ist eine verkehrte
Ansicht der Neuzeit, in der selbstständigen Erfindung das sicherste Zeugniß
des schöpferischen Genius zu suchen. Dann wäre Agathon ein größerer
Dramatiker als Sophokles ─ und von welchen Pygmäen würde
Shakespeare übertroffen werden! Nicht durch die Wahl des Stoffes,
sondern durch die Eigenthümlichkeit der Behandlungsweise unterschied
sich Euripides von Aeschylos und Sophokles. Die großen tragischen
Mythen der Alten waren traditionell ─ wie lächerlich wäre damals
ein Eigenthumsstreit um die Benützung einer Fabel erschienen, wenn „die
Eumeniden“ des Aeschylos gegen den „Orestes“ des Euripides oder die |#f0440 : 418|

„Elektra“ des Sophokles gegen die des Euripides eine Anklage des Plagiats
erhoben hätten! Wie lächerlich wäre noch in Shakespeare's Zeit
ein solcher kleinlicher Rechtshandel um das „Mein“ und „Dein“ einer
Erfindung erschienen! Jede Blüthenepoche der dramatischen Literatur
hat ihre bestimmten, Allen gemeinsamen Stoffquellen, ebenso eine
bestimmte und gemeinsame Richtung der Komposition und des Styles!
Was den Einzelnen über die Mitstrebenden erhebt, ist nicht die Erfindung
der Fabel, die sich ebenfalls nach einem unsichtbaren Schema richtet,
das den Dichtern vorschwebt ─ sondern die Größe der Weltanschauung
und die Kraft der Darstellung! Die Originalität des Dramatikers fällt
mit seinem Genius zusammen! Der Genius aber offenbart sich in der
nothwendigen Wahl des ihm angemessenen Stoffes.


Die eigene Erfindung, auf welche die neuen Dramatiker einen überschätzenden
Werth legen, zeigt sich alsbald in ihrer Mißlichkeit, wenn sie
ihre Gestalten frei in einem unbestimmten Aether der geschichtlichen Zeit,
der Sitte u. s. w. schweben läßt und nicht mit Sicherheit auf einem
historischen Grunde aufträgt. Daran scheiterte Agathon, der die feste
Bestimmtheit der Mythe verließ, welche die großen griechischen Tragiker
trug. Die altenglischen Dramatiker wählten entweder die Sagenzeit des
eigenen Vaterlandes als Stoffquelle (Ferrex und Porrex, König Lear u. A.),
oder sie gaben ihren Stoffen das Kolorit einer bestimmten Zeit und Volkssitte
(Marlow im „Maltheser,“ Webster in der „Vittoria Corrombona“
u. A.). Für das bürgerliche Schauspiel und Lustspiel ist dieser Hintergrund
ein für allemal in der Kultur der jedesmaligen Epoche gegeben.


Die Hauptfundgrube dramatischer Stoffe ist die Weltgeschichte, in
welcher große Charaktere und große Motive gegeben sind. Die historische
Tragödie nimmt für die Gegenwart unbedingt den ersten Rang ein.
Jnwieweit der Tragödieendichter das Recht hat, die Geschichte umzudichten,
haben wir bereits früher untersucht. Die Shakespeare'schen „Historien“
sind indeß verfehlte Dramen, und nur die lächerlichste Autoritätssucht
kann sie für Muster gelten lassen. Hier können wir nur Grabbe's
Urtheil unterschreiben, der Shakespeare's Fehler besser einsah als vermied:
„Vom Poeten verlang' ich, sobald er Historie dramatisch darstellt,
auch eine dramatische, koncentrische und dabei die Jdee der
Geschichte
wiedergebende Behandlung. Hiernach strebte Schiller, und |#f0441 : 419|

der gesunde deutsche Sinn leitete ihn; keines seiner historischen Schauspiele
ist ohne dramatischen Mittelpunkt und ohne eine koncentrische Jdee.
Sei nun Shakespeare objektiver als Schiller, so sind doch seine historischen
Dramen (und fast nur die aus der englischen Geschichte genommenen,
denn die übrigen stehen noch niedriger) weiter Nichts, als poetisch
verzierte Chroniken.
Kein Mittelpunkt, kein poetisches Endziel läßt
sich in der Mehrzahl derselben erkennen.“ Von Schiller's Auffassung
und Behandlung der Geschichte ist man in neuester Zeit wieder mit
Unrecht abgewichen, indem man Tragödieen zu dichten versuchte, deren
unsichtbarer Held der Weltgeist selbst sein sollte, die aber nur in den
massenhaften Spektakel großer Staats- und Kriegsaktionen verliefen.
Die Tragödie muß ein individuelles Geschick zum Mittelpunkt haben;
die Krisen der Massen, die Katastrophen der Völker sind nicht dramatisch.
Die historische Tragödie muß sich weder an die Kontinuität der Geschichte
hingeben, noch sie willkürlich unterbrechen ─ sie muß die fortgehende
Linie zu einem Kreis mit centraler Einheit umbiegen. Die Kunst des
Tragikers aber wird darin bestehen, im individuellen Geschick das Weltgeschick
zu spiegeln und den Mittelpunkt seines Kreises zugleich zum
Mittelpunkte jener großen koncentrischen Kreise zu machen, welche das
Schicksal der Völker beschreibt. Daß die neuere Geschichte seit der Reformation
die günstigste Stoffquelle für die moderne Dramatik ist, haben wir
bereits früher erwähnt.


Neben der eigenen Erfindung und der Geschichte kann der Roman,
die Novelle und die Ballade dem Dramatiker die Grundzüge seines
Stoffes geben; und es muß um so mehr für eine falsche Scham namhafter
dramatischer Dichter gelten, diese Stoffquellen zu verschmähn, als
es großer schöpferischer Kraft und Originalität bedarf, einen epischen
Organismus, dessen Schwerpunkt nach der entgegengesetzten Seite hin
liegt, in einen dramatischen umzudichten. Wir sprechen hier natürlich
nicht von der principlosen Einschachtelung eines beliebigen Romanstoffes
in die zufällige dramatische Form zur Erzielung stoffartiger Wirkungen
auf der Bühne; wir sprechen von der künstlerischen Benutzung eines
bereits in Romanform behandelten Stoffes für die Gestaltung eines einheitlichen
dramatischen Werkes. Es ist bekannt, daß Shakespeare und
seine Zeitgenossen besonders die italienischen Novellen als Fundgrube |#f0442 : 420|

dramatischer Stoffe benutzten; es ist ebenso bekannt, wie Shakespeare
diese zufällig gefundenen Stoffe nicht etwa blos dramatisch einkleidete,
sondern mit der Macht seines tragischen Genius umschuf und unter die
großen Perspektiven seiner genialen Weltanschauung rückte. Man hat
soviel Tadelnswerthes des großen Britten nachgeahmt ─ warum ist
man nicht auch hierin seinem Vorgang nachgefolgt? Aehnlich jenen
italienischen Novellen, deren Hauptvorzug in einer phantasievollen Erfindung
bestand, erscheinen die neuern französischen Novellen und Romane
─ und wie die altenglische Dramatik sich jener Stoffe bemächtigte und
sie in genialer Weise umdichtete: so dürfte auch für die moderne deutsche
Dramatik in diesen phantasievollen stoffartigen Produktionen ein glücklicher
Rohstoff vorliegen, der durch künstlerische und geniale Behandlung
sich zu bedeutungsvollen Dramen umgestalten ließe. Der deutsche
Genius würde nicht nur die dramatische Kunstform, sondern auch den
tiefern Grundgedanken für jene Stoffe erst schaffen müssen; aber diese
novellistischen Anregungen zu verschmähn, ist für einen modernen Dramatiker
so wenig ein Grund vorhanden, als für Shakespeare, einen bereits
von den Jtalienern Luigi da Porto und Bandello, von dem Franzosen
Boisteau und seinem englischen Uebersetzer Painter in Novellenform,
von Arthur Brooke als lyrisch=episches Gedicht behandelten
Stoff zur Grundlage seiner Tragödie Romeo und Julie zu nehmen. ──────


Zweiter Abschnitt.

Die Technik des Drama.


Keine Dichtform hat eine so unerbittliche Logik, wie die dramatische;
keine bedarf einer solchen Korrektheit des innern Zusammenhanges. Hierzu
kommt, daß das Drama für die Aufführung geschrieben ist und sich nach
den Anforderungen der Bühne richten muß. So ist seine Technik eine
vielfach schwierige und verwickelte; und nirgends im Bereich der Poesie
gilt so wie hier der Goethe'sche Spruch:


Jn der Beschränkung nur zeigt sich der Meister!


Jedes Hinausstürmen über die gegebenen Schranken vereitelt die |#f0443 : 421|

organische Bildung des Kunstwerkes und die Zwecke des Dramatikers.
Während unsere Aesthetiker die Technik des altgriechischen und altenglischen
Theaters, welche auf die Gestaltung des volksthümlichen Drama
jener Zeit vom allerentschiedensten Einfluß war, mit großer Ausführlichkeit
behandeln, halten sie es für überflüssig, die Regeln der dramatischen
Dichtkunst mit Bezug auf die Anforderungen der heutigen Bühne zu entwerfen.
Und doch sind die Tabulaturen der dramatischen Technik für
das Drama von nicht geringerer Wichtigkeit, als seine ästhetischen
Grundgesetze. Wie jede Dichtung hat das Drama nur dann eine
Zukunft, wenn es sich einmal einer lebensvollen Gegenwart erfreut hat.
Diese lebensvolle Gegenwart erringt es nur, indem es die Bühne
beherrscht ─ die Herrschaft über die Bühne aber ist abhängig sowohl
von seinem innern Zusammenhalt, seiner wirkungsvollen Energie, als
auch von seiner Angemessenheit zu den Einrichtungen des Theaters in
einer bestimmten Epoche. Man wird diesen Ausspruch alsbald mit dem
beliebten Gemeinplatz verdammen, daß das dramatische Genie über
solche scenische Anforderungen erhaben sei, daß es sich selbst seine ideale
Bühne
schaffe und auch nach dieser Seite hin reformatorisch auftrete.
Die Geschichte beweist indeß, daß diese Tröstungen unserer verkannten
dramatischen Genies jedes thatsächlichen Grundes entbehren. Ein recht
schlagendes Beispiel dafür bietet uns die Geschichte der englischen Literatur.
Jhr größter Genius, Shakespeare, war weit davon entfernt, von
den Bedingungen seines Theaters abzusehn. Er acceptirte sie ohne
jeden Vorbehalt; er trat ganz in die Fußstapfen seiner Vorgänger; er
huldigte in allen Aeußerlichkeiten dem Zeitgeschmacke; doch selbst die
Flecken und Schattenseiten, die ihm das Bürgerrecht auf der damaligen
Bühne erringen halfen, vermochten seinen Ruhm bei der Nachwelt nicht
zu verdunkeln. Man vergleiche nun mit Shakespeare den reformatorischen
John Dryden, den Schöpfer der neuern englischen Bühne
nach der Restauration, der die französischen Muster eines Racine, Corneille
und den Boileau'schen Codex der aristotelischen Einheiten mit dem
freieren Schwung der englischen Dramatik zu versöhnen suchte, der als
scenischer Gesetzgeber dem englischen Theater seine noch heute gültigen
Jnstitutionen gab. Sein Don Sebastian, Aurong Zeb, Troilus und
Cressida sind längst vergessen. Wir sehn hieraus, daß ein großes Genie |#f0444 : 422|

sich der Technik seines Theaters, seiner Epoche anschmiegt und trotz
dessen ewigen Ruhm gewinnt, während ein mittelmäßiges Talent trotz
seiner scenischen Neuerungen verdienter Vergessenheit anheimfällt. Das
Drama der Gegenwart hat die Bühne der Gegenwart zu seiner Voraussetzung.
Die romantische Genialität der Lesedramen hat sich nicht stichhaltig
bewiesen; ihre letzten Nachklänge verhallen immer mehr! Selbst
die originalen Kraftdramatiker, wie Hebbel, schmiegen sich den scenischen
Anforderungen an ─ und wenn Hebbel's Dramen sich nicht auf unserer
Bühne einbürgern, so liegt es nicht an einer Tieck-Grabbe'schen Formlosigkeit
und scenischen Unmöglichkeit, sondern nur an der Paradoxie ihrer
Stoffe. Jm Gegentheil, unser Theater ist der freien und kühnen dramatischen
Bewegung günstiger, als das Theater irgend einer Epoche, da
es für seine Maschinerieen und technischen Hülfsmittel kaum noch eine
Unmöglichkeit giebt. Der gewaltige Aufwand der Jnscenirung, an den
Ballet und Oper gewöhnt sind, kommt auch der dramatischen Dichtung
zugute. Auch ist nicht abzusehn, warum sich dieselbe die ausgedehnten
und glänzenden scenischen Mittel unseres Theaters nicht ebenso zu Nutze
machen sollte, wie das altenglische Drama die scenische Einfachheit und
Armuth des seinigen, vorausgesetzt nur, daß der innere Gang des Drama
durch diese glänzende Maschinerie weder gestört, noch verdunkelt wird.


Die Technik des Drama ist eine innere und äußere. Unter der
innern Technik verstehen wir einen Bau des Drama, der sein ästhetisches
Grundgesetz in eine wirkungsvolle Form kleidet, in Ausdehnung,
Gliederung, Steigerung nicht nur das Maaß des scenisch Möglichen festhält,
sondern auch scharf jeden Einschnitt der Handlung markirt; unter
der äußern Technik verstehn wir die Rücksichtnahme auf ganz bestimmte
Konvenienzen unserer Bühne. Jn Kollisionsfällen muß die äußere der
inneren geopfert werden. Die erstere ist mehr positiv, die letztere mehr
negativ. Die Wirkung der erstern wird durch die zweite unterstützt,
indem sie jede Störung vermeidet. Der Kanon der erstern hängt
mit dem Wesen des Drama innig zusammen; die Regeln der zweiten
sind zufällig, gelten für heute und nicht mehr für morgen, sind aber für
den Dramatiker der Jetztzeit ebenfalls von hoher Wichtigkeit.


Die innere Technik des Drama hat große Aehnlichkeit mit dem
Wesen des Schachspiels. Seine Gestalten sind ihm gegeben, wie die |#f0445 : 423|

Figuren dieses Spieles; ihre Bewegung geht nothwendig aus dem
Wesen ihres Charakters hervor, wie die Bewegung eines Thurms,
Springers, Läufers. Der dramatische Charakter kann ebensowenig
seinem Wesen untren werden, wie ein Thurm oder Läufer von ihrer Linie
abgehn und in die hüpfenden Touren des Rösselsprunges verfallen dürfen.
Die Beschränkung auf eine bestimmte Zahl zur Entscheidung
nothwendiger Figuren mag der Dramatiker ebenfalls vom Schachspiele
lernen; ebenso die Beschränkung auf einen bestimmten Zweck,
zu welchem alle Figuren gemeinsam wirken! Der König soll matt
gesetzt werden. Das ist der einzige und letzte Zweck des Schachs!
Ein gleiches „Matt“ ihres Helden verlangt die Tragödie, während
sich das Lustspiel mit einem Patt begnügt. Vom Drama, wie
vom Schachspiel gilt, daß jeder einzelne Zug dies letzte Ziel im Auge
habe. Das ist die Einheit des Spieles und die Einheit des Drama,
der geniale Durchblick nach dem letzten Endzweck, ohne den es keinen
großen Dramatiker und keinen großen Schachspieler giebt. Minder
Begabte verstricken sich in nebensächliche Verwickelungen und verlieren das
letzte Ziel aus dem Auge. Mit den bestimmten Figuren des Schachs ist
nun eine große Menge von Kombinationen und Variationen möglich;
ähnlich mit den Gestalten des Drama. Entscheidend aber ist im Schach
die kürzeste und schlagendste Kombination, die am raschesten zum
Ziele führt! Und wie der geniale Schachspieler durch wohlberechnete und
überraschende Opfer den Sieg davonträgt; so siegt der geniale Dramatiter
durch blendende Züge, die aber nur die innere Nothwendigkeit der
Sache, die dem blöderen Aug' anfangs versteckt ist, in überraschender
Weise aufdecken. Manche Variationen sind im Drama, wie im Schach
gleichgültig, indem sie in einer gleichen Zahl von Zügen zum Ziele
führen. Dagegen ist jede noch so glänzende Diversion verwerflich, wenn
sie das letzte Resultat aus dem Auge verliert. Unnöthiges Schlagen und
Abtauschen, das durchaus keinen Vortheil bringt, ist im Schach tadelnswerth;
im Drama das Hinopfern der Figuren, wenn es ohne Einfluß
auf den Fortgang der Handlung bleibt.


Diese Vergleichung mag Manchem müßig erscheinen; und doch erläutert
sie das Wesen der dramatischen Technik besser, als eine selbstständige
Abhandlung. Ja eins ihrer Hauptgeheimnisse, welches wir als das |#f0446 : 424|

dramatische Tempo bezeichnen, läßt sich vollständig nur durch einen
Blick auf das Schachspiel klar machen. Hier kommt es nicht nur darauf
an, daß der richtige Zug gemacht werde, sondern auch, daß er zur
rechten Zeit geschehe. Derselbe Zug ein Tempo später würde das
Spiel verlieren, das er ein Tempo früher gewonnen hätte. Ganz
ebenso verhält es sich im Drama. Es ist nicht gleichgültig, wann eine
Person in die Handlung eingreift, wann eine oder die andere Scene eingefügt
wird, wann eine Krise oder Katastrophe eintritt ─ ein Tempo
früher oder später macht einen großen Unterschied für die mehr oder minder
energische Entwickelung der Handlung. Der Schluß des Drama ist
am glücklichsten herbeigeführt, wenn er, ähnlich einem Schachräthsel, mit
logischer Nothwendigkeit in eine bestimmte Zahl von Zügen die letzte
Entscheidung zusammendrängt. Je kühner und überraschender diese letzten
Züge, desto glänzender die Auflösung des Räthsels und der Abschluß des
Drama. Die Gliederung des dramatischen Organismus in Akte
und Scenen kann keine willkürliche sein, sondern nur eine nothwendige.
Da er Dramatiker seinen Stoff nicht nach Behagen und Laune
vertheilen darf, sondern seiner innern Schwerkraft gehorchen muß, die den
Schwerpunkt der Handlung von selbst an eine bestimmte Stelle verlegt:
so wird nicht nur jeder Akt, sondern auch jede Scene sowohl ihre selbstständige
Bedeutung, als auch eine Bedeutung für den Organismus des
Ganzen haben müssen. Wie dieser muß jeder Akt und jede Scene
Anfang, Mitte und Schluß, ihren dialektischen Verlauf haben.


Die Scene wird durch das Auftreten einer neuen Person bedingt.
Man hat zwar, nach dem Vorgange der altenglischen Bühne, auch mit
dem Ausdrucke „Scene“ jede Verwandlung des Theaters bezeichnet,
mögen nun mehr oder weniger Personen innerhalb derselben auftreten.
Doch in der Regel gebraucht man Scene und Auftritt in gleicher
Bedeutung. Jede auftretende Person muß einen bestimmten in die
Handlung eingreifenden Zweck haben; es soll in einem Drama keine
müßigen Scenen geben; es sollen keine Personen auftreten ohne einen
vollkommen klaren und bestimmten Grund. Die Scene muß äußerlich
und innerlich motivirt sein. Die auftretende Person bringt ein neues
Moment in die Handlung, welches sich im Verlauf der Scene entwickeln
muß. Jn Scenen von größerer Bedeutung wird der Schluß ihren |#f0447 : 425|

Jnhalt in einer drastischen Pointe zusammenfassen. Hieraus gehen die
sogenannten dankbaren Abgänge hervor, die nicht blos äußerlich
theatralisch, sondern Ausflüsse echter dramatischer Energie sind. Wie
viele Personen in einer Scene zusammentreffen dürfen, darüber läßt sich
kein festes Gesetz geben. Doch müssen, mit Ausnahme der Statisterie bei
großen Staats- und Kriegsactionen, alle anwesenden Personen thätig in
den Fortgang der Scene eingreifen. Ob wir ein dialogisches Duett,
Terzett, Sextett vor uns haben ─ die Stimme eines jeden Mitwirkenden
bleibt wesentlich. Bei einer größeren Zahl von Personen kommt es auf
die Stimmenführung und Gruppirung an, wobei dem Dramatiker stets
das theatralische Tableau lebendig vor Augen schweben muß. Jm stummen
Spiele müssen sich die einzelnen Gruppen während einer Scene
ablösen; es darf dem stummen Spiel der Einzelnen nie zu viel überlassen
werden ─ sonst würde die Pantomime zum integrirenden Theil des
Drama gemacht. Jn der Regel darf die Scene nicht leer stehen, besonders
dann nicht, wenn diese Leere nur ein testimonium paupertatis für die
scenische Gewandtheit des Dramatikers ausstellen würde. Nur in spannenden
Momenten,
wenn hinter der Scene sich etwas Bedeutendes
begiebt, ist eine Ausnahme von dieser Regel gestattet. So bleibt z. B.
die Scene, ohne Beeinträchtigung des dramatischen Jnteresses, leer stehn,
während Otto von Wittelsbach mit gezogenem Schwerte fortstürzt, um
den Kaiser zu ermorden, bis zu seiner Wiederkehr nach vollbrachter That.


Größere Einschnitte des dramatischen Organismus bilden die Akte
(Aufzüge
), innerhalb deren die Handlung sich durch ein bestimmtes
Stadium weiter fortentwickelt. Das dramatische Finale jedes Aktes
faßt die in demselben enthaltenen Fäden zusammen ─ und das mattere
oder vollere Austönen, die größere oder geringere Wirkung des Schlusses
ist zugleich der Prüfstein für die Bedeutung, welche der einzelne Akt für
das ganze Drama hat. Darum dürfen wir in den sogenannten dankbaren
Aktschlüssen
kein werthloses Zugeständniß an die theatralische
Wirkung sehn, sondern vielmehr den anerkennenswerthen Erfolg einer
echt dramatischen Komposition, welche die zerstreuten Strahlen der Verwickelung
und Handlung am Schluß in einem Brennpunkte sammelt.
Die Zahl der Akte hat Horaz in seiner Epistel „an die Pisonen“ auf
fünf festgestellt. Wenn man mit Aristoteles Anfang, Mitte und |#f0448 : 426|

Ende als die wesentlichen Stadien der dramatischen Dichtung betrachtet,
so würde sich die Dreizahl der Akte als das richtige Gesetz des
Drama ergeben. Der erste Akt enthält den Anfang, die Exposition,
der zweite die Mitte, die Verwickelung, der dritte das Ende, die Entwickelung.
Es ist indeß ebensowenig ein Grund abzusehn, warum sich
die Verwickelung nicht in drei Akte ausdehnen soll, sodaß die Fünfzahl
an die Stelle der Dreizahl tritt, als auch, warum sich nicht die drei Akte
bei einem kurzathmigen Stoffe in die Abbreviatur eines einzigen zusammenziehn
sollten. Dagegen sind zwei, vier oder sechs Akte für die
dramatische Komposition ungünstig, indem die einzelnen Bestandtheile
der Handlung, deren Dialektik an das dreigetheilte Schema der logischen
Entwickelung erinnert, dann in den Akten keinen entsprechenden Ausdruck
und Abschluß finden. Wenn wir das fünfaktige Schema des Horaz
adoptiren, das bei größeren Dramen mit Recht allgemeine Anwendung
gefunden, so enthält der erste Akt die Exposition, die Bedingungen und
Anfänge der Handlung, die aber selbst wieder Handlung sind und nicht
todte Auseinandersetzung der Situation, wie sie sich bisweilen in den
Prologen alter Götterherolde findet. Die Exposition des Drama duldet
keine Mysterien für den Zuschauer; er muß mit gleichem Ueberblick, wie
der dramatische Dichter, alle Fäden der Entwickelung in der Hand halten.
Die Exposition soll uns aber gleichzeitig in die dramatische Stimmung
versetzen. Die Stimmung gehört zwar vorzugsweise der Lyrik
an ─ doch sprechen wir schon von einer epischen Stimmung und dürfen
noch mehr von einer dramatischen sprechen. Jede dramatische Handlung
hat ihr bestimmtes Kolorit, das mit ihrem Grundcharakter übereinstimmen
muß. Die heißblütigen Kampfscenen in „Romeo und Julie“
versetzen uns gleich in jene südliche Lebenssphäre, wo Haß und Liebe in
heißer Leidenschaftlichkeit emporlodern, während die düstern Hexen auf
Schottlands öden Haiden und Schlachtfeldern uns alsbald in jenen
unheimlichen Kreis bannen, aus dem die großen Verbrechen des Ehrgeizes
hervorgehn, indem der Geist aus der grauenhaften Oede der Natur
um so dämonischer brütend in die eigenen Tiefen einkehrt! Und wie
meisterhaft hat Shakespeare die Einheit der Stimmung in beiden Tragödieen
festgehalten ─ dort, sympathisirend mit der glühenden Sinnlichkeit
der Liebe, die duftigen Nächte, die Blumen und Nachtigallen des |#f0449 : 427|

Südens; hier, im Einklang mit den Verbrechen des ehrgeizigen Mordes,
die unheimliche Sturmesnacht des Nordens, in welcher die Eule krächzt
und der Wolf auf seinen Raub ausgeht. Das historische Drama muß
uns den Hintergrund der Kultur, den der Epiker in aller Breite auszumalen
berechtigt ist, den Geist der geschichtlichen Epoche und des Volkslebens
mit wenigen, aber schlagenden und lebensvollen Zügen darstellen,
die uns in die Stimmung jener Zeit versetzen. Jn dieser Beziehung sind
z. B. die ersten Akte des Egmont und Wilhelm Tell meisterhaft! Dort
befinden wir uns mitten in der rührigen und frischen Bürgerlichkeit des
niederländischen Volkes, welche im Helden der Tragödie eine ideale
Gestalt gewinnt; hier tritt uns die große, freie Natur der Alpen und des
Schweizer Volkslebens entgegen, dessen thatkräftige Rüstigkeit sich im
energischen Auftreten des Helden spiegelt. Der erste Akt versetzt uns also
in die Situation des Drama, die keine ruhende, sondern von
Anfang an nach der Zukunft hin bewegt ist, und in die dramatische
Stimmung. Er zeigt uns die Wurzeln der Handlung in ihrem
Wachsthum, und sein organischer Schlußpunkt ist dort, wo ihre ersten
Keimblätter sichtbar an's Licht hervortreten. Der Schluß des ersten
Aktes ist am wirksamsten, wenn er uns eine spannende Perspektive
in die Zukunft eröffnet, wenn er uns, wie mit einem Blitze, das Reich der
Möglichkeiten erhellt, innerhalb dessen die Handlung verlaufen kann.


Der zweite Akt schürzt den Knoten der dramatischen Verwickelung
enger, giebt dem Konflikt des Drama schärfere Bestimmtheit. Sind, wie im
„König Lear“ oder „Kaufmann von Venedig“ mehrere Gruppen da, welche
eine Grundidee spiegeln: so läßt der zweite Akt sie beide noch selbstständig
bestehn, vertieft und entfaltet nur die gesonderte Handlung. Er schließt
am besten mit einem folgenreichen Entschluß, z. B. in „Maria Stuart“
mit dem Entschluß der Elisabeth, die gefangene Königin in Fotheringhay=
Schloß zu sehn. Jst die Handlung des Drama in eine Reihe von
Thaten zerfällt, deren innere Einheit die bewegende Leidenschaft des
Helden ist: so kann schon im zweiten Akt eine entscheidende That geschehn.
So die Ermordung des Königs Dunkan im zweiten Akt des „Macbeth,“
die erste That in jener unheilvollen Kette der Verbrechen.


Der dritte Akt ist der centrale Akt des Drama, der Mittelpunkt
der Handlung. Der zweite Akt hat den Konflikt weiter entwickelt; der |#f0450 : 428|

dritte hat ihn gereift. Er enthält den Höhepunkt der Krisis
und das ist seine tiefe künstlerische Bedeutung. Er hat die Frucht gereift;
aber er darf sie noch nicht vom Baume schütteln! Denn solche vorzeitige
Beschleunigung der Entwickelung würde die letzten Akte um ihre Wirkung
bringen. Die Spannung ist auf's Höchste gediehn, der Konflikt auf seine
drohendste Spitze gesteigert. Hier tritt seine innere Einheit zu Tage,
gesonderte Handlungen müssen ineinandergreifen; die Koncentration des
dramatischen Pathos giebt dem Schluß des dritten Aktes eine mächtige
Wirkung. Diese Bestimmungen sind sowenig zufällig, daß wir sie gerade
an den kunstgerechtesten Dramen nachweisen können. Man darf indeß
nicht diesen Höhepunkt der Krisis mit der Peripetie verwechseln,
welche, wie wir bald genauer sehen werden, durchaus von ihm verschieden
ist. Jn derjenigen Tragödie Shakespeare's, deren Organismus vor
allen andern künstlerisch gegliedert ist, im „Coriolan,“ sehn wir im dritten
Akt die Spannung zwischen dem aristokratischen Patricier und dem Volk
und seinen Tribunen auf's Höchste gesteigert. Sie haben ihn, der sie in
stolzem Uebermuth schmähte, aus Rom verbannt. Jn der „Jungfrau
von Orleans“ schließt den dritten Akt die Begegnung mit Lionel, in welcher
die tragische Kollision zwischen der himmlischen Sendung und der
irdischen Liebe ihren Gipfel erreicht. Die Spannung zwischen „Maria
Stuart“ und „Elisabeth“ ist in ihrer Begegnung in Fotheringhay-Schloß
auf's Höchste gesteigert, und der Bruch durch den Mordversuch auf die
Königin von England, der am Schluß des Aktes eintritt, unheilbar
geworden. Jm dritten Akt des Tell liegt in der Scene des Apfelschusses
die dramatische Krisis. Der sittliche Konflikt des Acosta, der Kampf
zwischen dem freien Gedanken und der Liebe zur Familie findet im dritten
Akte, in der Scene mit der blinden Mutter, seinen Brennpunkt. Auch an
Othello und vielen andern Dramen läßt es sich nachweisen, wie der dichterische
Genius nur dem nothwendigen Gesetz der dramatischen Form
folgt, wenn er den Schwerpunkt der Krisis in den dritten Akt, in die
Mitte des Stückes verlegt.


Der vierte Akt dagegen ist der Akt der Peripetie, des Glücksumschwunges,
den schon Aristoteles als wesentlich für das Drama
bezeichnet und als dessen beliebteste Form er die „Erkennung“ anführt.
„Der Glückswechsel ist eine Veränderung mit den handelnden Personen, |#f0451 : 429|

wodurch sie in einen entgegengesetzten Zustand gerathen und zwar nach
unserer Bestimmung auf eine wahrscheinliche und nothwendige Weise.“
(Poet. c. 11.) Der vierte Akt des Drama ist nun die Entwickelung
der dramatischen Krise zur Peripetie, die ihm den wirksamsten Abschluß
giebt. Jn jenen Dramen, in denen die Steigerung des Konfliktes im
dritten Akt mit Meisterschaft ausgeführt ist, finden wir auch regelmäßig
im vierten eine kunstgerechte Peripetie. Wie großartig ist sie im „Coriolan,“
der siegend mit dem Heere der Volsker vor Rom rückt und sich
durch die Bitten seiner Mutter und Gattin zum Rückzuge bewegen läßt,
ein Rückzug, der seinen Untergang zur Folge haben muß. Welch' ein
Umschlag des Geschickes, welch' ein Wechsel! Der Rachedurstende
Triumphator, der bereits seine Vaterstadt vor sich gebeugt im Staube
sieht, verwandelt sich in der Entwickelung des vierten Aktes in den guten
Sohn, Gatten und Patrioten, der das Opfer seiner Großmuth wird.
Der Anfang des vierten Aktes der „Jungfrau von Orleans“ zeigt uns
die Heldin auf der Höhe ihres Ruhmes, am Schluß des Aktes entflieht
sie einsam und von Allen verurtheilt! Und wie meisterhaft ist diese Peripetie
herbeigeführt, indem die Heldin, jener Anklage der Zauberei gegenüber,
verstummte, weil sie ihr tieferes Verschulden durch das schweigende
Eingeständniß einer Schuld, der man sie mit Unrecht zeiht, zu büßen
sucht. Für Maria Stuart bringt der vierte Akt durch Leicester's Verrath
die Entscheidung ─ die Unterschrift des Todesurtheiles. Jm „Uriel
Acosta“ aber besteht die Peripetie im Widerrufe des Widerrufes, welcher
den Helden dem Untergange weiht.


Der Jnhalt des fünften Aktes nun ist die Katastrophe und der
Schluß der Tragödie. Der Untergang des Coriolanus, der Jungfrau
von Orleans, der Maria Stuart, des Uriel Acosta erläutert von selbst
die Bedeutung des letzten Aktes. Die Kunst des Dramatikers besteht
darin, den Verlauf der dramatischen Handlung von der Peripetie bis zur
Katastrophe noch spannend zu erhalten, den letzten Akt nicht zu einem
bloßen Austönen des vollen tragischen Akkordes zu machen, den der
Schluß des vierten angeschlagen. Jn allen oben erwähnten Dramen ist
der fünfte Akt matter, als der dritte und vierte, mit Ausnahme der
„Jungfrau,“ in welcher ein neues Moment der Handlung von spannender
Kraft die Katastrophe des Schlusses herbeiführt. Dagegen ist der |#f0452 : 430|

Schlußakt des „Macbeth“ und „Hamlet“ von echt dramatischer Steigerung.
Wir haben die Beispiele für die kunstgerechte Gliederung des
Drama aus dem Bereich der Tragödie genommen; wir hätten sie ebensogut
aus dem Kreise des Lustspiels nehmen können, nur daß hier die
Peripetie und Katastrophe eine andere Bedeutung gewinnt. Jn Scribe's
„Glas Wasser“ z. B. giebt der erste Akt eine klare und lebendige Exposition.
Am Schluß des dritten Aktes steht die dramatische Partie so
kritisch, daß Abigail sie für verloren, Bolingbroke für gewonnen erklärt.
Der vierte Aufzug aber führt durch das berühmte Glas Wasser die Peripetie
des Lustspieles herbei, während der fünfte Akt noch durch mancherlei
spannend verschlungene Fäden zur glücklichen Katastrophe eilt, d. h. zur
befriedigenden Lösung aller geschürzten Knoten und zur vollkommenen
Darlegung des schalkhaft ironischen Grundgedankens. Ohne diese Präcision
der dramatischen Gliederung, ohne diese Steigerung der Handlung,
die Schürzung und Lösung des Knotens, ohne die an richtiger Stelle eintretende
Krisis, Peripetie und Katastrophe wird das Drama leicht in das
epische Gebiet hinüberschielen und nicht jene energische Spann= und
Schlagkraft gewinnen, die seiner gedrungenen Form und ihrer logischen
Konsequenz eigenthümlich ist. Wohl werden Ausnahmen von diesen
allgemeinen Bestimmungen eintreten, wenn es die Behandlung eines
besondern Stoffes mit sich bringt; aber der dramatische Gang wird durch
diese Regeln markirt, und es wird stets bedenklich bleiben, die vorgeschriebene
Etappenstraße des Drama zu verlassen und romantische Seitenwege
einzuschlagen. Als ein Hauptkunstgriff der dramatischen Technik
gilt der Theaterkoup, die dramatische oder theatralische Ueberraschung*).
Die letztere, die in einer unverhofften scenischen Entwickelung
besteht, gehört nur in das Gebiet der Oper, des Ballets und
der Posse. Was die erstere betrifft: so sind die romanhaften Ueberraschungen,
die in unerwarteten Enthüllungen bestehn, von der Schwelle

*)
Das Wesen des Theaterkoups hat der Stagirit sehr schlagend ausgedrückt, wenn
er sagt, daß die Tragödie vorzugsweise dann ihren Zweck erreicht, ὁταν γένηται παρα
τὴν δόξαν καὶ μᾶλλον, ὅταν δί \̓αλληλα, „wenn die Begebenheiten wider Vermuthen
und doch aus einander entstehn.“ (Poet. c. 9.) Jn der That beruht auf dieser
Vereinigung des Ueberraschenden und doch wohl Motivirten die berechtigte
dramatische Wirkung.
|#f0453 : 431|

des Drama zu verweisen. Jm Drama verlangt Alles eine sorgfältige
Motivirung, und Effekte, die man als Wirkungen ohne Ursache definirt
hat, dürfen hier nicht Platz greifen. Wohl aber sind plötzliche Wirkungen
verstattet, die aus der Explosion geschickt angelegter Minen oder
Kontreminen hervorgehn. Jm Lustspiele hat der Zufall, in dessen Wesen
das Ueberraschende und Plötzliche liegt, ein Recht, wohlberechnete Plane
zu kreuzen und heitere Verwicklungen herbeizuführen. Der berechtigte
Theaterkoup geht aus maskirten Zügen des dramatischen Spiels
hervor, die, an sich klug und fein angelegt, doch durch die überraschende
Gleichzeitigkeit wirken, mit der sich zwei oder mehrere Angriffslinien
eröffnen. Auch die plötzliche Wendung eines Charakters, die allerdings
seinem Wesen nicht widersprechen darf, aber doch ein unerwartetes Licht
auf dasselbe wirft, kann die Wirkung eines Theaterkoups hervorrufen.
So ist uns Leicester in der „Maria Stuart“ als glatter und doppelzüngiger
Höfling bekannt ─ dennoch bringt sein Verfahren, dem Mortimer
gegenüber, den er verhaften läßt, um sich zu retten, eine überraschende
Wirkung hervor, die aber durch die Situation und den Charakter gerechtfertigt
ist.


Zur innern Technik des Drama im weitesten Sinne kann man auch
seine dialogische Einkleidung rechnen. Der Dialog ist die dramatische
Gesprächsform, das Hinundwieder der Rede, aus welchem wie aus den
Plattenpaaren der Volta'schen Säule der elektrische Blitz der Handlung
hervorspringt. Der Monolog, das Selbstgespräch, ist im Drama
ebenfalls berechtigt, als die Einkehr der dramatischen Charaktere in ihr
Jnneres, eine Einkehr, die indeß niemals ein blos lyrisches Vibriren des
Gemüthes sein darf, niemals eine zerfließende Hingabe von Stimmungen,
sondern uns entweder die innern Tiefen des Charakters, in denen der
Schwerpunkt der Selbstbestimmung liegt, ohne jede Maske enthüllt und
dadurch den Dialog ergänzt, oder im kritischen Moment die Wendung zur
That, die innere Entscheidung darlegt. So muß der Monolog in der
einen oder der andern Weise motivirend sein. Jn den Monologen
sammelt sich das Gemüth der Helden; die Handlung geht auf ihr
geistiges Centrum zurück. Der innere Konflikt, das Werden und Wachsen
des Entschlusses und der Leidenschaft kommt in den Monologen zu vollem
Ausdrucke. Die Monologe Wallenstein's vor dem Eintritte des schwedischen |#f0454 : 432|

Hauptmanns, Macbeth's vor der Ermordung Dunkan's, Tell's
vor der Ermordung des Landvogtes, ─ ein Monolog, der deshalb mit
Recht getadelt worden, weil er seine That zu einem Werk mörderischer
Berechnung macht ─ sind Beispiele für die dramatische Bedeutung des
Monologs. Jphigenie und die Jungfrau von Orleans, Hamlet, durch
das Schicksal zu einer That berufen, der sein Charakter widerspricht,
sprechen ihren innern Konflikt in Monologen aus. Nie darf indeß ein
Monolog ein blos lyrisches Pracht- und Schaustück sein, wenn sich auch
im Monolog die Charaktere in ihr Jnneres zurückziehn, und diese vorwiegende
Jnnerlichkeit ihm einen lyrischen Zug giebt. Dennoch muß er
ein organisches Glied des Drama sein, das sich nicht ohne Gefahr für
das Leben des Ganzen von ihm loslösen läßt. Jm Lustspiele wird der
Monolog noch mehr, als in der Tragödie, die geeignete Form sein, um
das Publikum zum Vertrauten von Planen und Jntriguen zu machen,
welche den übrigen handelnden Personen des Stückes zunächst verborgen
bleiben müssen.


Der dramatische Dialog darf weder in eine müßige Unterhaltung,
noch in eine sokratische Abhandlung in Gesprächsform ausarten. Er ist
scharf und schlagend, das geistige Schwert der kämpfenden Charaktere.
Er muß gesättigt sein mit der Energie des Willens, die auch durch die
Rede ihre bestimmten Zwecke verfolgt. Damit ist indeß nicht gesagt, daß
die dramatische Kraft des Dialogs in jener lakonischen Einsylbigkeit
besteht, welche zur Zeit der Sturm- und Drangperiode an der Tagesordnung
war und die Ergüsse der Leidenschaft und Empfindung naturwüchsig
auf gehäufte Jnterjektionen beschränkte. Ebensowenig soll die
Schlagkraft des Dialogs sich in jenen stichiometrischen Reden und Gegenreden
erschöpfen, welche an geeigneter Stelle, wie wir aus den griechischen
Tragikern und aus Schiller ersehn, von großer Wirkung sind, aber für
die letzten Zwecke des Drama nicht genügen. Der Dramatiker soll im
Dialog sein Pathos voll expliciren; er soll die Motive der Handlung und
ihre Zwecke in ein vollständiges Licht setzen, die sittlichen und historischen
Mächte, wenn sie im Gemüth der Helden oder im Verlauf ihres Geschickes
zur Geltung kommen, mit aller Würde und Majestät erscheinen lassen
und die stürmische Beredtsamkeit der Leidenschaft, wie den verhüllten |#f0455 : 433|

Schmerz der Seele mit der ganzen Kraft seines Genius offenbaren! Das
ist ja die berechtigte Magie der Dichtkunst:


Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab ihm ein Gott zu sagen was er leide!


Bei Sophokles und Euripides, bei Calderon, Shakespeare und
Schiller finden wir im Dialog diesen vollen Ausdruck des dramatischen
Pathos, und keine falsche Theorie der Naturwahrheit wird uns jene
Lakonismen des Dialogs als alleinberechtigt aufzudrängen vermögen,
hinter denen sich nur ausnahmsweise dramatische Energie, in der Regel
geistige Armuth und die Unfähigkeit verbirgt, in die Tiefen der Seele
hinabzusteigen.


Was nun die äußere Technik des Drama betrifft, so darf man
von ihm verlangen, daß es bühnengerecht sei, um sich jener Oeffentlichkeit
zu erfreuen, die sein wahres Lebenselement ist. Das Drama
gehört auf die Bühne der Gegenwart. Wenn seine innere Technik den
eben angeführten Bestimmungen entspricht: so wird ihm auch der theatralische
Erfolg nicht fehlen, der eine regelrechte Anlage und spannende
Durchführung stets begleitet. Dennoch müssen auch einige äußere Hemmnisse
beseitigt werden, welche die Jnscenirung erschweren. Die Länge
einer darstellbaren Tragödie oder eines Lustspieles darf bei der Aufführung
nicht das Maaß von drei Stunden überschreiten. Man mag immerhin
mit Hamlet's Jronie über diese Vorschrift die Achseln zucken und von
einem solchen Stücke sagen: „es soll mit eurem Bart zum Barbier;“
man mag sich auf die großen Werke Shakespeare's und Schiller's berufen,
die trotz ihrer Länge nicht nur bühnenfähig geblieben, sondern auch
unsterblich geworden sind; man mag an den Rothstift des Regisseurs
und der Schauspieler appelliren ─ wir weisen nur darauf hin, daß solche
Stücke, wie Schiller's „Carlos,“ Shakespeare's „Hamlet“ u. a. in ihrer
jetzigen Bühneneinrichtung verstümmelt sind, indem für den Zusammenhang
wesentliche Motivirungen fortgelassen werden; wir räumen gern ein,
daß es ein Theaterpublikum gegeben hat oder geben wird, welches ganze
Tage und Nächte vor der Bühne ausharrt; aber wir sprechen nur vom
Publikum und der Bühne der Gegenwart. Ein Stück, dessen Aufführung
drei Stunden überdauert, ermüdet die Aufmerksamkeit unseres |#f0456 : 434|

Publikums oder bedarf mindestens eines doppelten Aufwandes dramatischer
und theatralischer Mittel, um sie wach zu erhalten. Besonders
gefährlich ist die Länge des letzten Aktes. Von gleicher Wichtigkeit ist die
Beschränkung der Verwandlungen, indem eine Häufung derselben zwar
keine Schwierigkeiten für die Maschinerie unserer Bühne bietet, aber doch
nothwendig eine nicht intensiv fortschreitende, sondern hin und her springende
Handlung zur Folge hat und die Aufmerksamkeit des Publikums
zerstreut. Ferner verlangt die scenische Technik, daß nicht zwei große
Scenen, welche die ganze Tiefe der Bühne einnehmen und mancherlei
Zurüstung, Requisiten, eine bei der Verwandlung bereits rangirte Statisterie
bedürfen, aufeinander folgen. Solch' einer größern Ausstattungsscene
kann nur eine Scene mit kurz vorfallender Dekoration vorausgehn,
hinter der die nöthigen Vorbereitungen getroffen werden. Größere
Zwischenräume der Zeit zwischen die einzelnen Verwandlungen zu verlegen,
bleibt immer mißlich, da die Haupteinschnitte der Akte hierfür geeigneter
sind. Auch auf nothwendige Umkleidungen der Darsteller innerhalb
der Akte muß die erforderliche Rücksicht genommen werden. Alle diese
technischen Rücksichten, die sich noch weiter in's Einzelne ausführen lassen,
dürfen sich indeß in keiner aufdringlichen Weise geltend machen. Daß sie
beobachtet worden sind, darf der Zuschauer nur aus dem bequemen und
ungehinderten Gang der Aufführung errathen. ──────


Dritter Abschnitt.

Die Tragödie.


Jm Drama tritt, am meisten von allen Dichtformen, die scharfe
Sonderung des Tragischen und Komischen ein. Melpomene und
Thalia herrschen in getrennten Reichen. Nicht alles Tragische indeß ist
dramatisch. Aristoteles nennt als das dritte Moment der tragischen
Fabel das Unglück (cap. 11) und rechnet dazu gewaltsamen Tod, heftigen
und anhaltenden Schmerz, Verwundungen und dergleichen. Dies
Tragische kann in der Tragödie nur als Wirkung gelten, die aus einem
sittlichen Konflikt erwächst. Sonst gehört es in das Bereich des Epos,
wo der Kampf des Menschen mit der Gewalt und den Gesetzen der |#f0457 : 435|

Natur, deren Nothwendigkeit sich im einzelnen Falle als Zufall offenbart,
seine Stelle findet. Der Untergang eines Schiffbrüchigen ist tragisch im
Sinne des Epos, nicht im Sinne des Drama. Das Tragische des
Drama ist das sittlich Erhabene, sein Held kämpft gegen die bestehende
sittliche Weltordnung; der einzelne Charakter erhebt sich zu voller Größe
und Entfaltung, aber so erscheint er maaßlos gegenüber dem Maaß
der bestehenden Welt, deren Ordnung er entweder im Sturme der Leidenschaft
durchbricht, oder mit bewußtem Pathos erschüttert. Wir dürfen
zwei Formen des dramatisch Tragischen unterscheiden: das Tragische des
einfachen Konflikts und das Tragische der sittlichen Kollision.
Jenes beruht vorzugsweise auf dem Charakter, dies vorzugsweise auf
der Situation. Jn jenem schafft der Charakter die Situation, in
diesem entwickelt die Situation den Charakter. Auch die antike Tragödie
kannte bereits beide Formen, und wenn man unterschiedslos von der
Schicksalstragödie der Griechen spricht, erschöpft man keineswegs ihr
innerstes Wesen und vergißt, daß alle Keime der modernen Tragödie
bereits in ihr enthalten sind. Das Tragische des einfachen Konfliktes
beruht darauf, daß der Charakter durch seine Fehler (ἁμαρτὶα
τὶς, Arist.) in Kampf mit der Welt und dem Schicksal geräth und in
diesem Kampf untergeht. Aristoteles schließt die ganz guten und ganz
schlechten Charaktere von der Tragödie aus. Wir erweitern seine
„ἁμαρτὶα“ dahin, daß diese Fehler des Helden zugleich seine Vorzüge sein
müssen, daß seine Schwäche zugleich seine Kraft ist. Jeder einzelne
Charakter hat seine eigene Tragik, die in dem dunkeln, unüberwundenen
Urgrund einer Nothwendigkeit liegt, welche auch seine freien Entschlüsse
bestimmt. Es ist dies die Tragik der Prädestination, das Problem
ihrer Verkettung mit der freien Selbstbestimmung. Dramatisch wird sie
nur durch die Energie, mit welcher der Charakter seine eigenen Konsequenzen
in entscheidenden Thaten zieht. Der „rasende Ajax“ des Sophokles,
die wilde „Medea“ des Euripides sind in ihrem tiefsten Grunde
solche Charaktertragödieen und, wenn man von der antiken, unentwickelten
Einfachheit der Form absieht, von den gigantischen Charaktergemälden
Shakespeare's, einem Macbeth, Lear, Othello, Richard III., dem Wesen
nach wenig verschieden. Es ist nicht schwer, bei diesen Helden Shakespeare's
die ἁμαρτὶα nachzuweisen, die zu ihrem tragischen Verhängniß |#f0458 : 436|

wird. Die Macht und Größe der Leidenschaft aber, die sie beherrscht,
bildet ein Moment der tragischen Erhebung, fesselt uns dämonisch in die
Kreise ihres Strebens und läßt uns ihrem Untergange noch gerührte
Theilnahme schenken. Je moderner, vielseitiger, innerlicher der Charakter
wird, desto mehr kann auch seine Schuld sich gleichsam in das tiefste
Gehäuse seines individuellen Lebens zurückziehn; sie kann, statt in thatkräftiger
Energie, gerade im Ueberwiegen der Reflexion, im Mangel an
Thatkraft bestehn, wie im „Hamlet,“ oder in einer mehr passiven Eigenschaft,
im hingebenden Vertrauen und unerschütterlicher Arglosigkeit, wie
im „Egmont.“ Ja das Tragische kann ganz in das innere Gebiet des
Gedankens verlegt, ein einzelner Charakter zum Repräsentanten der denkenden
und ringenden Menschheit werden, wie „Faust“ und „Manfred.“
Jn allen diesen Tragödieen des einfachen Konfliktes ist der Verlauf, daß
der Held, seinem Charakter und dem Pathos folgend, das ihn beherrscht,
gegen die Ordnung und die Gesetze der sittlichen Welt verstößt, diese
gegen sich aufreizt, bis die gestörte Harmonie durch seinen Untergang
wiederhergestellt ist. Der ehrgeizige Macbeth ermordet seinen König,
seinen Waffenbruder Banko, Alle, welche nach der Usurpation seinen Pfad
kreuzen; er wird zum Tyrannen Schottlands, doch die Verletzung der
menschlichen und göttlichen Gesetze durch seinen Untergang gesühnt. Uns
aber fesselt an ihm der dämonische Zug, welcher den Eingebungen der
Schicksalsschwestern folgt, eine wilde Energie, welche den nicht verstummten
Zweifel des Gewissens in konsequenten Thaten übertäubt, und eine
Heldenkraft, welche sich muthig dem hereinbrechenden Verhängniß entgegengestellt.
Der Ehrgeiz, aufgestachelt durch die Zuflüsterungen der
Lady, treibt ihn zum Verbrechen; es ist trotz dieses äußern Anstoßes die
innere Schwerkraft seines Charakters, die ihn dem Abgrunde zuführt.


Die zweite Form der sittlichen Kollision stellt das Tragische auf
einer noch höheren Stufe dar. Jn den Tragödieen der Situation
beruht das Tragische auf einem Kampf gleichberechtigter sittlicher Mächte.
Wenn der Held der einen gehorcht, verletzt er die andere ─ nur sein
Untergang stellt das harmonische Gleichgewicht wieder her. So verstößt
Antigone gegen das Gesetz des Staates, indem sie dem Gebote der Pietät
folgt und ihren Bruder beerdigt! Sie fällt der bestehenden Ordnung,
dem äußern Gesetz zum Opfer als Verkündigerin des höheren, das in |#f0459 : 437|

die Brust des Menschen geschrieben; aber auch Kreon, der die Bestimmungen
der gesetzlichen Autorität aufrecht erhält und dabei eine That
schwesterlicher Liebe mit dem Tode bestraft, entgeht der tragischen Gerechtigkeit
nicht, indem sein Sohn aus Liebe zur edeln Verbrecherin sich
selbst das Leben nimmt. Klytemnästra rächt die geopferte Tochter Jphigenie,
indem sie den Gatten, den heimkehrenden Agamemnon, ermordet.
Orestes rächt den gemordeten Vater, indem er die Mutter erschlägt, doch
den Muttermörder verfolgen die Furien. Jn diesen letztern Beispielen
ist der Konflikt der sittlichen Mächte in die Brust eines Einzelnen verlegt,
während in der „Antigone“ jede der kämpfenden sittlichen Mächte einen
besonderen Vertreter hat. Ebenso ist es klar, daß das Tragische hier
nicht im Charakter liegt, sondern in der Situation, in jener Zwickmühle
der sittlichen Mächte, die unerbittlich ihr Opfer fordert. Diese Welt der
Konflikte liefert für die Tragödie den reichsten Stoff; schon Aristoteles hat
darauf hingewiesen, wie empfehlenswerth solche Stoffe sind, in denen
eine Leidenschaft in Verhältnissen ausbricht, deren Wesen die Liebe ist.
Die schärfste Fassung solcher Stoffe ist eben die Form der sittlichen Kollision.
Außer auf ethischem Gebiet, im Kreise der Familie findet sie
auch auf historischem Statt und gewinnt dort eine tiefere Bedeutung.
Die Entwickelung der Weltgeschichte ist ein ewiger Kampf zwischen dem
Bestehenden und einem Princip des Fortschrittes, das sich oft in gewaltsamer
Weise Bahn bricht. Jn diesen großen Epochen der Geschichte, in
denen die Arbeit des Weltgeistes am sichtbarsten hervortritt, wird der
Einzelne einer sittlichen Kollision preisgegeben, welche echt tragisch ist,
indem auf der einen Seite die heilige und nothwendige Autorität des
Bestehenden, auf der andern die begeisternde Jdee des Fortschrittes, die
innere Ueberzeugung, die zu lebendiger That drängt, sich gleichberechtigt
gegenüberstehn. Wenn der Held sich als ein Organ des fortschreitenden
Weltgeistes erfaßt und dem schöpferischen Drang in seiner Brust gehorcht:
so macht er sich einer Verletzung der bestehenden Weltordnung schuldig,
welcher er zum Opfer fällt. Die großen Religionsstifter und Reformatoren,
die Märtyrer ihrer Ueberzeugung, die Vorkämpfer der politischen
Freiheit, wie die Jmperatoren, welche das Gesetz der historischen Nothwendigkeit
an lebensunfähigen Republiken vollziehn, die Männer des
Gedankens, welche einer großen Entdeckung zum Opfer fallen, sind die |#f0460 : 438|

Helden dieser historischen Situationstragödie, welche indeß niemals
in epische Massentableaus des Völkerkampfes, der großen Hof= und
Staatsaktionen, der Usurpationen und Revolutionen ausarten darf, sondern
stets die Menschwerdung des Weltgeistes in einem Einzelnen verlangt.
Der Konflikt der geschichtlichen Epochen als solcher ist nicht tragisch, sondern
nur der Einzelne, der in ihm zerschellt. Solche Helden sind Sokrates
und Mahomet, Arnold von Brescia und Savonarola, Huß und
Luther, Columbus und Galilei, Julius Cäsar und Cromwell! Die Zeitalter
der geistigen und politischen Umwälzungen sind überreich an solchen
Stoffen. Doch liegt bei ihrer Behandlung die Gefahr nahe, der idealen
Situation das Charakteristische zu opfern, die Helden in das Princip
zu verflüchtigen, das sie vertreten, eine Gefahr, an welcher mancher
Arnold von Brescia (z. B. von Niccolini), Savonarola (von Mosen und
Auffenberg), Columbus (von Werder) gescheitert ist. Die Begeisterung
für die Jdee kann zu einer salbungsvollen Monotonie der Motivirung
führen, indem die Jdee selbst undramatisch wie eine Göttin des Euripides
sich nicht blos in Prologen und Epilogen vordrängt, sondern den
Helden selbst in ein von ihrer Macht getriebenes Werkzeug verwandelt.
Die moderne sociale Tragödie hat besonders den Konflikt der Liebe und
Ehre in den Vordergrund gestellt, der bereits den Mittelpunkt des spanischen
Drama bildete. Nur galt in diesem die Ehre als eine feststehende,
bis in's Subtilste ausgebildete Satzung des ritterlichen Codex, eine
strenge Etikettenform, während sie in neuester Zeit die mannichfachste
Bedeutung gewonnen hat. Wir finden in unsern Dramen den Kampf
der Liebe mit der Standesehre (Kabale und Liebe), mit der Karriere im
Staat und der Gesellschaft (Clavigo), mit der Ehre als einem Vorurtheil
der sittlichen Meinung (Maria Magdalene, Julie) u. s. f.


Die Wirkungen der Tragödie haben seit der Zeit des Aristoteles,
der sie bekanntlich in eine durch Furcht und Mitleid bewirkte Reinigung
derartiger Leidenschaften setzt, die Kunstrichter auf's Lebhafteste beschäftigt.
Die Andeutungen des Stagiriten berühren wenigstens die wesentlichsten
Gesichtspunkte, wenn sie dieselben auch keineswegs erschöpfen. Jn
der That gehört die Frage über den Grund unseres Vergnügens an der
tragischen Kunst zu den interessantesten psychologischen Problemen. Am
nächsten liegt die Auffassung, daß das Gefühl unserer eigenen Sicherheit |#f0461 : 439|

sich durch die Anschauung eines uns vorgeführten großen Unglückes doppelt
belebe und uns das erhöhte egoistische Gefühl unseres Glückes
gewähre. Eine so äußerliche Erklärung muß aus der Kunstlehre verbannt
bleiben, wenn sie auch für einen nicht unbedeutenden Theil des
Publikums Geltung haben dürfte. Das in die Regelmäßigkeit, in die
ununterbrochene Behaglichkeit des Daseins eingewiegte Philisterthum
wird durch die Vorführungen der Tragödie an die großen Krisen des
Erdenlebens gemahnt, emporgeschüttelt aus seiner trägen Ruhe, in ein
aufregendes Unbehagen versetzt, welches als wohlthätige Erschütterung
wirkt und von ihm bald durch die trostreiche Zuversicht überwunden
wird, daß die kalten Schläge der Tragödie an seinem häuslichen Herd
nicht zünden. Blasirte Gemüther aber lassen sich durch die Aufregungen
der Tragödie auf Augenblicke von ihrer Lähmung heilen, ähnlich wie körperlich
Gelähmte ihre Glieder in das Blut der hingeschlachteten Thiere
tauchen. Nicht genug betont wird ferner der Pessimismus des
menschlichen Gemüthes, der vom dunkeln Zusammenhang der Grausamkeit
und Wollust, der kitzelnden Freude an rohen Exekutionen und Schaustellungen
noch zu unterscheiden ist. Es liegt eine eigenthümliche Konsequenzmacherei
in der menschlichen Seele, es ist ihr eine Beruhigung,
wenn das halbe Unglück zum ganzen, das kleine zum großen wird, als
wenn es dadurch in eine Sphäre gehoben würde, in welcher seine ängstlich
bedrückende Wirkung sich in eine großartig zerschmetternde verwandelt,
in welcher das Schicksal den Menschen erhebt, indem es ihn zermalmt.
Hier kommen wir dem ästhetischen Kreise, den Wirkungen des
tragischen Kunstwerkes schon näher. Jener Pessimismus ist der dunkle
Grund des Gemüthes, auf den die Sonne der tragischen Kunst ihre Lichtbilder
zeichnet. Mit Furcht, mit ängstlicher Spannung befinden wir uns
von Anfang an im Bann der Tragödie, auf einem vulkanischen Boden,
dessen Eruptionen sich von allen Seiten ankündigen. Diese Spannung
hat zugleich etwas Anregendes! Die Zauberin Phantasie, der stets ein
kleiner hyperbolischer Dämon zur Seite steht, hat in ihrem Vergrößerungsspiegel
bereits das drohende Unglück mit pessimistischer Freude ausgemalt
und frohlockt, wenn sich ihre Ahnungen Schlag auf Schlag erfüllen!
Das Mitleid mit dem Geschick des Helden geht in rein menschlicher
Weise damit Hand in Hand! Doch diese Affekte werden von der |#f0462 : 440|

Tragödie nicht blos erweckt, sondern auch gereinigt; das Einzelschicksal,
das uns vorgeführt wird, erweitert sich zum Schicksal der Welt; die
Kraft des ringenden Helden wird zur Kraft des Menschen überhaupt, die
wir im eigenen Busen fühlen, die mit der Macht der Bedrängniß wächst
und die Majestät des Geistes zu voller Glorie entfaltet; der Untergang
des Helden aber läßt den Tod nicht als eine Nothwendigkeit oder einen
Zufall der Natur erscheinen, sondern giebt ihm eine sittliche Bedeutung.
So wird unsere Furcht, unser Mitleid gereinigt, und die Tragödie
wirkt eine freie Erhebung des Geistes. Jndem der Held durch eine Einseitigkeit
und Maaßlosigkeit seines Charakters untergeht, triumphirt in
seinem Untergang die sittliche Harmonie; fällt er aber einer Kollision der
Pflichten zum Opfer, so schließt sich in seinem Tod der gebrochene Kreis der
sittlichen Mächte wieder zur Einheit zusammen. Niemals darf indeß
der moderne Tragiker auf stoffartige Wirkungen hinarbeiten, weder auf
die grellen Schauer, den glänzenden Pomp, die prickelnden Ueberreizungen
des Bühneneffekts, noch auf Eindrücke und Erfolge, die aus einem
Anschmiegen an Stichwörter des Tages und seiner Parteien aus einer
äußerlichen Tendenzhascherei hervorgehn.


Die Diktion der Tragödie muß Wohllaut (ἡδυομένῳ λόγῳ Arist.),
Adel und Würde haben; sie muß uns in einen geläuterten Aether erheben,
in welchem alles Flache und Triviale ausgeschlossen ist, das sich mit den
letzten Zwecken der Tragödie nicht verträgt. Dabei darf ihr die charakteristische
Angemessenheit nicht fehlen. Die Sprache der griechischen
Tragiker ist für unser Drama nicht individuell und bewegt genug; die
Diktion Shakespeare's nicht frei von Plattheiten und charakteristischen
Ueberladungen. Die Vereinigung dieser beiden Gegensätze ist das Jdeal
der tragischen Diktion für unsere Bühne. Hier steht Schiller wieder als
klassisches Muster da ─ nur daß sein Styl bei seinen Nachahmern zu einer
feststehenden Manier wurde, welche durch die einförmige Behandlung des
Jambus zu matten Deklamationen verführte. Das neue deutsche
Drama ─ wir erinnern nur an Gutzkow, Laube und Hebbel ─ ist
auf dem richtigen Wege, jenes Jdeal des echt dramatischen Styles zu
erreichen, ohne in eine sclavische Nachahmung Schiller's zu verfallen.
Was das tiefere Gepräge der dramatischen Diktion betrifft, so hängt es
mit der Eigenthümlichkeit des dichterischen Genius zusammen, und |#f0463 : 441|

kleinliche Bestimmungen und Beschränkungen würden hier von einer
Einseitigkeit zeigen, welche eine persönliche Vorliebe zu einem allgemein
gültigen Gesetze zu erheben sucht. Ohne Frage lassen sich die höchsten
Zwecke der Tragödie ebensogut in Shakespeare's bilderreicher Diktion,
wie in der antithesenreichen Schiller's, in Goethe's plastisch klarer, wie
in Lessing's verstandesscharfer Sprache, in Hebbel's paradox kühner,
Gutzkow's sinnvoll verschlungener, Laube's sinnlich frischer Redeweise
erreichen, wenn nur die Begeisterung des Dichters die Diktion mit immer
schöpferischer Nothwendigkeit hervorbringt! Dagegen ist die Gewalt des
tragischen Pathos, das sich in mächtigen Feuerströmen ergießt, allen großen
Dramatikern, Aeschylos und Sophokles, Calderon und Shakespeare,
Corneille und Schiller, eigenthümlich ─ eine unerläßliche Bedingung der
tragischen Wirkung. Nicht Goethe's sinnige Grazie, nicht Lessing's geistvolle
Schärfe können den Mangel an dieser hinreißenden Energie des
Ausdruckes ersetzen, ohne welche der Dramatiker die großartige Majestät
der Leidenschaft und den Enthusiasmus, aus dem die weltgeschichtliche
That hervorgeht, nur mit Aquarellfarben darzustellen vermag.


Ausgeführte epische Vergleichungen sind im Drama, wie in der Lyrik
ungehörig. Jn Goethe's „Tasso“ und „Jphigenie“ finden sich Beispiele
einer im Drama fehlerhaften, schleppenden Bildlichkeit des Ausdrucks.
Dagegen ist die schlagende Metapher, welche den Gedanken energisch
zusammenfaßt, das echt dramatische Bild, um so mehr, als sich schon
die undichterische Leidenschaft derselben zu bedienen pflegt. Calderon's
Metaphern sind zu weit ausgeführt. Shakespeare und seine Zeitgenossen,
Schiller, Victor Hugo, Grabbe, Hebbel, Gutzkow u. A. sind Meister eines
schlagkräftigen metaphorischen Ausdruckes, der nicht zu den unwesentlichsten
Mitgaben des dramatischen Talentes gehört. Daß diese Metaphern
nicht ein abgeblaßter und abgetragener Schmuck, nicht welke Blumen
aus den Guirlanden der Lyrik sein dürfen, versteht sich von selbst
Die dramatische Metapher ist energischer, realistischer, als die lyrische; sie
ist nicht blos eine Blüthe der Empfindung, sie muß dem Charakter und
der Situation angemessen sein. Ein Styl, der an Metaphern arm ist,
verführt, wie wir es an den großen französischen Tragikern sehn, leicht zu
einem Uebermaaß abstrakt nüchterner Wendungen und blos rhetorischer
Figuren. Eine sehr verschiedenartige Auffassung hat die Bedeutung der |#f0464 : 442|

Sentenz in der Tragödie erlebt! Sie ist bis in die neueste Zeit auf das
Lebhafteste angegriffen worden, und doch überzeugt uns ein flüchtiger Blick
in die Werke aller großen Tragödieendichter, daß sie alle reich an Sentenzen
sind. Wenn man Schiller die sentenziöse Diktion zum Vorwurf
gemacht hat, so vergißt man, daß Shakespeare sich derselben in nicht
geringerem Maaße bedient hat, daß sich bei Calderon sehr zahlreiche und
sehr weitschweifig ausgeführte Sentenzen finden, ganz abgesehn von
den hellenischen Tragikern, welche eben so wenig das gnomische, wie das
epische Grundelement der griechischen Poesie verleugnen. Die Sentenz
als solche, der Ausspruch einer allgemeinen Wahrheit, kann in der Tragödie
kein Fehler sein, denn der tragischen Handlung geht stets die Besinnung
zur Seite; der konkrete Fall der dramatischen Kasuistik hängt nach den
verschiedensten Seiten hin mit einer allgemeinen Lebenswahrheit zusammen,
ohne welche die ganze Tragödie werthlos wäre! Gerade den geistvollen
Gehalt auszusprechen, ist des Dichters Recht und Pflicht zugleich.
Der dramatische Held darf nie in ein blindes Handeln verstrickt sein!
Seine That geht aus dem Entschluß, sein Entschluß aus einem Kampf
entgegengesetzter Motive hervor, welche ein Fluidum des Gedankens entbindet,
das nothwendig in blitzenden Sentenzen ausströmt. Die Sentenz
ist eine schlagende Fassung des Gedankens und entspricht der Energie,
dem Grundwesen des Drama, welches alles koncentrirt, die Handlung
zur That, den Gedanken zur Sentenz. Fehlerhaft aber wird die Sentenz,
wenn sie nicht organisch aus der Situation und dem Charakter
herauswächst, sondern der Rede nur äußerlich angehängt ist oder mit dem
Anspruche einer selbstständigen Bedeutung auftritt. Nur der zu lockere
Zusammenhang unterscheidet die Sentenzen des Euripides von denen des
Sophokles, indem man dem ersteren das Bestreben anmerkt, seine Weisheit
noch besonders an den Mann zu bringen und den dramatischen
Charakter nur zu ihrem Sprachrohr zu machen, während der Letztere stets
so in die bestimmte Situation vertieft ist, daß seine Helden sie in ihren
Sentenzen auf's Schlagendste ausdrücken. Shakespeare sprudelt oft
von Sentenzen über. Auch wird nur irrthümlich behauptet, daß er sie zu
charakteristischer Malerei benutze. Der alte Polonius ist ebenso unerschöpflich
darin, wenn er seinem Sohn Laërtes, als dieser junge Hitzkopf,
wenn er seiner Schwester Ophelia Lehren ertheilt. Auch verleugnet |#f0465 : 443|

keine Sentenz Shakespeare's den Charakter ihres Dichters, gleichgültig,
wem er sie in den Mund gelegt. Dagegen darf man ihm nachrühmen,
daß seine Sentenzen stets aus der bestimmten Situation hervorgehn,
wenn auch ihr Luxus keineswegs im Verhältniß zur Bedeutung derselben
steht. So ist es ganz natürlich und einleuchtend, daß Polonius seinem
in die Weltstadt Paris reisenden Sohn einen großen Vorrath schätzbarer
Maximen in Bezug auf die Diätetik der Seele mit auf den Weg giebt;
aber diese Reise des Laërtes ist selbst von so geringer Wichtigkeit für die
Haupthandlung des Stückes, daß wir jene Fülle väterlicher Weisheit für
einen dramatisch unnöthigen Aufwand erklären müssen. Auch Schiller ist
mit seinen Sentenzen stets bei der Sache; nur ertödtet er bisweilen durch
eine Sentenz den warmen Ausdruck des unmittelbaren Gefühls. Wenn
Thekla ihren bekannten Monolog mit den Worten schließt:


Das ist das Loos des Schönen auf der Erde!


so liegt in dieser allgemeinen Wendung bereits eine Besinnung und Beruhigung,
die zum Ausdruck der aufgeregten Empfindung nicht passen
will, dem sie in etwas schroffer und unvermittelter Weise angehängt ist.


Für die Tragödie paßt als sprachliche Form der Vers. Die Versuche,
sie von seinem Kothurn herunter in das prosaische Gebiet zu verpflanzen,
haben nur eine vorübergehende, keine maaßgebende Bedeutung, indem sie
in Uebergangsepochen die charakteristische Verjüngung eines durch stereotype
Versmanier abgeschwächten Styles beabsichtigen und erreichen
können. Die neue bürgerliche Tragödie bedient sich ebenfalls der Prosa,
obwohl eine nicht allzu äußerliche und prosaische Bürgerlichkeit auch den
Vers vertrüge, dessen Jdealität überhaupt dem Adel, der Würde, dem
ernsten Gang und der geistigen Tiefe der Tragödie entspricht. Die griechischen
Tragiker bedienten sich bekanntlich des Trimeters, dessen feierliche
Plastik der charaktervollen Beweglichkeit unserer Tragödie nicht entspricht.
Ebensowenig paßt für sie der vierfüßige Trochäus der spanischen in seinem
Wechsel mit reimüppigen Sonetten und Stanzen. Der gereimte Alexandriner
der Franzosen würde in seinem monotonen Gang an eine überwundene
Entwickelungsstufe unserer Literatur erinnern. Dagegen ist der
fünffüßige reimlose Jambus (blanc-vers) der Engländer und Jtaliener
mit Recht bei uns eingebürgert, indem er Ungezwungenheit, dramatische |#f0466 : 444|

Kraft, Beweglichkeit, Schwung, frisches, nicht feierlich schleppendes
Pathos besitzt.


Den historischen Entwicklungsgang der Tragödie können wir hier nur
ganz flüchtig skizziren, nur die für ein durchgreifendes Stylprincip charakteristischen
Höhenpunkte desselben in's Auge fassen, die auch deshalb von
naheliegender Bedeutung sind, weil der Dilettantismus unserer Epoche
sie alle nachzuahmen sucht, statt das moderne tragische Stylprincip auszubilden.
Jede auch nur oberflächliche Geschichte der dramatischen Literatur
setzt eine Geschichte der dramatischen Kunst voraus, welche vom
Plan dieses Werkes weit ab liegt. Der Hauptgegensatz des Styls findet
zwischen der antiken und modernen Tragödie Statt. Die Plastik
der ersteren hing mit dem Wesen der Schauspielkunst und den Einrichtungen
des dortigen Theaters zusammen. Das hellenische Theater bietet
uns eine Mischung der Künste dar, die an den künstlerischen Urbrei des
Kunstwerkes der Zukunft erinnert. Nicht blos das lyrisch gnomische Element
des Chors, welcher den „idealisirten Zuschauer“ (Schlegel) repräsentirt,
sonderte sich von der dramatischen Handlung ab ─ dieser Chor
ergänzte den Vollklang lyrischer Sprache durch Gesang und Musik
und die plastischen Rhythmen durch plastische Figurationen des Tanzes.
Nimmt man hierzu, daß das recitativische Eingreifen der Helden in seinen
Gesang nicht ausgeschlossen, daß die Darstellungskunst durch die Dimensionen
der Bühne, durch die Maske, welche den Mangel jeder Mimik
ersetzen mußte, und durch den Kothurn auf den feierlichen Ausdruck eines
die größten Räume füllenden Pathos und auf die weit sichtbaren Höhenpunkte
der Handlung beschränkt war: so läßt es sich erklären, daß die
großen Vorbilder des hellenischen Theaters für die Muse der Gegenwart
nicht mehr mustergültig sein können, indem unsere Bühne und Schauspielkunst,
welche für den Ausdruck der feinsten Nuancen der Empfindung
und der Leidenschaft durch das Spiel der Mimik und eine freie, ausgebildete
Deklamation befähigt ist, vom Dramatiker eine tiefe innere Entwicklung,
Reichthum an charakteristischen Pointen und Vollständigkeit der
Handlung verlangt. Die Tragödieen der Alten sind in der That, wenn
wir unsere Anschauungen zu Grunde legen, meistens nur als letzte Akte
zu betrachten, indem nur die Schlußkatastrophe einer Handlung, wie
z. B. im Ajas, auf die Bühne gebracht wird. Die ganze vorausgehende |#f0467 : 445|

Entwicklung erscheint entweder als bekannt, wenn das Stück auf einem
volksthümlichen Mythos beruht, oder sie wird von einer Göttin im Prolog,
oder einer der handelnden Personen vorgetragen. Die entscheidenden
Thaten selbst geschehn hinter der Scene und werden ebenfalls erzählt.
Was große Genien in dieser Form geleistet, hat sich Unsterblichkeit errungen;
aber vergeblich war stets das Bemühn, diese Form selbst nachzuahmen
oder neu zu erwecken.


Der Jnhalt der hellenischen Tragödie war vorzugsweise ein mythischer.
Die Stoffe waren traditionell, gehörten besonders dem thebanischen
und mykenischen Sagenkreise an, der mit dem trojanischen
zusammenhing, und wurden von den verschiedensten Dichtern behandelt.
Nur Aeschylos in den „Persern“ nahm den Anlauf zu einer historischen,
Agathon
in seinen nicht erhaltenen Stücken zu einer ganz
fingirten
Tragödie. Von den drei großen Tragikern der Griechen ist
Aeschylos*) der gewaltigste, der größte dichterische Genius, eine
Mischung von Pindar und Shakespeare, doch ihn hemmte noch mehr als
seine Nachfolger der unausgebildete Zustand der Bühne, die Kindheit
ihrer Formen! Seine Tragödieen waren mehr erhabene Wettgesänge,
die dramatische Handlung brach nur halbentfaltet aus dem epischen
Keime und der lyrischen Schale. Doch seine Phantasie war reich an
bedeutsamen Anschauungen und großen Bildern, an kühnen Griffen.
Sein „Prometheus“ ist eine griechische Faustiade, seine „Perser
wiesen das griechische Drama auf die Bahn der politischen Volksdichtung,
die es aber wieder verließ, um nur Stoffe mythischer Tradition zu behandeln.
Seine großartige Trilogie: Agamemnon, die Choephoren,
die Eumeniden,
welche die ganze Orestie enthält, ist uns vollständig
erhalten. Die Kunst der dramatischen Anlage, welche dem Aeschylos
fehlte, vereinigt mit einer ideal menschlichen Haltung der Charaktere, in
welcher alles unklar Titanenhafte vermieden war, stellt den Sophokles**)

*)
Von den zahlreichen Tragödieen des Aeschylos sind uns nur 7 erhalten:
der gefesselte Prometheus, die Hiketiden, die Sieben gegen Theben,
Agamemnon, die Coephoren, die Eumeniden, die Perser
.
**)
Von den 130 Tragödieen des überaus fruchtbaren Sophokles haben sich nur
7 erhalten: der wüthende Ajax, Elektra, Antigone, Oedipus Tyrannus,
Oedipus auf Kolonos, die Trachinerinnen
und Philoktetes.
|#f0468 : 446|

in die schöne Mitte der griechischen Tragödie. Eine sittliche Rührung,
eine milde Versöhnung durchweht seine Schöpfungen ─ wir erinnern nur
an jene dramatische Weihehymne, den „Oedipus auf Kolonos.
Selbst für die wildtobende Leidenschaft, wie im Ajas, findet seine maaßvolle
Phantasie eine harmonisch schöne Form. Meisterhaft durchgeführt
ist die tragische Kollision in der „Antigone,“ die Heldin selbst eine
Gestalt edelster Weiblichkeit. Dabei zeigt die dramatische Technik die
größten Fortschritte gegen Aeschylos ─ die Handlung entwickelt sich Scene
für Scene in nothwendigem und spannendem Fortgang weiter, der Chor
ist von ihrem Pathos lebendig durchdrungen und verliert sich nicht in
weitabführende Betrachtungen. Die Sprache ist rein, klar, von edelster
Haltung und harmonischer Rhythmik. Der dritte große Tragiker, Euripides,
verließ die harmonische Mitte des Menschlichen und Göttlichen,
die den Sophokles charakterisirt! Während bei Aeschylos der Schwerpunkt
der Handlung auf die Seite der göttlichen Mächte fällt: wird
bei Euripides das Göttliche bereits zur todten Maschinerie des Drama,
und die freie Jndividualität des Menschen entwickelt sich bis zur wildesten
Leidenschaft, welche den Boden der antiken Welt verläßt. Besonders
seine Heldinnen, seine „Medea,“ „Phädra“ u. s. w. entwickeln eine
dämonische Weiblichkeit, welche ganz in das Moderne hinüberspielt.
Kein größerer Gegensatz, als die „Medea“ des Euripides und die „Antigone“
des Sophokles. Man sollte glauben, daß ein Weltalter zwischen
diesen weiblichen Gestalten liegt, von denen die letztere das rein sittliche
Jdeal eines für das heilige Gesetz der Familie, für die reinen Empfindungen
der Pietät sich opfernden Weibes repräsentirt, während die erstere,
auf's Schärfste bestimmt in ihrer charakteristischen Zeichnung als Kolcherin
und barbarische Zauberin, den glühendsten Rachedurst verlassener Liebe
in blutigen Thaten kühlt, bis sie auf ihrem Drachenwagen in die Luft
entschwindet. Die Sprache des Euripides vertauscht ebenfalls das
harmonische Maaß des Sophokles mit den wilden Ergüssen entfesselter
Leidenschaftlichkeit, deren dämonischer Taumel oft zur Unzeit von kalten
Sprüchen der Lebensweisheit unterbrochen wird, die mit dem Anspruche
selbstständiger Bedeutung auftreten *). An Euripides vorzugsweise
*)
Von den 75 Stücken des Euripides sind uns 18 erhalten: Elektra, Orestes,
Jphigenia in Aulis, Jphigenia in Tauris, Alkestis, Helena, Hekabe,
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knüpfen die Nachahmungen und Fortbildungen der antiken Tragödie
an, die sich bis in die neueste Zeit verfolgen lassen. Wir wollen nicht die
alexandrinische Plejade, nicht die römischen Tragödieen, die dem Seneka
zugeschrieben werden, erwähnen ─ es sind nur schwülstige Nachdichtungen
in Stoff und Form. Dagegen fällt die kunstmäßige Wiedergeburt der
antiken Tragödie im klassischen Theater der Franzosen mit einem
Höhepunkte der Entwickelung des Drama überhaupt zusammen. Das
Theater jener nationalen Glanzepoche der Franzosen wählte seine Stoffe
vorzugsweise aus dem tragischen Mythos der Hellenen und der alten
Geschichte und bequemte seine Behandlungsweise den Regeln des Aristoteles
an. Die aristotelischen Einheiten gelten für das unumstößliche
Grundgesetz der Tragödie, von Corneille und Voltaire nicht nur
beobachtet, sondern auch kritisch proklamirt. Der erstere hielt es für eine
ketzerische Kühnheit, wenn er die dramatische Regelrechtigkeit der vierundzwanzig
Stunden in seiner Komödie: die Wittwe auf drei Tage auszudehnen
wagte; der letztere gab sich einigen schüchternen Zweifeln über
die Einheit des Ortes hin, die er in einigen Stücken zu verletzen kühn
genug war. Natürlich machte die Einrichtung der französischen Bühne
auch einige nicht unwesentliche Abweichungen von der antiken Tragödie
nothwendig. Der Chor, den Jodelle, der Stifter des französischen
Theaters, noch in seiner Cleopatra beibehalten, und den Racine in „der
Esther“ wieder einzuführen versuchte, verschwand in den meisten Stücken
von der Bühne und wurde nur in mangelhafter Weise durch die sogenannten
Vertrautenrollen“ ersetzt. Dagegen trat die regelmäßige
Eintheilung in fünf Akte ein. Die Helden und Heldinnen der alten
Mythe und Geschichte mußten es sich gefallen lassen, die Konvenienzen
des glänzenden französischen Hofes in engherzigster Weise zu beobachten.
Die ceremonielle Feierlichkeit des Pathos bewegte sich in Alexandrinern,
deren steife, rhythmisch verschnittene Taxushecken den regelmäßigen
Gang der Handlung einengten. Selten plätscherte eine erquickende Fontaine
der Phantasie in diesem einförmigen Park der Tragödie, dessen

der rasende Herakles, die Herakliden, die Hiketiden, die Bacchen,
Andromache, die Phönissen, Rhesos, Jon, Phädra, Medea, Hippolytos
.
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geradlinigen Wege in ihrer nothwendigen Kreuzung jede freie und freudige
Bewegung und Ueberraschung unmöglich machten. Dennoch waren es
große Talente, welche diese enge konventionelle Form schufen, deren Einfluß
auf Jahrhunderte und auf viele Nationen mächtig blieb. Denn das
französische Drama bewegte sich bis zu Victor Hugo's romantischen
Reformversuchen, deren Gegenschlag gegen die strenge Regel korrekter
Schönheit, bei aller Macht und Pracht eines großen Genius, in das
Geschmacklose und Ueberspannte überging, ganz in den Gleisen eines
Corneille und Racine, und der Kampf zwischen Klassicität und Romantik
ist in Frankreich noch immer nicht ausgefochten. Bedeutende Dramatiker,
wie Ponsard, stehn noch auf der Seite der ersteren. Auch die
Einflüsse auf italienische Tragiker, auf Alfieri, Monti u. A. sind nicht
zu verkennen. Pierre Corneille ist von der Trias der klassischen
Tragiker Frankreichs der gewaltigste, der die tragische Collision, wie z. B.
im „Cid“ und „Cinna,“ auf eine ergreifende Spitze treibt. Die
Anlage seiner Tragödieen ist einfach und kunstgerecht; um den Mittelpunkt
des Konfliktes gruppiren sich Charakter und Situationen in symmetrischer
Weise; die Sprache ist deklamatorisch, prunkhaft, von heroischer
Kraft, soweit es die Etikette der ganzen hoffähigen Form erlaubt. Die
Gesinnung wechselt, besonders in den historischen Stücken zwischen antikem
Freiheitspathos und der Verherrlichung der glanzvollen Majestät.
Außer seinem „Cid“ und „Cinna“ gehören die Horazier, Polyeukt,
Rodogune, der Tod des Pompejus
und Heraklius zu seinen
besten Tragödieen. Sein „Oedipus,“ seine opernhafte „Andromeda“
schließen sich an die antike Mythe an. Jean Racine, harmonischer,
gefälliger, wahrer im Ausdruck der Empfindungen, mehr rührend, als
heroisch, mehr ergreifend, als erhebend schloß sich noch enger an die antiken
Tragiker in der „Thebaide,“ der „Andromache,“ „Jphigenie
und „Phädra“ an. Er gab in diesen Stücken der griechischen
Form ein eigenthümliches Arom der Empfindung, eine oft hinreißende
Wärme, obschon die Schwächlichkeit eines blos höfischen Pathos und eine
schwankende Hinneigung zur Bigotterie viele seiner dramatischen Blüthen
verkümmerte und seine letzten biblischen Tragödieen „Esther“ und
Athalie“ trotz trefflicher Anlage eine etwas hektische Färbung entwikkelten.
Bei Voltaire (Oedipe, Artémise, Mariamne, Brutus, César, |#f0471 : 449|

Mahomet, Mérope u. a.), dessen Beruf zur Tragödie ein sehr geringer
war, interessirt die Unterwürfigkeit eines kecken, frivolen, Staat und
Kirche unterwühlenden Talentes unter die Normen einer dramatischen
Form, die ihm fester zu stehn schien, als die heiligsten Autoritäten der
Gesellschaft. Crébillon, nach der grausamen und gräßlichen Seite
hin übertreibend, Thomas Corneille, Lémierre, (Hypermenestra),
Marie Joseph de Chénier, de la Harpe, die beiden Arnault,
zum Theil Delavigne und Ponsard setzten in ihren Stücken diese
klassische Tradition durch die Zeiten des ancien régime, der Republik,
des Kaiserreichs und der Restauration bis auf die neueste fort.


Jn Deutschland hatte Lessing zwar die französische Auslegung des
Aristoteles gebrochen und die Nachahmungen eines Corneille und Racine
ihres Werthes entkleidet; doch die ursprünglich antike Tragödie wirkte als
bedeutsames Bildungselement unserer Tragiker fort. Schiller übersetzte
die „Jphigenie in Aulis“ des Euripides; Goethe behandelte die
„Jphigenie in Tauris“ in einer meisterhaften, das Antike und Moderne
versöhnenden Nachbildung. Jn der „Braut von Messina“ versuchte
Schiller, den antiken Chor wiedereinzuführen und zugleich die Schicksalsidee
der Hellenen zur Seele der modernen Tragödie zu machen, ein Versuch,
der nach beiden Seiten hin mißlang, nach der letzteren aber in
Werner's „vierundzwanzigstem Februar,“ Müllner's „Schuld,“
Grillparzer's „Ahnfrau,“ Houwald's „Bild“ Nachahmer fand,
welche eine Zeitlang die Bühne beherrschten. Die Schicksalsidee der
Alten ist von Hegel an verschiedenen Stellen mit philosophischer Tiefe
dargelegt! Doch würde eine genauere Betrachtung der antiken Tragödie
wohl eine mannichfachere Gestalt und Anschauung des Schicksals bieten,
als sie jene vorzugsweise auf den Oedipus und die Orestie passende
Erklärung Hegel's bietet! Der „Prometheus“ des Aeschylos, der „Ajas“
und die „Antigone“ des Sophokles, die „Medea“ und „Phädra“ des
Euripides fallen unter ganz andere Gesichtspunkte. Jenes „Schicksal“
des Oedipus, welches blind den Helden, der seine Räthsel zu spät löst, in
den Abgrund stürzt, das Schicksal der Atriden, welches dies Geschlecht
in eine Reihe blutiger Verbrechen verstrickt, wurde nun in die Romantik
eines Familienschicksals übersetzt, das den Einzelnen unabwendbar
beherrscht und in's Verderben treibt. Der Zufall eines Datums, eines |#f0472 : 450|

blutigen Werkzeuges, eines Malerzeichens, oder ein umherwandelndes
Gespenst der Vorzeit, eine Ahnfrau, wurden die göttlichen Mächte dieser
von Platen meisterhaft verspotteten Tragödie, denen die Entsühnung
eines Oedipus und Orestes gänzlich fehlen mußte. Doch auch abgesehn
von dieser längst verurtheilten Verkehrtheit wird die Wahl antikmythischer
Vorwürfe, die in der neuesten Zeit wieder beliebt ist, trotz der Versündigung
gegen den Geist des Jahrhunderts, von der sie nicht freizusprechen
ist, unfehlbar in jene Bahnen einer monoton korrekten, leb= und
geistlosen Form führen, welche die klassische Richtung der französischen
Bühne vertritt.


Die moderne Tragödie, deren antikisirende Formen wir eben in's
Auge gefaßt, hat außer dem klassischen Theater der Franzosen noch drei
Höhepunkte ihrer Entwickelung: das altspanische Theater zur Zeit Lope
de Vega's und Calderon's, das altenglische zur Zeit Shakespeare's und
das neuere deutsche zur Zeit Schiller's und Goethe's. Die Enge der
aristotelischen Regeln, an denen noch Cervantes festhielt, wurde schon
von der Romantik seiner Nachfolger gesprengt. Der geniale Lope
de Vega, der zahllose Tragödieen mit der Feder improvisirte, wählte mit
Vorliebe historische Stoffe aus der Geschichte seines Vaterlandes (die
Juden von Toledo, der letzte Gothe Spaniens, der König Wamba, der
erste König von Kastilien u. a.), doch hat er auch die Horatier und Kuriatier,
Kaiser Nero, König Ottokar von Böhmen und den falschen Demetrius
behandelt. Diese großen historischen Trauerspiele sind in der Anlage
willkürlich und zerfahren; eine reiche und schwelgerische Phantasie überwuchert
mit üppigen Ranken bis zur Unkenntlichkeit das architektonische
Grundschema des Drama. Jn den dramatisirten Legenden und Autos
ist sein allegorischer Scholasticismus oft ─ naiv, oft von der wilden
Grausamkeit des Märtyrerthums durchdrungen. Wir erinnern nur an
jenen von den Juden zu Tode gemarterten Christenknaben und andere
dramatisirte Gräuelscenen. Aus diesen wüsten, naturwüchsigen, aber
genialen Anfängen bildete Calderon de la Barca das Jdeal der
katholischen Romantik heraus, welches die Glanzepoche des spanischen
Drama charakterisirt. Ohne die Naivetät, den glücklichen Wurf,
den schwelgerischen Erfindungsreichthum des Lope de Vega war er ihm
an künstlerischer Besonnenheit, an Kompositionstalent, an gleichmäßiger |#f0473 : 451|

Harmonie der Sprache bei weitem überlegen; die Schauer der Andacht
und Grausamkeit, die Geheimnisse des Märtyrerthums erhob er in eine
höhere Sphäre; aber er verfiel dabei in einen grüblerischen Mysticismus,
der sich nicht blos in den Aufschwung des verklärten Gemüthes, sondern
auch in eine traumhafte Weltanschauung verlor, welcher alle Gestalten
des Lebens zu Schatten zerflossen. „Der standhafte Prinz“ und „das Leben
ein Traum“ vertreten diese beiden Pole des Mysticismus. Auch Calderon
hat zahlreiche historische Tragödieen geschrieben, einen „Coriolan,“ eine
„Zenobia,“ „Semiramis,“ einen „Scipio,“ „Maccabäus,“ „Alexander
den Großen“ ─ aber es fehlte dieser spanischen Romantik, welche das
Historische mit abenteuerlichen Erfindungen durchflocht und mit Ergüssen
des trunkenen Gefühles zersetzte, die Größe und Würde einer historischen
Weltanschauung, welche in den Krisen der Geschichte den Herzschlag des
Weltgeistes zu vernehmen vermag und die Motive der großen Staatsaktionen
in ihrer Einfachheit zu adeln versteht. Jm Einklange mit dieser
romantischen Behandlung der Geschichte steht die Sprache, die nur hin
und wieder mit dramatischer Energie aufblitzt, gewöhnlich aber in üppige
und glänzende Schilderungen und breit ausgesponnene Reflexionen verstrickt
ist und sich von dem einförmigen Pathos der vierfüßigen Trochäen
nur befreit, um sich in die lyrische Breite der ottave rime und selbstgefälligen
Sonette zu ergießen.


Jm Gegensatz zur spanischen Tragödie steht die altenglische auf dem
Boden des Protestantismus, kennt kein anderes Märtyrerthum, als
das der Leidenschaft und des Gedankens, keine andere Schuld und Verklärung,
als die eigene That, keinen andern Richter, als das Gewissen.
Allen Dichtern jener frischen und rührigen Glanzepoche der Elisabeth
war eine Bühne gemeinsam, welche in ihrer Einfachheit den größten
scenischen Wechsel gestattete, da die Ausführung ihrer nur durch einen
Zettel angezeigten Verwandlungen der Phantasie der Zuschauer überlassen
blieb, gemeinsam die Benutzung historischer, besonders vaterländischer
und novellistischer Stoffe, die Vorliebe für das Bizarre, Abenteuerliche,
Grelle und Maaßlose, besonders für kecke Verwickelungen in
Geschlechtsverhältnissen, eine Komposition in anfangs parallelen, nachher
konvergirenden Gruppen, eine an kühnen, gehäuften, oft gesuchten Bildern
reiche Sprache, ebenso zum höchsten pathetischen Aufschwung, wie |#f0474 : 452|

zum Ausdrucke des derbsten Realismus geeignet, der fünffüßige, nur in
lyrischen Momenten, bei markirten Schlüssen der Rede, der Scene und
des Aktes gereimte Jambus. Vor seinen Vorgängern, Zeitgenossen und
Nachfolgern, vor den zahlreichen Vertretern dieser produktiven Epoche
ragt Shakespeare durch die Harmonie seiner Weltanschauung, die
Größe seines Humors, die objektive Kraft der Charakteristik und die
menschheitlichen Dimensionen seiner Tragödieen hervor. Die Leidenschaften
der Liebe (Romeo und Julie), des Ehrgeizes (Macbeth), des
Stolzes (Coriolan) und der Eifersucht (Othello), die Schuld einer träumerischen
Reflexion, die sich nicht zur That zu ermannen vermag (Hamlet),
des greisenhaften Vertrauens, das der Undank belohnt (Lear), lauter
echt und tief menschliche Motive sind in einer ebenso sinnreichen, wie
energischen Weise, welche die Genesis der Leidenschaften zugleich zur motorischen
Kraft der dramatischen Handlung macht, von diesem großen Dramatiker
behandelt worden. Tiefer stehn seine historischen Tragödieen aus
der englischen und römischen Geschichte, nur den Coriolan, Richard II.
und allenfalls Richard III. ausgenommen, indem ihnen der Mittelpunkt
der innern Einheit fehlt und ihre Komposition nur ein rohes Konglomerat
von Scenen bietet. Epische Ausweichungen der Handlung gehn
Hand in Hand mit dramatischen Ueberstürzungen, aber das große Princip,
die Geschichte als ein Produkt der menschlichen That und diese als
einen Akt des zurechnungsfähigen Charakters zu fassen, ist ein für allemal
für die Tragödie gerettet. Daß Shakespeare's Tragödieen das Wesen
der Menschheit in ihrer Totalität erschöpfen: das hat ihnen jene lang
nachwirkende Bedeutung gegeben. Jm Einzelnen ist es fraglos, daß er
an metaphysischer Tiefe der Weltanschauung von Christoph Marlowe
(Tamerlan, Eduard II., Jude von Malta) übertroffen wurde, der
besonders in seinem „Faust“ jene gewaltigen Klänge des ringenden
Menschengeistes anschlug, die durch die englische Literatur, durch Milton,
Byron und Shelley bis in die neueste Zeit nachtönen, daß ihm an kunstgerechter,
maßvoll gesteigerter Komposition, wie an einer bei aller Energie
geschmackvollen und korrekten Sprache John Massinger (Herzog
von Mailand, der unnatürliche Kampf, die unselige Mitgift) überlegen
war, und daß in einzelnen Stücken Robert Greene in ansprechender
Volksthümlichkeit, Beaumont und Fletcher in phantasievoller Erfindung |#f0475 : 453|

und Ausführung, John Webster durch Größe der Leidenschaft,
Kraft der Charakteristik und der Darstellung, Ford durch tiefeingehende
Motivirung ihm würdig zur Seite stehn. Von späteren englischen Dramatikern
erreicht nur Thomas Otway ein ähnliches markiges Pathos
der Leidenschaft bei einer äußerlich kunstgerechten, innerlich lockern Komposition.
Jm Gegensatz zu dieser ganzen Richtung pflegte Ben Jonson
die antike Tragödie (Sejanus, Catilina), deren in französischer Weise
modificirte Normen von den späteren Dramatikern, Dryden, Addisson,
Rowe, Home, Hughes
u. A., adoptirt wurden.


Einen neuen Aufschwung nahm die deutsche Tragödie der Schiller=
Göthe'schen Epoche, der bis jetzt in den Tragödieen Schiller's kulminirt,
ohne daß wir diesen Höhenpunkt für einen absoluten halten möchten.
Wir können zwar in den Tragödieen der Romantiker, eines Zacharias
Werner und Kleist, Grillparzer und Müllner, keine verheißungsvollen
Anläufe finden, ebensowenig in den Nachahmungen Schiller's von
Seiten Uhland's, Raupach's, Auffenberg's u. A.; denn der
Mysticismus, Somnambulismus und die fatalistische Geisterseherei der
ersteren war ebenso unersprießlich für unsere Bühne, wie die technisch
geschulten, aber geistig matten Nachahmungen der letzteren. Dagegen
finden wir in den zwar paradoxen, aber geistvollen, zwar pathologischen,
aber dramatisch markigen Tragödieen Hebbel's (Judith, Maria
Magdalena, Agnes Bernauerin) einen großen, nur zu sehr in Probleme
vertieften Kunstverstand, der auf eine noch strengere Fassung des dramatischen
Jnhalts hinarbeitet, als sie unsere Klassiker anstrebten; wir finden
in Gutzkow's „Uriel Acosta,“ in Laube's „Graf Essex“ und andern
Produktionen der modernen Schule Tragödieen von größerem Zusammenhalt,
als er in Schiller's Stücken vorhanden*). Die Aufgabe für die
moderne Tragödie, auf welche schon Grabbe bei seiner Verurtheilung
der einseitigen Shakespearomanien und ich selbst in meiner „National=

*)
Vgl. über das neuere deutsche Drama meine „Nationallitteratur;“ über
Schiller's Tragödieen Bd. I. p. 33─42, p. 52─61; über Goethe's: p. 62─65;
p. 70; p. 74─86; die Schicksalstragödieen p. 162─186; Heinrich von Kleist
p. 321─335; Jmmermann p. 385─391; das originelle Kraftdrama Bd. II. p. 328 bis
390; die deklamatorische Jambentragödie Bd. II. p. 390─445; das regenerirte
Bühnendrama p. 445─481.
|#f0476 : 454|

Literatur“ hinwies, hat neuerdings Vischer im letzten Hefte seiner
Aesthetik auf das Klarste und Bestimmteste ausgesprochen: „Shakespeare's
Styl, geläutert durch wahre, freie Aneignung des
Antiken.
“ Jn der That bewegen sich um diesen Punkt die Schiller'=
schen und Göthe'schen Tragödieen, bald mehr nach der einen, bald mehr
nach der andern Seite sich neigend. Die schönste Mitte hat Schiller
im „Wallenstein“ und in der „Maria Stuart“ erreicht. Die individuelle
Kraft der Charakteristik, der scharf bestimmte und mannichfach gefärbte
Ausdruck des dramatischen Pathos, die psychologische Entwicklung der
Leidenschaft, die sinn- und gedankenreiche Darstellung der Menschenwelt
von Shakespeare, ohne die Formlosigkeiten seiner Komposition, die
oft schwülstige Bizarrerie seines Ausdruckes, die Uebertreibungen und
Geschmacklosigkeiten seiner Epoche; die Harmonie und Klarheit des
Styles, den künstlerischen Adel der Form, die fesselnde Einheit der
Handlung von der antiken Tragödie ohne ihre engen Beschränkungen
in Zeit und Ort, ohne den unorganischen „Chor,“ ohne ihre zu plastisch
allgemeine Haltung, ohne ihre mythischen Stoffe und fatalistische Tendenz
─ das ist das Erbe der echten Kunstform, das unsere neuere Tragödie
anzutreten hat und auch anzutreten sucht, und das der echte Genius,
der im Mittelpunkte unserer Bildung steht, aus sich selbst hervorbringt.
Nach dem Jnhalte ist die moderne Tragödie eine historische oder bürgerliche.
Die Aufgabe der Gegenwart ist, die historische Tragödie
zur politischen, die bürgerliche zur socialen zur erheben. Wir verstehn
hier das Wort „politisch“ nicht im Sinne der Tagestendenzen,
sondern wir meinen damit nur, daß der Stoff einer geschichtlichen Tragödie
sich um staatliche Konflikte drehe, welche von Jnteresse für die
Gegenwart sind, daß man nicht historische Stoffe aus der Zeit Attila's
und Alarich's, der Karolinger und Kapetinger wähle, sondern aus
Epochen, die unserer Zeit nahe verwandt sind, oder in denen sie unmittelbar
wurzelt. „Die Perser“ des Aeschylos, „Heinrich VIII.“ von
Shakespeare, „der Sieg des Marquis von Santa Cruz“ von Lope
(bei dem der Dichter selbst betheiligt war) beweisen, daß auch die Nähe
der Zeit
große Dichter von der Wahl solcher Stoffe nicht abschreckte!
Und wir möchten dies Vorrecht mit besonderer Betonung für die Tragödie
der Gegenwart in Anspruch nehmen. Die bürgerliche Tragödie |#f0477 : 455|

aber soll sich aus der kriminalistischen Weinerlichkeit des Schauspiels, wie
es bei den Engländer Lillo und Moore, bei Diderot, Jffland und Kotzebue
herrscht, zur Größe eines gesellschaftlichen Konfliktes erheben. Schiller's
„Räuber“ und „Kabale und Liebe“ haben auch hierin die Bahn gebrochen,
auf welcher Hebbel's „Maria Magdalena“ und andere Stücke folgten.
Die Kämpfe der Leidenschaft und des Gedankens, die tiefsten psychologischen
Probleme können sowohl auf diesem Hintergrund, als auch auf
einem mehr historischen und romantischen zum Austrag gebracht
werden. ──────


Vierter Abschnitt.

Das Lustspiel, das Schauspiel und die Posse.


Wenn uns die Tragödie den Helden im erhabenen Kampf mit dem
Schicksal zeigt, sodaß in seinem Untergange die sittliche Jdee triumphirt:
so zeigt uns die Komödie den Menschen in den heitern Verwickelungen
von Absicht und Zufall, aus denen sich am Schluß die Harmonie der
Existenz wiederherstellt. Die Beruhigung, daß diese Welt des Scheines
doch auch ihren realen Schwerpunkt hat, auf welchem wir mit Behagen
ausruhn können, ist die ideale Schlußwirkung der Komödie, ohne welche
sie sich in's Phantastische und Bodenlose verflüchtigt. Die Zwecke des
Helden müssen in der Komödie erreicht werden, wie sich auch der Zufall
und die Jntrigue dagegen wehre. Wohl darf die Jronie dabei bestehn,
daß diese Zwecke nichtig sind und gerade, wenn sie erreicht worden, sich in
ihrer ganzen Nichtigkeit offenbaren. Doch ebensogut können diese Zwecke
eine reale Gültigkeit haben und sich durchsetzen in einer nichtigen Welt,
die sich im Verlaufe der Handlung in heiterer Weise auflöst. Das Behagen
der Komödie kann nicht aus der Selbstgefälligkeit der Phantasie hervorgehn,
die mit der ganzen realen Welt ein willkürliches Spiel treibt,
sondern nur aus dem Bewußtsein, daß dieser von allen Kleinlichkeiten
und Nichtigkeiten, von hundert Widersprüchen erfüllten und bewegten
Welt doch die Jdee zu Grunde liegt, die uns einen sichern Halt giebt.
So vertiefen wir uns mit doppeltem Behagen in die lustige Bewegung
der Wirklichkeit, in ihre bacchantischen Wirbel, weil wir uns dabei sicher
fühlen auf dem Ankergrunde des Ewigen. Jn der Tragödie sympathisiren |#f0478 : 456|

wir mit der sittlichen Erhebung des Helden, mit seiner energischen
Willenskraft, welche durch ihre That das Gewebe der bestehenden Verhältnisse
zerreißt, weil die Kraft unserer freien Selbstbestimmung sich in
ihr spiegelt; in der Komödie sympathisiren wir mit der freien Bewegung
der sinnlichen Welt, welche mit ihren mannichfachen Kräften das Streben
der Helden kreuzt, weil die Wurzel unseres sinnlichen Lebens in ihr ruht.
Diese Sympathie aber, die der dunkle Grund unserer Lust am Komischen
ist, muß sich in das höhere Behagen auflösen, daß auch diese sinnliche
Welt, die sich gegen die Jdee zu empören scheint, von ihr durchdrungen
ist und harmonische Ruhepunkte bietet, wo beide versöhnt zusammenwirken.
Das Komische erscheint im Drama in der Form der Handlung,
welche ebenso wie die tragische an das Gesetz der Einheit gebunden ist.
Auch das Lustspiel hat, wie das Trauerspiel, seinen letzten Endzweck, der,
wie wir eben gesehn, in eine harmonische Beruhigung auslaufen muß.
Der tragische Held kämpft gegen das Schicksal, das sowohl in seiner
eigenen Brust, in der innern Nothwendigkeit seines Charakters liegt, als
auch in einer Konstellation der sittlichen Welt, die ihn unlösbar verstrickt.
Der Held des Lustspiels kämpft gegen den Zufall und die Jntrigue,
gegen die Mächte des Menschenlebens, die ein unberechenbares Spiel der
Ereignisse oder die Berechnung Anderer entbindet. Der Zufall ist nicht
aus dem Mittelpunkte des Lustspieles ausgeschlossen, wie aus dem der
Tragödie. Er darf sich überall in seinen Verwickelungen einschleichen;
aber er muß sich in seiner Bedeutung für die Grundidee des Ganzen legitimiren
können. Der blinde Zufall, irgend ein beliebiges Naturereigniß,
ein nichtssagendes Hinderniß der Entwickelung, ein Zusammentreffen, das
für den Fortgang der Handlung gleichgültig ist, hat auch im Lustspiel
kein Recht. Der Zufall aber, der für die Kasuistik des Lustspielhumors
die bestimmte Situation herbeiführt, der die geladenen Flaschen der
Komik entladet, ist nicht einmal in der Jntriguenkomödie entbehrlich, in
welcher die Kunst des Dichters darin besteht, die List des Zufalls zu überlisten
und die Steine, die er in den Weg legt, für den planvollen Bau
des Werkes zu verwenden. Schon aus dem Wesen des Drama geht
hervor, daß sich das Lustspiel nicht in einer zwecklosen Charaktermalerei
ergehn, nicht die komische Verkehrtheit in ihren blos innerlichen Widersprüchen
nachweisen darf, sondern den Charakter durch die That darstellen |#f0479 : 457|

muß, welche seine Widersprüche hinausführt in die objektive Welt, auf
den Kampfplatz des Lebens.


Da die Komödie die lebensvollste Kunsterscheinung des Komischen
ist, so muß auch der Dialog von seiner ganzen Gewalt durchdrungen
sein. Eine Jntrigue geschickt anzulegen, Charaktere nach der
Schablone mit einer gewissen Lebenswahrheit zu zeichnen: das macht
nicht den großen Lustspieldichter, wohl aber eine Weltanschauung mit dem
Weltblicke des Humoristen, der in jeden einzelnen Fall der Komik ihre
ganze Tiefe legt und den Dialog mit dem üppigsten Spiele der Laune,
des Witzes und der Jronie ausstattet. Witz und Jronie müssen freilich schon
in den Plan des Lustspiels hineingeheimnißt sein; aber dieser latente Witz
genügt nicht, das ganze Stück muß mit Witz gesättigt sein, der fortwährend
mit seinen elektrischen Schlägen die Atmosphäre seiner Verwickelungen
reinigt. Wenn man in neuester Zeit Lustspielen ohne Witz und
Humor
den Preis zuerkennt, sofern sie nur mit wohlfeilen scenischen
Ueberraschungen ausgestattet sind, wenn man sich vor der erschütternden
Macht der Komik bekreuzt, als ob in ihr eine Versündigung gegen die
Regeln des Anstandes liege, wenn man einer fadenscheinigen Trivialität,
die sich mit Sicherheit in den hergebrachten Gleisen bewegt, den Vorzug
ertheilt vor einer genialen, von der vis comica durchdrungenen
Schöpfung, weil sie nicht nach einer modischen Schablone zugeschnitten
ist: so befindet man sich auf einem Abwege, der immer weiter aus jenem
Bereiche, wo die Kronen der echten Komödie winken, seitab in das Schattenreich
der leblosen Silhouetten führt. Eine Tragödie ohne Schwung,
ein Lustspiel ohne Witz, seichte Verstandskombinationen, kleine scenische
Mittel, wirksame Attrapen ─ das gehört zum haut-gout des entnüchterten
Publikums und der blasirten Tageskritik. Jede Jnspiration, auch
die des Humors, wird für überflüssig erklärt; der Maaßstab für das
imponderable Wesen des dichterischen Genius ist gänzlich abhanden
gekommen. Man könnte zwar, in Bezug auf das Lustspiel, einwenden,
daß es jede Lebenswahrheit einbüßen würde, wenn es allen seinen Charakteren
dieselbe Dosis eines stets schlagfertigen Witzes ertheilte, und daß
ein humoristischer Fasching von lauter Witzbolden doch nicht dem Jdeal
der echten Komödie entspreche. Jn der That sind Stücke, in denen die
Witzhascherei vorherrscht, wie z. B. die Lustspiele Congreve's, |#f0480 : 458|

tadelnswerth, doch nur, weil die komische Kraft hier in einseitiger Richtung
verschwendet wird. Dagegen vergißt man die reiche Scala der
Komik, über welche der Lustspielgenius gebietet, und durch deren Abstufungen
er die verschiedenartigsten Charaktere mit aller dramatischen
Schärfe ausstatten kann, von der objektiven, mehr burlesken Komik der
naiven Gestalten, in denen sich der zum Lachen reizende Widerspruch ohne
ihr Bewußtsein verkörpert, zur Satyre und Jronie geistig überlegener,
zum Welthumor der tiefsten und bedeutendsten Charaktere. Der Witz
ist ihnen allen gemeinsam, er ist der Blitz dieser ganzen komischen Atmosphäre.
Doch darf er nie Selbstzweck sein; deshalb ist der Wortwitz
und die Sylbenstecherei, wie wir sie, im Geschmack der Nation und
der Epoche, bei Shakespeare, Calderon und Lope finden, das ganze
Turnier einer phantastischen Dialektik, aus der neuen Komödie zu verbannen.
Dagegen darf der Bilderwitz, der Quell, aus dem auch die
Metaphern der Tragödie fließen, nicht als äußerlicher Schmuck, sondern
als dramatischer Nerv der Lustspieldiktion angesehn werden.


Ueber das Verhältniß des Tragischen und Komischen im Drama,
wie über die Eintheilung des Lustspieles sind die verschiedensten Ansichten
aufgestellt worden. Es ist bekannt, in welcher Ausdehnung Shakespeare
und Calderon das Komische in die Tragödie aufgenommen
haben. Mit welchen üppigen Farben ist das Charaktergemälde eines
„Falstaff“ ausgemalt, das sich in den Vordergrund zweier Tragödieen
drängt! Welche Rolle spielt der Narr im „König Lear!“ Bei Calderon
ist das Komische in der Regel Parodie des Tragischen, indem sich
dieselbe Situation, die uns in einer idealen Sphäre mächtig ergreift, in
einer burlesken wiederholt! Aus welcher Mischung des Tragischen
und Komischen das Schauspiel hervorgehn kann, das in der Regel nur
auf einer Abstumpfung beider Elemente beruht, werden wir später sehn.
Dagegen können wir die Posse nicht als eine besondere Gattung des
Lustspiels ansehn. Jn der Regel versteht man darunter ein potenzirtes
Lustspiel, in welchem das Komische in's Burleske und Groteske, die Charakteristik
in das Karikirte übergeht, die Anlage von den Gesetzen der
Wahrscheinlichkeit abstrahirt, Haltung und Sprache aber in einer niedern
Sphäre des Ausdruckes heimisch bleiben. Ohne Frage entfaltet sich in
der Posse die Energie des Komischen! Sie braucht nicht in das Gemeine |#f0481 : 459|

und Niedrige überzugehn; sie kann im Gegentheile die ganze Dithyrambik
des Humors entfalten. Doch in ihrer Verschiedenheit von der umfangreichen
Zauberposse bis zum einaktigen Schwank reiht sie sich ungezwungen
der von uns versuchten Eintheilung des Lustspieles ein. Hettner
theilt das Lustspiel in das phantastische und realistische;
Bohtz
in seinem Werke „über das Komische und die Komödie“ theilt das
romantische Lustspiel d. h. das neuere, das er dem antiken anreiht,
in das humoristische Jntriguen= und Charakterlustspiel ein;
Vischer unterscheidet dem Stoffe nach das politische und bürgerliche,
der Auffassung nach das Charakter= und Jntriguenlustspiel.
Wir halten die Eintheilung Hettner's für die durchgreifendste,
der wir indeß ein drittes Glied beifügen, und die wir in etwas anderer
Weise interpretiren. Wir unterscheiden das idealistische Lustspiel,
das Lustspiel des Welthumors, das realistische Lustspiel, das sich
wieder in Jntriguen= und Charakterlustspiel sondert, und die Vereinigung
von beiden, das historische Lustspiel.


1. Das idealistische Lustspiel.


Der Welthumor schaut die Welt als Ganzes und sucht unmittelbar
die großen und tiefen Beziehungen des Lebens auf. Wendet er sich dem
Lustspiele zu, so gehören seine Stoffe der Allgemeinheit des Lebens an,
seine Form ist kühn phantastisch; er schafft sich eine mythische Welt,
welche in die Handlung eingreift oder selbst ihre Scene bildet. Die
Gesetze der Wahrscheinlichkeit werden von diesem freispielenden Humor
umgestoßen, der sich hier selbst zu einer schwunghaften Lyrik erheben und
diesem Lustspiele echt dichterischen Reiz geben darf. Die Handlung des
Lustspieles setzt immer den bestimmten Fall voraus. Auch hier muß eine
Handlung erfunden werden, die einen bestimmten Endzweck, eine organische
Gliederung hat; aber ihre Voraussetzungen und ihre Durchführung
dürfen phantastischer Art sein und eine durchaus ideale Bedeutung haben,
die Gestalten über die rein menschliche Mitte hinaus wachsen in's Karikirte
und Burleske, wenn wir nur im Vexirspiegel dieser phantastischen
Welt den Fokus der Jdee entdecken. Dennoch verlangt auch die übermüthige
Komik in ihren Uebertreibungen lebensvolle Gestalten, nüchterne
Allegorieen würden nur Zeugniß für ihre Ohnmacht ablegen. Diese |#f0482 : 460|

Lustspielform steht ähnlich, wie die metaphysische Tragödie, ein „Faust,“
„Manfred“ an der äußersten Grenze des Drama; sie wächst über sein
Maaß hinaus; sie hat etwas Jnkommensurables. Doch die Fülle und
Tiefe des Humors, der sich über die gelockerte Form ausgießt, versöhnt
uns mit seinen dramatischen Licenzen. Die historischen Gestalten dieses
Lustspiels, die wir kurz vorführen wollen, werden uns seine Bedeutung
für die Gegenwart klar machen.


Die älteste ist die alte attische Komödie des Aristophanes, des
ungezog'nen Lieblings der Kamönen. Er ist vor Allem ein Sohn seiner
Epoche, welcher die Zerwürfnisse der damaligen Parteikämpfe, die Lockerung
des alten sittlichen Gehalts im Staatsleben durch die Sophisten,
ihre Thorheiten auf allen Gebieten des Lebens und der Kunst verewigt
hat. Es handelt sich in dieser alten attischen Komödie um die tiefsten
Fragen der Welt. Schon Pherekrates hatte in seinem „Wilden
die einreißende Gesetzlosigkeit der Athener verspottet, Eupolis in dem
Poleis“ die Tyrannei, welche die Athener gegen die Bundesstädte ausübten,
in den „Demoi“ den Uebermuth der Demagogie, Platon die Vertreter
verkehrter Richtungen in Kunst und Religion und diese Richtungen
selbst gegeißelt. Aristophanes schloß sich ihnen an, indem er in den „Rittern
die Demagogie Kleon's, in den „Wolken“ die Sophistik, als deren
Vertreter er Sokrates auffaßte, in den „Acharnern“ und „dem Frieden
den peloponnesischen Krieg, in den „Wespen“ die Prozeßsucht der
Alten, in der „Lysistrate,“ den „Thesmophoriazusen“ und den
Ekklesiazusen“ die Thorheiten emancipationssüchtiger Weiber und der
Gütergemeinschaft geißelt, in den „Vögeln“ aber ein humoristisches Weltbild
in die Luft bauender, Staatengründender Thorheit, in den „Fröschen
ein Bild unterweltlicher Kunstkritik, aus welchem sich verherrlicht das
Bild des echten Kunstideals erhebt, für alle Zeiten hinstellt. Ein Advokat
der marathonischen Zeit, ihrer sittlichen Einheit und Gediegenheit, ihres
großen nationalen Pathos, kämpft der Dichter, der in vieler Beziehung
ein polemischer Tendenzpoet zu nennen ist, gegen die Zerrüttung von
Hellas, den Bürgerkrieg, die Parteienspaltung, die Verjüngungsversuche
der Demagogie und gegen die ganze Welt der Thorheit, die sich in diesem
zerspaltenen politischen Leben entfaltet. Die Grundidee, die dem
Aristophanes vorschwebt, die aus allen grotesken Bildern seiner komischen |#f0483 : 461|

Muse hervorleuchtet, ist eine politische, die Form aber eine phantastisch=symbolische,
ohne je in's Allegorisch-Nüchterne überzugehn.
Diese Symbolik erstreckt sich bis auf das Kostüm, wie z. B. in den
„Fröschen“ der feige Dionysos, der wie Herkules in die Unterwelt hinabsteigen
will, um einen verstorbenen Tragiker heraufzuholen, die Kontraste
seines Charakters und seiner Jntentionen in seinem Kostüm andeutet,
in welchem sich die Löwenhaut und der Weiberrock, die Herkuleskeule und
der Weiberschuh paaren. So hat der Chor der Vögel, der Wespen, der
Frösche nicht blos eine symbolische Bedeutung für die Handlung selbst,
sondern er drückte sie auch in der entsprechenden Thiermaske aus, welche
als die Vermischung des Thierischen und Menschlichen den phantastischen
Anstrich des Ganzen am schärfsten ausprägte. Der Chor, das Urelement,
aus welchem sich die Komödie, wie die Tragödie entwickelte, spricht
entweder die Gesinnung des Dichters in heiterer Jronie aus, wie in den
„Fröschen,“ oder er wandelt seine Meinung unter den Einflüssen der Handlung,
wie in den „Wespen,“ oder er giebt sich, wie in den „Vögeln,“ den
„Wolken,“ den Anschein, als ob er ganz in das thierische und elementarische
Leben aufgegangen sei, während er doch mit schalkhafter Jronie aus
seiner Maske hervorsieht*). Jndem er aber oft mit schwunghafter Lyrik,
wie jener Preis der Gestirne in den Wolken beweist, die Handlung unterbricht,
erhebt er das Komische in den gereinigten Aether des Schönen.
Jn der Parabase, in welcher sich der Chor mit einer Frontveränderung
gegen das Publikum schwenkte, nahm die Komik des Dichters eine ganz
persönliche Wendung, indem er sich selbst, seine Rivalen, seine Werke
bespricht und sich so in unmittelbare Beziehung zu seinem Auditorium
setzt. Die Handlung dieser altattischen Komödie war natürlich ohne jede
Jntrigue und Verwicklung, ein einfach komischer und symbolischer Akt;
die Ausführung ging oft in's derb Possenhafte und Cynische über; aber
ein kühner Genius, von sittlicher Energie durchdrungen, mit einer außerordentlich
reichen Phantasie begabt, erhob diese Komödie zu einer idealen
Höhe!


Die zweite historische Erscheinung des idealistischen Lustspieles
finden wir in den phantastisch=romantischen Shakespeare's

*)
Vgl. Bohtz, das Komische und die Komödie S. 158.
|#f0484 : 462|

(Sturm, Sommernachtstraum), in welchem es eine von der aristophanischen
gänzlich abweichende Gestalt angenommen. Das individuelle
Geschick als solches hatte in der alten attischen Komödie keinen Werth;
die Charaktere waren nur Vertreter irgend einer geistigen Richtung,
welche der Komiker persiflirte. Bei Shakespeare bildet ein persönliches
Geschick, z. B. Leid und Lust der Liebe, den Mittelpunkt der Handlung,
in welche die Elementargeister, die Gebilde einer die Natur beseelenden
Phantasie, mit ihrem heitern Spiel eingreifen. Der Reiz dieses Lustspieles,
welches der altattischen Komödie, die meistens ganz bestimmte
Verhältnisse des Staates und der Gesellschaft, des Wissens und der
Kunst mit keckem Humor verspottete, gerade entgegengesetzt ist, beruht auf
einer traumhaften Verkettung des menschlichen und elementarischen
Geschickes, auf einem abenteuerlichen Quodlibet des Menschen und der
Natur, das aber dennoch in seiner scheinbaren Verwirrung einen sinnvollen
Grundgedanken spiegelt. So zieht sich z. B. im „Sommernachtstraum“
durch dies ganze in den duftigsten Aether der Naturlyrik getauchte,
scheinbar verworrene und verwirrende Treiben, das uns zarte Elfengeister,
rohe Handwerker, mehrfache Liebesintriguen, magische Liebestränke und
bizarre Metamorphosen vorführt, als rother Faden die Grundidee, die
träumerische Launenhaftigkeit der Liebe und ihre elementarisch wirkende
Gewalt, eine Jdee, die sich ebenso in der wechselnden Stellung der beiden
Liebespaare zu einander, wie in dem Streit zwischen Oberon und Titania,
in der durch Blumenzauber bewirkten Verliebtheit der Feeenkönigin
in den Weber Zettel mit seinem angezauberten Eselskopf und selbst in der
Hochzeitskomödie von Pyramus und Thisbe, in allen ernsten, heitern,
burlesken Gruppen des Stückes wiederfindet. Hier ließe sich noch die
heitere, phantastische Märchenwelt Gozzi's anreihn.


Unsere neue deutsche Literatur hat mehrfache Anläufe zur Wiedergeburt
des idealistischen Lustspiels genommen. Wir erwähnen zunächst
die ironischen Komödieen Ludwig Tieck's, „Zerbino,“ die „verkehrte
Welt,“ den „Fortunatus“ u. a., in denen allen sich die literarische Satyre
des Aristophanes mit Shakespeare's phantasievoller Sinnigkeit vereint.
Dennoch müssen diese Versuche als verfehlt bezeichnet werden; denn
zunächst entbehrten sie die Volksthümlichkeit und Bühnenfähigkeit, die
den Dichtungen des Aristophanes und Shakespeare einen so großen Halt |#f0485 : 463|

gegeben; sie wandten sich an ein literarisches Publikum, das keineswegs
mit der Nation identisch war, und ergingen sich in einer Fülle schwerverständlicher
Beziehungen. Dann aber fehlte ihnen, bei aller Feinheit und
Liebenswürdigkeit einer reichen Phantasie, bei allen glänzenden Einzelnheiten
und echt burlesken Erfindungen, eine spannende Handlung, ein
dramatischer Kern, die Gleichheit und Harmonie der Darstellung und
vor allen Dingen das durch alle traumhaften dissolving views hindurch
blickende Licht des einheitlichen Grundgedankens. Das geheime
ideale Band Shakespeare's, das sich um die scheinbar zerflatternden
Gebilde seiner Phantasie schlingt, war bei Tieck zerrissen durch das kecke
Spiel einer selbstgenugsamen Jronie, welche keine höhere Wahrheit des
Lebens anerkannte, als diesen Taumel der Dinge und Vorstellungen,
diese Willkür des Geistes selbst. Den zweiten Anlauf nahmen Platen
(Romantischer Oedipus, verhängnißvolle Gabel) und Prutz (politische
Wochenstube) in literarischen und politischen Komödieen, die leider auch
durch strikte Observanz der altattischen Lustspielform auf die äußere Darstellbarkeit
verzichteten, zugleich aber dem deutschen Lustspiele eine Meisterschaft
idealen Ausdruckes zueigneten, die ihm für künftige Versuche als
ein verheißungsvolles Erbe verbleiben wird. Auch hier zeigte sich als
Hemmung dieser ganzen Gattung, daß das Literarische in Deutschland
nicht über den engen Kreis einer exklusiven Bildung hinausgeht, nicht
wie die aristophanische Kritik eines Aeschylos und Euripides ein nationales
Jnteresse beansprucht, das Politische aber durch äußere Rücksichten
von der Oeffentlichkeit ausgeschlossen ist. Der dritte Versuch, diese Gattung
bei uns einzubürgern, sind die Zauberpossen Raimund's u. A.,
die ihren mythischen Gestalten sogar die Bühnenwirklichkeit zu sichern
verstanden, im „Alpenkönig,“ im „Lumpacivagabundus“ nicht trockene
Allegorieen, sondern eine lebensvolle und zum Geschick ihrer Helden
passende Göttermaschinerie erschufen, die Volksmoral durch die in Scene
gesetzten Kontraste des innern und äußern Glückes bildeten, den
Volkshumor durch manche echt lustige Erscheinung erfreuten.


An diese Versuche wird das idealistische Lustspiel anknüpfen müssen,
dem wir schon deshalb eine Zukunft versprechen, weil die Keimkraft der
bürgerlichen Lebensprosa und ihrer Familienverwicklungen in bedenklicher
Weise erschöpft scheint. Dies Lustspiel schließe sich an die Zauberpossen |#f0486 : 464|

an, insofern es die theatralische Wirklichkeit als Grundbedingung
seiner Lebensfähigkeit festhält; es benutze den Reichthum der Dekorationen
und Maschinerieen, über den die heutige Bühne gebietet, für seine
phantasievolle Beweglichkeit, für seine mythische Erfindung; denn hier
ist gerade der Ort, wo das Mythische noch eine Stätte findet. An die
Stelle des Gesanges in der Zauberposse setze es eine kunstvolle Lyrik mit
rhythmischem Farbenreichthum, wie Platen und Prutz, aber mit einer
allgemeinverständlichen, schlagenden Komik. Für den antiken Chor
irgend einen Ersatz zu finden, wird die Aufgabe dieser humoristischen
Talente sein. Die Erfindung einer spannenden Fabel wird, im Unterschiede
von Aristophanes und Tieck, diesem Lustspiele nicht erlassen werden
können; von Shakespeare mag es das sinnvolle Verweben des menschlichen
und elementarischen Geschickes lernen! Die Sprache selbst sei mit
dem ganzen Zauber der Jdealität ausgestattet. An Stoff aber dürfte es
einem solchen Lustspieldichter in unserer Zeit nicht fehlen; denn abgesehen
von der literarischen und politischen Satyre ─ welche Fundgrube wäre
für Aristophanes der Geldschwindel und der Materialismus unserer Zeit,
dessen Vertreter er zwar nicht wie Sokrates in der Luft schweben, aber
vielleicht in irgend einer sichtbaren Phase des Stoffwechsels dem Publikum
vorführen würde!


2. Das realistische Lustspiel.


Aus der allgemeinen Sphäre der Weltthorheit und ihrer symbolischgrotesken
Gestaltung, aus diesem Reich der phantastischen Laune zieht
sich die Lustspielmuse in das Privatleben zurück, um in einem engeren
dramatischen Rahmen die Komik am Faden einer bestimmten Handlung
und durch die Ausmalung bestimmter Charaktere zu entwickeln. Die
Thorheit wird eine individuelle, die Maske wird zum Portrait, die
Komödie das Abbild der Wirklichkeit. Was sie dadurch verliert, indem
die erhabene Seite des Komischen, der Welt verspottende Humor, die
großartige Dithyrambik geopfert werden muß: das gewinnt sie wieder
durch die schärfere Betonung des Dramatischen, den spannenden Fortgang
der Handlung, den Reichthum individueller Charakteristik, die
Verwicklung und Lösung der Jntrigue. Diesen Schritt that bekanntlich
schon die mittlere attische Komödie, die neuere führte die neue Form zur |#f0487 : 465|

Vollendung. Ja Aristophanes selbst scheint in seinem „Plutos
bereits eine allegorische Darstellung, in seinen letzten Komödieen Kokalos
und Anolosikon die Darstellung einer Liebesintrigue aus dem
realen Leben ganz im Geiste der neueren attischen Komödie gedichtet zu
haben. Es ist charakteristisch, daß ihr glänzendster Vertreter, Menander,
ein Freund und Anhänger des Epikur gewesen und gewiß aus der
Lehre dieses Philosophen sein Behagen an der sinnlich=realen Welt und
seine Begeisterung für die Tyche, den Zufall, den Beherrscher der Welt und
die Muse seines Lustspiels geschöpft hat. Dies realistische Lustspiel zeigt
uns den Gegensatz von Charakter- und Jntriguenstück noch gebunden.
Die Jntrigue, die Schürzung und besonders die Lösung des Knotens
scheint, nach den uns erhaltenen Proben und den Bearbeitungen des
Plautus und Terenz, nicht gerade seine stärkste Seite gewesen zu sein,
indem die Wiedererkennungen der Tragödie hier in einer abgeblaßten und
monotonen Form angewandt wurden; die Charaktermalerei aber konnte,
da diese Stücke ebenfalls in einer Maske und zwar in einer Doppelmaske
für den Ausdruck des Ernstes und der Heiterkeit gespielt wurden, nicht
über das Typische hinausgehn. Jhre Typen sind in der That eine
Erbschaft geblieben, welche das ganze neue bürgerliche Lustspiel angetreten
hat, wenn sich auch die Hetären Menander's und Philemon's in die
sittigen Töchter bürgerlicher und adeliger Familien verwandelt haben.
Seit Anaxandrides die Liebe zuerst in der mittlern Komödie eingeführt,
ist ein Liebeshandel die Achse der Komödie geblieben, um welche
alle ihre Charaktere rotiren. Diese selbst sind Typen, die sich noch in
den Rollenfächern der heutigen Bühne spiegeln und in vielen ausgeführten
Charakteren noch ihre entfernten Nachkommen finden. Zwar die
Bordellwirthe und Kupplerinnen, die noch in Shakespeare's Stücken
eine nicht unerhebliche Rolle spielen, hat die Decenz von der neueren
Bühne verbannt und ihnen unschädliche Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft
substituirt, denen es eine Freude macht, die Helden und Heldinnen
„unter die Haube“ zu bringen; an die Stelle der Piraten, welche die
Mädchen entführten, dadurch Urheber der Jntrigue und schließlich die
Alexander wurden, die ihren gordischen Knoten zerhieben, sind natürliche
und unnatürliche Väter, Verwechslungen des Zufalles, verlorene Taufscheine
u. dgl. m. getreten; die Parasiten, die Schmarotzer an den |#f0488 : 466|

Tischen der Reichen, die einen Anflug von Genialität und das Bewußtsein
ihrer Schwäche hatten, und in denen Lessing die Vorgänger des Harlekins
erkennen wollte, haben sich in joviale bonvivants verwandelt; der
Thraso, der großsprecherische Soldat, der miles gloriosus, der horribilicribrifax,
hat ebenfalls eine häufige Auferstehung gefeiert; der
Vater in seinen Beziehungen zur eifersüchtigen, herrschsüchtigen oder
listigen Gattin ist bis auf die komischen Banquiers von Bauernfeld in
den zahlreichsten Metamorphosen erschienen! Ebenso der listige Sklave,
der spanische gracioso, der ränkevolle Bediente! Die spätere Zeit nun
den hat dies realistische Lustspiel nach zwei Seiten hin ausgebildet, indem es
Ton entweder auf die Handlung oder auf den Charakter legte, das
Komische aus der Verkettung der Jntrigue oder aus den Eigenthümlichkeiten
der Charaktere hervorgehn ließ. Beides sind natürlich integrirende
Momente des Drama; aber es erhält eine wesentlich verschiedene
Färbung, je nachdem das volle Licht der vis comica auf die eine oder
die andere Seite fällt.


a. Das Jntriguenlustspiel.


Das spanische Degen- und Mantellustspiel des Lope, Calderon
und Moreto ist das Urbild des neuern Jntriguenstücks, das sich in dem
neufranzösischen Lustspiele des Scribe eine moderne, von den deutschen
tonangebenden Dramaturgen vielbewunderte Gestalt erschaffen. Doch
schon aus dem Wesen der spanischen Dramatik geht die Einseitigkeit dieses
Lustspielgenres hervor. Der Konflikt zwischen Liebe und Ehre
wurde, eigentlich nur durch den glücklichen Ausgang modificirt, auf das
Lustspielgebiet übertragen. Die Helden und Heldinnen behielten ihre
ritterliche Haltung, den Ernst ihrer Leidenschaft, welche nur vom gracioso
und der Zofe parodirt wurden. Feindliche Väter und Rivalen waren
die Hemmnisse der Liebe; zufällige Verwicklungen, Verkleidungen, Verstecke
bildeten die Jncidenzpunkte der Handlung; Serenaden und Duelle
gehörten unumgänglich zu ihrer scenischen Ausstattung. Die Scene
selbst spielt natürlich mit, und zwar oft die Hauptrolle, wie z. B. in Calderon's
„der Liebhaber als Gespenst,“ wo ohne den unterirdischen Gang
die ganze Handlung eine Unmöglichkeit wäre. Selten ist die psychologische
Dialektik mit solcher Meisterschaft durchgeführt, wie in Moreto's |#f0489 : 467|

„Donna Diana.“ Doch auch hier überwiegt bei weitem der Ernst,
und wir sind weit davon entfernt, uns im freien Aether der Komik zu
bewegen.


Die Jntrigue geht daraus hervor, daß einzelne Personen ihre
bestimmten Zwecke verfolgen, diese sich wieder mit den Zwecken anderer
kreuzen, die Bemühungen, die verschlungenen Fäden zu lösen, eine wachsende
Verwirrung hervorbringen, bis der geschürzte Knoten in überraschender
Weise entwirrt wird. Den Anforderungen des Aristoteles gemäß ist
freilich im Jntriguenlustspiel die Handlung das Wesentliche; aber sie
wird zu einem Raffinement der Beziehungen ausgebildet, welches sie
nicht mehr einfach aus den Charakteren hervorgehn läßt. Die Handlung
soll uns die Charaktere entwickeln; aber im Jntriguenlustspiele wird sie
zu einem selbstständigen Automaten, welchem die handelnden Personen
bald das eine, bald das andere Rädchen zu seiner Fortbewegung einverleiben.
Die Technik des dramatischen Schachspieles feiert freilich hier
ihre höchsten Triumphe; aber sie zeigt sich auch in ihrer Einseitigkeit,
insofern die personae dramatis auch nur, wie hölzerne Schachpuppen,
wie allgemeine Charaktertypen ohne individuelles Leben erscheinen. Das
Weben des Jntriguenlustspiels beruht auf einer fortwährenden gegenseitigen
Ueberlistung; schon daraus geht hervor, daß die List auch als
vorzügliche Charaktereigenschaft der handelnden Personen angesehen werden
muß. Abgesehn davon, daß sie dadurch alle einen stereotypen Zug
erhalten, so hindert diese Absichtlichkeit der List an der freien Entfaltung
einer echt jovialen Heiterkeit, die uns in das volle Behagen des Komischen
versenkt. Sie giebt den Charakteren ein scharf kombinirendes Verstandeselement,
das keine befreiende Macht ausübt, eine gewisse Engherzigkeit
der Gesinnung, die in kleinlichen Zwecken aufgeht. Wenn daher neuere
Dramaturgen in der Vergötterung der Scribe'schen Lustspielschablone und
der allerdings vorzüglichen Technik ihrer Anlage und Verwicklung aufgehn:
so soll sich die deutsche Lustspieldichtung dadurch nicht irre machen
lassen und nicht aufhören, in reichen Bildern der Menschenwelt ihren
freiesten und glänzendsten Humor zu entfalten. Jene Pointirung der
französischen comédie heftet das Gewebe der dramatischen Handlung
oft mit allzu feinen psychologischen Nadelstichen zusammen, sie geht in
eine undramatische Jnnerlichkeit zurück, in eine schwerverständliche, auf's |#f0490 : 468|

Mühsamste zusammengefädelte Motivirung, welche dem gesunden Humor
die Augen verdirbt. Das ist ein Lustspiel ohne Frische und Freudigkeit,
ohne Behagen, ohne Lachlust, dessen Triumph in der koketten Selbstgefälligkeit
besteht, die da ausruft: wie geschickt hab' ich das alles eingefädelt!
und bei dem Publikum ein verständnißinniges Lächeln hervorruft.
Die Eigenthümlichkeit des Jntriguenlustspiels wird durch jene bekannte
Anekdote am besten charakterisirt, daß sein Matador Scribe seine früheren
Stücke, deren Zusammenhang ihm zum Theil entfallen, oft mit
großem Jnteresse wieder aufführen sieht und, wo der Knoten am meisten
verschürzt ist, in höchster Spannung ausruft: „Wie werd' ich mich nur
da herausgewunden haben!“ Das Hinein- und Herauswinden ist die
Seele dieser Stücke; der dramatische Prozeß wird durch lauter Advokatenkniffe
gewonnen; die Technik, deren wesentliche Bedeutung für das
Drama wir auseinandergesetzt, wird hier zur alleinigen Lebenskraft der
Handlung gemacht, was nothwendig zu einem monotonen Schema
führt und die geniale Lebendigkeit des Dialogs und der Charakteristik
ertödtet.


b. Das Charakterlustspiel.


Das Charakterlustspiel, dessen Komik aus der Tiefe germanischer
Jndividualität wiedergeboren ist, während die Jntrigue mehr dem
romanischen Charakter entspricht, steht dem Jntriguenlustspiele nicht so
gegenüber, als ob ihm ein durchgehender Faden der Handlung und Verwicklung
fehle; aber es legt den Nachdruck keineswegs auf die subtilen
Motivirungen und Ueberlistungen, sondern läßt die Charaktere in ihrem
Wesen liegende Zwecke verfolgen, die in heiterer Verstrickung mit den
Zwecken anderer und mit dem Zufall entweder scheitern oder zum Ziele
gelangen. Seine Helden sind nicht Jntriguanten, Planmacher, Schlauköpfe,
die mit feierlichem Ernst in ihrer Jntrigue aufgehn; sondern sie
verfolgen ihre Zwecke ohne Hinterthüren und Attrapen in der Weise, die
ihrem Charakter entspricht, und in welche der Zufall seine launigen
Verwicklungen verwebt. Der Witz der Situation ist hier nicht ausgeschlossen;
aber diese Situationen tragen nicht den Stempel einer mühsamen
Geburt aus dem Schoos der ängstlich kreisenden Jntrigue, sondern
sie gehn aus einer ungezwungenen und zufälligen Kreuzung der Zwecke
hervor. Die Charaktere entfalten die ganze Vielseitigkeit, Frische und |#f0491 : 469|

Freudigkeit des Humors; der Dialog ist nicht auf hyperfeine Pointen
gestellt, sondern witzig, schlagkräftig, geistvoll im Sinn einer tiefern Weltanschauung,
nicht im Sinne des lauernden und triumphirenden esprit.
Die Technik des Ganzen braucht der Technik des Jntriguenstückes nicht
nachzustehn, nur daß sie nicht zum herrschenden, geistzerreibenden Mechanismus
wird, sondern sich als dienendes Glied einfügt in den Organismus
des Ganzen. Die Grundidee des Lustspiels aber, irgend eine
Lebenswahrheit, die sich in den beschränkten Kreisen der bürgerlichen
Gesellschaft, in individuellen Beziehungen spiegelt, nicht auf der absoluten
Höhe der aristophanischen Komik bewegt, beherrscht alle Theile gleichmäßig.
Das ist das Jdeal des deutschen, bürgerlichen Lustspiels,
dessen Ausbildung für die Bühne segenbringender ist, als die Nachahmung
französischer Jntriguenstücke, die unserem Volkscharakter nicht entsprechen.
Das englische Lustspiel von Shakespeare, Ben Jonson
und Massinger bis zu Farquar, Congreve, Colman und Sheridan,
das ältere französische Lustspiel Molière's, das dänische Holberg's,
das deutsche Kotzebue's bewegt sich in dieser Bahn. Selbst
ein Dichter, wie Benedix, der die Komik der Situationen liebt, läßt sie
doch nur aus der Eigenthümlichkeit der Charaktere hervorgehn, wie z. B.
die Verwicklungen im „Vetter“ alle auf dem humoristischen Charakter des
Helden beruhn.


Doch auch das Charakterlustspiel kann in eine bedenkliche Einseitigkeit
verfallen, wenn es den Gegensatz zum Jntriguenstück dahin ausbildet,
daß der Faden der Handlung selbst ganz dürftig und unscheinbar wird,
und das Drama sich in ein breit ausgeführtes Charaktergemälde verwandelt.
Gerade die größten Lustspieldichter dieser Richtung, Molière
und Holberg, sind von einer Hinneigung hierzu nicht freizusprechen.
Shakespeare's „Falstaff“ ist ein bloßes Charaktergemälde. Molière's
„Harpagon“ und „Tartüffe“ behalten ihre dramatische Schwerkraft,
indem sich das Jnteresse an ihnen nicht nach vielen Seiten hin zersplittert,
sondern in ihrer mehr typischen Eigenthümlichkeit, indem sie ein bestimmtes
Laster repräsentiren, einen festen Einheitspunkt findet. Einzelne
Lustspiele Holberg's, wie z. B. der geschwätzige Barbier, ergehn sich im
Ausmalen individueller Thorheiten, denen der dramatische Faden fehlt.
Dagegen ist in seinen Hauptwerken, im „politischen Kannegießer,“ „Don |#f0492 : 470|

Ranudo,“ „der Wochenstube,“ nicht nur eine hinlänglich spannende
Jntrigue vorhanden, sondern auch die Charaktere sind mit jener humoristischen
Tiefe ausgemalt, welche ihre Verkehrtheiten nicht haltlos in der
Luft schweben läßt, welche sie um einen urwüchsigen Stamm des
Gemüths, der aus einem Allen gemeinsamen Boden wächst, wie bizarre
Schlingpflanzen windet. Jn den Sittenlustspielen, mit denen Ben
Jonson
gegen die phantastische Schule Shakespeare's nach dem Muster
der neuern attischen Komödie Front machte, im „Alchymisten,“ „Volpone
u. a. überwiegt ebenfalls die Charaktermalerei, indem besonders
in dem erstern Stück die dramatischen Situationen ziemlich locker aneinandergereiht
sind.


Das Charakterlustspiel, das sich bereits mit freierem Behagen, als
das Jntriguenstück, den Eingebungen des Humors überlassen darf, führt
zum Schwank, der Posse des bürgerlichen Lebens, wo die Handlung
in die jovialsten Verwicklungen übergeht, und die Charaktere an das Burleske
und Karikirte streifen. Es ist kein Zufall, daß Molière und Holberg,
die hervorragendsten Dichter des Charakterlustspiels, sich vorzugsweise
auch in der Posse versucht, und besonders der erstere in seinem „Bauer
als Edelmann,“ „Arzt wider Willen,“ „Georg Dandin“ eine mehr
markige und drastische komische Ader entwickelte, als im ernsteren Sittenlustspiele,
in welches sich oft zur Unzeit ein lehrhaftes und moralisirendes
Element eindrängt und die Thorheit in das Laster übergeht. Wir
könnten die Posse auch in ihrer kulturhistorischen Bedeutung als das
Volkslustspiel seinen feineren Gattungen gegenüberstellen; doch dieser
Gegensatz, der eine literarhistorische Bedeutung hat, kann niemals eine
ästhetische gewinnen, indem nur seine Aufhebung die echte Höhe der
Kunst, die nur eine Nation kennt, signalisirt. Wir haben bereits oben
darauf hingewiesen, wie die phantastische Zauberposse in einer Weise
zu adeln sein dürfte, daß sie gleichzeitig den Anforderungen der Kunst und
der Genußfähigkeit der Massen genügt. Auch der kürzere Schwank, die
Farce der Franzosen, die ähnlich wie das Satyrdrama der Griechen
sich an eine größere Tragödie anschließt, kann sich über den Blödsinn der
Trivialität zu einer genialen Skizze erheben, welche in ihrer burlesk derben
Form doch eine tiefere Bedeutung verbirgt.

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3. Das historische Lustspiel.


Jn dieser noch jungen Lustspielform, welche der letzten Epoche angehört,
finden wir eine Vereinigung des idealistischen und realistischen
Lustspiels
oder mindestens den Ansatz dazu. Die Tragödie hat in ihren
ernsten Konflikten nicht Raum für das, was wir den Humor der
Weltgeschichte
nennen möchten, ein Humor, der keineswegs auf den
Standpunkt des Kammerdieners gehört, für welchen es keinen Helden
giebt. Der Humor des historischen Lustspieles besteht darin, daß es nachweist,
wie der geschichtliche Held nie ganz in seiner Mission aufgeht, wie
ein Rest rein menschlicher Unangemessenheit übrig bleibt, der uns nicht
nur deshalb heiter stimmt, weil er diese hervorragenden Persönlichkeiten
der Geschichte uns andern Sterblichen nähert, sondern weil wir alles
menschliche Treiben als verschwindend gegen die höhere Macht der
Geschichte erkennen. Wird der Ton allein auf die Bedeutung des Kleinen,
auf die nichtigen Ursachen großer Wirkungen gelegt, wie z. B. in
Scribe's „Glas Wasser,“ so tritt eine einseitige Jronie an die Stelle
des Humors, der in seine Charakterbilder auch die positive Größe mitaufzunehmen
vermag; denn der Humor umspannt das Große und Kleine
zugleich. Wir erhalten ein Jntriguenstück auf historischer Grundlage.
Das echte historische Lustspiel dagegen vereinigt ideale Tiefe mit realistischer
Darstellung, indem es uns mit vollen Farben ausgeführte Charakterbilder
am Faden einer einheitlichen Handlung vorführt. Es
darf sich an die größten Helden der Geschichte wagen, wenn es nur die
Kraft besitzt, sie mit einem Humor darzustellen, der ihren komisch ausgemalten
menschlichen Schwächen nicht ihre geschichtliche Bedeutung opfert.
Rühmenswerthe Anfänge auf diesem Gebiete sind Gutzkow's „Urbild
des Tartüffe“ und besonders „Zopf und Schwert,“ Stücke, denen ich mit
meinem „Pitt und Fox“ mich angeschlossen habe.


Wir könnten hier noch das Feuilleton der Bühne, das einaktige
Lustspiel, die Bluette, erwähnen, in welcher eine einfache Verwicklung,
eine durchsichtige Handlung sich zu einer anmuthigen Pointe zuspitzt, ferner
das sogenannte Schubladenstück, die Bluette schauspielerischer
Virtuosität, in welchem dem Darsteller Gelegenheit geboten wird, seine
Fertigkeit in der raschen Aufeinanderfolge verschiedener Masken zu zeigen; |#f0494 : 472|

doch der Raum verbietet uns, auf diese Miniaturbilder unseres Repertoires
näher einzugehn. Nur im Allgemeinen möchten wir für die
realistische Komödie ebenfalls wieder den Vers in Vorschlag bringen,
den nicht nur Molière zum großen Theil, den auch Kotzebue,
Müllner, Steigentesch
und andere deutsche Lustspieldichter mit
Erfolg angewandt. Er würde von selbst manche Trivialitäten vermeiden,
in welche unser prasaisches Lustspiel verfällt, der komischen Muse
einen graziöseren Sokkus anschnallen, die Pointen der Diktion schärfer
hervorheben, manche Schärfen der Charakteristik dagegen anmuthiger ausgleichen.
Der früher gebrauchte Alexandriner empfiehlt sich von selbst
durch seine markirten Einschnitte zu den pointirten Antithesen des schlagenden
Witzes. Um aber seine Eintönigkeit zu vermeiden, wäre nicht
nur die moderne freiere Behandlungsweise dieses Verses am Platze, sondern
der Wechsel mit gereimten vier- und fünffüßigen Jamben würde
jenen beweglichen Konversationston bilden, den z. B. die Wieland'schen
Episteln und die episch komischen Dichtungen des vorigen Jahrhunderts
athmen.


Ohne auf das musikalische Drama, die Oper und das Liederspiel
(Vaudeville), letzteres ein lyrisches Drama mit Gesang, von dem uns
Holtei einige anmuthige Muster gegeben, näher einzugehn, indem wir
in Bezug auf das Wesentliche auf das Kapitel: die Dichtkunst und
die Musik
verweisen, wollen wir noch einen Blick auf das Schauspiel
werfen, eine dramatische Gattung, welche keine Mischung des
Komischen und Tragischen enthält, sondern in der zweifelhaften Mitte
zwischen Tragödie und Komödie steht. Das Schauspiel ist ein Drama,
in welchem ein ernster Konflikt zu einem glücklichen Ausgang führt. Eine
neue Begründung dieser Gattung aus der Jdee hat Moritz Carrière
in seinem Werke „über das Wesen und die Formen der Poesie“ versucht.
Nach ihm herrscht in der Tragödie die Nothwendigkeit, in der Komödie
der Zufall und die Willkür, im Schauspiel aber die Freiheit, die sich
selbst so und anders zu bestimmen und sich auch durch eigene Wahl mit den
objektiven Gesetzen der Weltordnung in Einklang zu bringen versteht.
Er führt uns von der „Sakontala“ der Jndier, der „Jphigenie“ und den
„Eumeniden“ des Euripides zu Calderon's „Leben ein Traum,“ Shakespeare's
„Cymbeline,“ „Maaß für Maaß“ und „Kaufmann von Venedig,“ |#f0495 : 473|

Lessing's „Nathan,“ Goethe's „Jphigenie“ und „Faust“ eine Reihe von
Musterdramen auf, welche in diese Kategorie des Schauspiels gehören.
Jn der That ist nicht abzusehn, warum nicht auch die ideale Dichtung
aus dem Kampfe des Lebens zu einem versöhnenden Ausgange führen
sollte, zu einem heitern Abschluß, der alle Dissonanzen löst. Dennoch
wird das Schauspiel stets an einer Unsicherheit des Styles leiden, wie
denn auch die Hälfte jener Stücke theils in's Lustspiel, theils in die Tragödie
hinüberschwankt. Bei den Alten führte ein deus ex machina,
eine göttliche Sühne den versöhnenden Ausgang herbei, der auch im
neuern idealen Schauspiel nicht ohne eine bedeutsame innere Wandlung
und Wendung des Helden eintreten kann, welche doch nur für bestimmte
Stoffe des Gedankendrama möglich scheint. Die Gefahr dieser Gattung
tritt daher an ihrer beliebtesten Form, dem bürgerlichen Schauspiel,
am meisten hervor, indem hier ernste, meistens kriminalistische Konflikte
des Lebens zu einem versöhnenden Ausgang führen, in welchem nur
die schlechte Weinerlichkeit einer charakterlosen Rührung triumphirt. Den
wunden Fleck dieses Schauspiels hat Kaiser Joseph berührt, der nach
einer Vorstellung von Jffland's „Verbrechen aus Ehrsucht“ äußerte:
„ich würde nicht so gelinde mit Ruhberg umgehn, wie der Verfasser.“
Die Abstumpfung des Konflikts, die Vertuschung des Verbrechens und
die innere Besserung, ein Moment, das dramatisch gar nicht zur
Gestaltung kommen kann, sind diesem Schauspiele durchaus wesentlich.
Die Befriedigung, die das Publikum aus seinem versöhnenden Ausgange
mit nach Hause bringt, ist daher eine höchst mangelhafte. Oder wer
würde die rührenden Familiengruppen in Kotzebue's „Menschenhaß und
Reue,“ die eheliche Versöhnung in „Dorf und Stadt“ der Frau Birch
für einen harmonischen Abschluß halten? Schon Molière's und Jonson's
Charakterbilder neigten sich in diese dramatische Sphäre herüber,
welche Diderot selbstständig anbaute, und die dem deutschen Familiensinn,
trotz des energischen Verdammungsurtheils, das unser größter Dramatiker
ihr zuschleuderte, vorzugsweise zusagt. Nur dies bürgerliche
Schauspiel
hat sich auch einen eigenthümlichen Styl gebildet, eine
triviale Prosa, die alle hausbackenen Beziehungen des Lebens, den ganzen
kriminalistischen Jargon und die Langeweile der Moralpredigt gleichmäßig
wiederzuspiegeln vermag. Einige gelungene Charakterbilder und die |#f0496 : 474|

geschickte Technik Jffland's und Kotzebue's haben dies prosaische Schauspiel
der darstellenden Kunst empfohlen und ihm auf der deutschen Bühne
einen noch fortdauernden Einfluß gesichert. Dennoch fehlt dieser comédie
larmoyante jede organische Keimkraft, da sie fast ganz aus der
Poesie herausfällt, und es bleibt der „Aesthetik“ nur übrig, Shakespeare's
Schatten immer von Neuem gegen diese kleine und erbärmliche Welt
heraufzubeschwören.


[Abbildung] ──────────────────


Druck von Robert Nischkowsky in Breslau.

|#f0497 : E475|

Verlag von Eduard Trewendt in Breslau.
Literarische Anzeige. ──────
Die deutsche Nationalliteratur
in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts.

Literarhistorisch und kritisch dargestellt
von
Rudolph Gottschall.

gr. 8. 74 Bogen. Eleg. brosch. Preis 5 Rthlr.

[Abbildung]


Der Literarhistoriker, welcher die jüngste, in die unmittelbare Gegenwart hinübergreifende
Epoche einer Literatur behandelt, hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen, welche die Literaturgeschichte
der Vergangenheit nicht kennt. Zwar die Mühseligkeiten antiquarischer
Forschung, welche die dichterischen Schöpfungen älterer Zeit kritisch sichten, den Zeitpunkt
ihrer Entstehung, die Namen ihrer Verfasser, ihrer Vorläufer und Nachfolger ermitteln
und gleichsam erst das Terrain für die eigentlich literarhistorischen Leistungen erobern
muß, liegen ihm fern; aber dieser Vortheil wird hinlänglich aufgewogen durch die
Schwierigkeit, das Naheliegende mit vollkommener Unbefangenheit anzuschauen und zu
behandeln, Richtungen, die noch in unmittelbarem Fluß und Fortgang sind, zu ordnen
und zu gruppiren und die hervorragenden Talente selbst, von Anfeindung und Vergötterung
fern, nach ihrer wahren Bedeutung zu charakterisiren. Hierzu kommt, daß die
heftigen politischen und religiösen Strömungen der Gegenwart so leicht den richtigen
Gesichtspunkt verrücken. Der Literarhistoriker, der stets den nationalen Standpunkt
festhalten will und alle Kräfte und Entwickelungen auf ihn zurückbezieht, der nicht eine
flache Vermittelung zwischen den sich bekämpfenden Extremen sucht, sondern in dieser
Ausbreitung nach allen Richtungen hin nur eine Vermehrung des geistigen Fonds der
Nation und ein Wachsthum ihres Ruhmes findet, muß daher eine selbstständige Schätzung
des Bedeutenden dem polemischen Gewirr des Tages abkämpfen. Ebenso mißlich muß
die Massenhaftigkeit der jüngsten Production, die gewaltig in's Kraut schießt, dem
Literarhistoriker erscheinen, da er hier nicht nach abschließenden Resultaten messen kann,
da ihm kein „fertiger“ Ruhm der Einzelnen den sichern Halt giebt, sondern eine gährende
Epoche voll Werdelust ihm auch nur einen werdenden und wachsenden und deshalb
viel bestrittenen Ruhm überliefert. Am mißlichsten aber stellt sich solchem Unternehmen
die viel verbreitete, von großen Autoritäten gestützte Ansicht entgegen, daß unsere
Nationalliteratur seit Schiller und Goethe nichts Bedeutendes hervorgebracht habe, sondern
sich nur in absteigender Linie fortbewege, eine Ansicht, die, wenn sie begründet wäre,
freilich einem Werke, wie das vorliegende, alle Bedeutung rauben müßte; denn es wäre
dann nur die Sisyphusarbeit, einen Stein den Berg hinaufzuwälzen, der nach dem
Willen des Zeus doch wieder herunterrollen muß.


Mit diesen Schwierigkeiten sind aber zugleich die Ziele gesteckt, denen der Literarhistoriker
der Neuzeit nachzustreben hat, mag es auch nicht in seine Gewalt gegeben sein,
sie ganz zu erreichen. Er muß das Naheliegende sich in eine Ferne zu rücken suchen, in
der es, von Sympathieen und Antipathieen nicht berührt, nur durch seine eigene Kraft
wirkt und Maaß und Schätzung nach bestimmten objectiven Gesetzen verstattet; in eine
Ferne, in welcher das, was allzunah wie ein buntes, regelloses Gedränge erscheint, sich
in klare, deutliche Gruppen sondert; er muß dem Historiker der Zukunft vorgreifen und
eine Perspective zu gewinnen suchen, wie sie die Vergangenheit aus freien Stücken darbietet.
Aber so schwer es ist, gleichzeitige Entwickelungen zu belauschen und gleichsam
das Gras der Geschichte wachsen zu hören: so ist es doch noch schwerer und erfordert
den feinsten kritischen Sinn und Takt, aus der noch nicht abgeschlossenen Entwickelung
der Talente den Pulsschlag ihrer Zukunft herauszuhören. Denn, abgesehn von den |#f0498 : E476|

flüchtigen Schilderhebungen der Tageskritik und ihren ebenso vergänglichen Angriffen,
kann zwischen dem innern Werthe eines Talents und seiner öffentlichen Anerkennung ein
Mißverhältniß bestehn, das vielleicht schon die nächste Zukunft in befriedigender Weise
löst. Hier wird der ästhetische Sinn mit unmittelbarem Empfinden das Richtige
treffen, während die kritische Analyse mit eingehenden Erörterungen oft fehlgreift. Dennoch
bedarf gerade eine Literaturgeschichte der Gegenwart mehr als jede andere der Volständigkeit;
denn nur eine sich überhebende Dreistigkeit kann in einer so naheliegenden
Epoche von der Unfehlbarkeit ihrer Urtheile überzeugt sein. Das Auslassen und
Uebergehn von Autoren, die irgend ein Publikum haben, ist aber immer ein Act kritischer
Anmaßung, wenn es nicht eine Folge der Nachläßigkeit und Trägheit ist.


Was nun aber jene Behauptung betrifft, unsere deutsche Nationalliteratur sei im
Verfall begriffen oder habe mit Schiller, Goethe und den Classikern den geistigen Boden
so erschöpft, daß er, um sich zu erholen, einige Zeit brach liegen müsse, so befinden wir
uns, ohne die neueren literarischen Entwicklungen zu überschätzen, doch mit ihr im vollkommensten
Widerspruch. Seit Schiller und Goethe hat sich der Völkerverkehr und der
Umsatz der Jdeen in seltener Weise vermehrt. Durch großartige Erfindungen der
Jndustrie und ihre Anwendung haben die Beziehungen der Völker, hat der Pulsschlag
des ganzen socialen Lebens eine Frische und Kraft erhalten, wie sie jener Zeit fremd war.
Jn der Philosophie sind neue Bahnen gebrochen worden; in der Politik hat, wenn auch
oft mit verkehrten Tendenzen, oft resultatlos, doch der Aufschwung einer principiellen
Begeisterung die Nationen erfaßt, der zu allen Zeiten dem Gedeihen der Poesie günstig
war. Mag auch das allgemein Menschliche der wahre und dauernde Stoff der echten
Dichtung sein und ebenso dauernd das Gesetz der Schönheit und der künstlerischen
Form: so ist doch der Wechsel der Erscheinung der frische Quell, aus welchem die Dichtung
den Reiz immer neuer Verjüngung schöpft. Jn der Flucht der Zeiten, der
Geschlechter, der Nationen erhält das allgemeine Gesetz den wechselnden Jnhalt für seine
dauernde Bewährung, und jede neue Gestaltung des geistigen Lebens giebt der Dichtung
neuen Boden und neue Kraft. So reich, so reizvoll das Spiel der dichterischen Jndividualitäten
ist, der einzelnen Talente und ihrer unberechenbaren Mannichfaltigkeit: so
reich ist der Wechsel der Gewandung, in die jede neue Zeit die Schönheit hüllt. Die
unsrige giebt der Dichtung ein weiteres Feld, größere Perspectiven und reicheren Stoff,
als die Zeit Schiller's und Goethe's ihren Poeten gab. Dies deutet aber eine neue
Epoche an, welche die Talente beginnen, und der Genius wird nicht fehlen, der sie zum
Abschluß bringt. Sehen wir uns um in den einzelnen poetischen Gattungen, so hat
besonders die Lyrik seit Schiller und Goethe einen vollkommenen und bedeutenden Umschwung
erlebt. Die Volksthümlichkeit der Schiller'schen und Goethe'schen Lyrik beruht
auf dem Genie der Dichter, keineswegs auf den Stoffen, die sie behandelten. Diese
Stoffe gehören, mit wenigen Ausnahmen, in das Reich der Kunst= und Gelehrtenpoesie,
und Niemand wird behaupten wollen, daß der mythologische Ballast, den sie
mit sich führen, ein wesentliches Jngredienz der deutschen Nationaldichtung sei. Die
Anlehnung an die antike Bildung war der Entwickelung ohne Zweifel förderlich; aber
viel Bewundertes, was sie schuf, gehört mehr in die Künstlermappe, als in das Nationalmuseum
und erhebt sich nicht über den Werth der Studie. Und mit Studien sollte
eine nationale Entwicklung abschließen? Die neue Lyrik verschmäht es mit Recht, die
früher für unentbehrlich gehaltene Mythologie in ihre Schöpfungen aufzunehmen und
dadurch die Dichtung dem Volke zu entfremden. Welchen Reichthum von neuen Stoffen
hat sie uns erschlossen, und wahrlich, nicht gering sind die Talente, welche sich dieser
Stoffe bemächtigt! Platen's marmorne Formschönheit, Heine's aristophanische
Grazie, Lenau's originelle Gefühls- und Gedankentiefe, der Schwung der politischen
Lyriker, und alle diese Dichter aus uns'rem eigensten Leben schöpfend und eine neue und
ideale Volkspoesie gestaltend ─ sind sie nicht mehr, als Epigonen unserer Classiker,
weisen sie nicht in die Zukunft hinaus? Man spricht vom Verfalle des Drama; und
in der That ist hier noch viel blindes Umhertappen, das Suchen der Form zu den neuen
Stoffen vorherrschend. Aber ist es nicht ein wesentlicher Fortschritt, daß unsere neuen
Talente Stoffe wählen, denen die Sympathie des Publicums entgegenkommt, daß sie
die von den Romantikern aufgegebene Bühne wieder für ihre Bestrebungen zu erobern
suchen? Und wenn sie die Herrschaft über dieselbe mit den gedankenlosen Routiniers der
Dramenfabriken theilen müssen ─ haben nicht Kotzebue und Jffland neben Schiller
und Goethe das Repertoire beherrscht? Ja, sind nicht die meisten Stücke Goethe's nur |#f0499 : E477|

mit einer gewissen Gewaltsamkeit der Bühne zugänglich zu machen und stets nur hohe
Ausnahmen, ein Kunstfest der Auserwählten gewesen? Die poetische Grenzgattung, der
Roman, der für die Aufnahme neuer Stoffe die geräumigste Form bietet, zeigt uns am
deutlichsten, welch' eine Fülle von Gedanken, von Problemen, von geistigen und gesellschaftlichen
Verwicklungen und Conflicten seit jener Glanzepoche der deutschen Literatur
zur Geltung gekommen ist. Und diesen Thatsachen gegenüber können wir uns der Einsicht
nicht verschließen, daß unsere Literatur in eine neue Epoche getreten, deren erste
Entwickelungskrankheiten sie bereits glücklich überstanden hat, deren Bedeutung darin
besteht, eine vollkommenere Versöhnung der Gelehrten- und Volkspoesie anzustreben,
als unseren Classikern möglich war, und die von ihnen überlieferte Kunstform mit allem
Reichthum des modernen Lebens zu erfüllen. Das neunzehnte Jahrhundert hat auf
allen Gebieten der Kunst und des Wissens die Erbschaft des achtzehnten angetreten;
aber, weit entfernt, dieselbe zu verschleudern, hat es Capital und Zinsen verdoppelt.
Freilich stimmt diese Behauptung nicht mit der hypochondrischen Art und Weise überein,
mit der man sich gewöhnt hat, auf alle neueren literarischen Bestrebungen herabzusehn
und schon durch dies vornehme Herabsehn seinen hohen Standpunkt an den Tag zu
legen. Am wenigsten läßt sich die Entwickelung einer Literatur nach den Regeln der
Dreifelderwirthschaft bestimmen, wie es Gervinus gethan, welcher den Rath ertheilt,
nun die Poesie brach liegen zu lassen und die Politik zu bearbeiten. Die Ansicht eines
Einzelnen kann hier, bei aller sonstigen Berechtigung und Befähigung, nicht maaßgebend
sein, indem sie durch den productiven Drang der Nation und thatsächliche Leistungen
ihre schlagendste Widerlegung erhält.


Dem Literarhistoriker der Gegenwart bietet sich eine doppelte Betrachtungs= und
Darstellungsweise dar: er kann epochenweise den Jnhalt der geistigen Bewegungen
zusammenfassen und weniger den Entwickelungsgang der einzelnen Autoren berücksichtigen,
als ihr Eingreifen in die gesammte Entwickelung der Nation, das er stets in
dem entscheidenden Zeitpunkte darstellt; oder er stellt die Entwickelung der einzelnen
bedeutsamen Autoren in den Vordergrund, mag sie auch verschiedene Richtungen umfassen;
er läßt diese Entwickelung in sich selbst austönen und weist nur auf ihren Zusammenhang
mit den allgemeinen geistigen Strömungen hin. Für die Literaturgeschichte
der Vergangenheit ist der erste Standpunkt ohne Frage der richtige, weil dort umfangreiche
Epochen eine in's Große gehende Charakteristik gestatten; doch die Gegenwart
mißt ihre Epochen nur nach Decennien; die chronologischen Einschnitte sind hier ohne
Wichtigkeit; die geistigen Richtungen gehen der Zeit nach meistens neben einander her
und sondern sich nur nach ideellen Gesichtspunkten. Goethe lebte noch, nachdem die
romantische Schule schon verblüht; Tieck ist noch ein Zeitgenosse der jungdeutschen
Bestrebungen, der modernen Lyrik und des modernen Drama gewesen. Mit wenigen
Ausnahmen sind daher im vorliegenden Werke die bedeutenden Autoren wohl dort eingereiht,
wo der Schwerpunkt ihres geistigen Wirkens zu suchen ist, aber dort auch in
ihrem ganzen Entwickelungsgang, mag er auch in andere Richtungen übergreifen,
behandelt worden. Ebenso sind die Uebergänge der einen Richtung in die andere
weniger in chronologischer Reihenfolge, als nach ihrem begrifflichen Schwerpunkte aufgefaßt.
Das Vorwiegen des kritischen Elements, das indeß von einer Verzettelung des
Werkes in einzelne Kritiken wohl zu unterscheiden ist, läßt sich bei der eingehenden Darstellung
einer kurzen und naheliegenden Epoche, welche keine großen historischen Perspectiven
gestattet, gewiß rechtfertigen, denn hier sind durch Tradition keine feststehenden
Gesichtspunkte gegeben; es kommt darauf an, durch Analyse der einzelnen Autoren erst
ihren geistigen Extract zu gewinnen und, was in ihnen verwandt und gemeinsam ist,
zur Bezeichnung einer literarischen Richtung zusammenzustellen.


Die Eintheilung des Werks zeigt zunächst ein auffälliges räumliches Mißverhältniß
zwischen den einzelnen Abtheilungen, indem die letzte, welche die moderne Richtung
behandelt, nicht blos fast ein Drittheil des ersten Bandes, sondern auch den ganzen
zweiten Band umfaßt. Dafür lassen sich gewichtige Entschuldigungsgründe anführen. Die
ideelle Gliederung des Werks war durch die scharfen geistigen Einschnitte bestimmt,
welche der Fortgang der deutschen Nationalliteratur in unserem Jahrhundert bedingte.
Die Classiker schufen uns die künstlerische Form nach antikem Vorbild und mit
humanem Geiste; die Romantiker zerstörten diese Form wieder, um die Phantasie
von gegebenen Traditionen zu emancipiren und die Dichtung volksthümlich zu
machen, verfielen aber dabei in eine chaotische Urpoesie und in die Abhängigkeit von nur |#f0500 : E478|

scheinbar volksthümlichen, mittelalterlichen Ueberlieferungen. Jhr Streben, die Poesie
mit dem Leben der Gegenwart zu vermitteln, wurde von der modernen Richtung wieder
aufgenommen, welche gleichzeitig im Ringen nach künstlerischer Vollendung an
unsere Classiker anknüpfte. Das Alterthum, das Mittelalter und die Neuzeit wurden
so nach einander die geistigen Arsenale unserer Literatur, welche aber erst den wahrhaft
volksthümlichen Boden fand, als sie dem Geiste ihres Jahrhunderts huldigte und ihn
bei der Wahl der Stoffe und bei ihrer Auffassung zum entscheidenden Kriterium machte.
Sie that damit nur dasselbe, was Homer und Sophokles, Dante, Calderon und
Shakespeare gethan, und wodurch sie groß und unsterblich geworden. Unsere Classiker
hatten dies Princip oft instinctiv erfaßt und ausgeführt, niemals als maaßgebend anerkannt,
sonst wären ein Achilleïs und eine Braut von Messina eine Unmöglichkeit
gewesen; die Romantiker ebensowenig ─ man denke an Heinrich von Ofterdingen
und Kaiser Octavian. Die principielle Anerkennung, daß die Poesie nicht experimentiren,
sondern im Geiste ihres Jahrhunderts dichten solle, um echte Volksthümlichkeit
und ewige Dauer zu gewinnen, schafft erst die moderne Poesie. Von der hellenischen
Plastik überkommt sie die Klarheit der Form; von der romantischen Jnnerlichkeit
die Blüthe des Gefühls; aber sie versöhnt beides auf dem neutralen Boden des rein
Menschlichen,
dessen Emancipation eben der Geist dieses Jahrhunderts ist. Sie
kennt weder Homer's Olymp, noch Dante's Hölle und Paradies ─ sie stellt den
Menschen auf seine eigenen Füße, und seine Kraft, seine Schönheit, seine Größe wird
ideal ohne transcendente Beleuchtung. So wird die Humanität unserer Classiker zur
schönsten Blüthe gezeitigt und das Streben der Romantiker, die Poesie überall im Leben
zu suchen, zur Vollendung geführt. Die Vergangenheit wird durch die Gegenwart
bestimmt, nicht die Gegenwart durch die Vergangenheit. Jhr Duft gehört sowenig
zur Poesie, wie der mystische Höhenrauch des Jenseits. Das nächste Leben der Gegenwart
zu schildern, entadelt nicht mehr die Kunst; sie gipfelt in ihrem Geiste. Formelle
Aneignungen und Nachbildungen bleiben ein Spiel des Dilettantismus; der echte
moderne Geist bildet und durchdringt von selbst die moderne Form, mit Achtung vor
dem ewigen Gesetze der Schönheit, aber ohne Anlehnung an fremde Muster.


So fällt nach den leitenden Jdeen dieses Werkes von selbst der Hauptaccent auf
die moderne Poesie. Doch auch äußerliche Gründe lassen ihre ausgedehnte Behandlung
begreifen. Unsere Classiker gehören in ihrer Entwickelung mehr dem vorigen Jahrhundert
an; sie bilden nur den Ausgangspunkt unseres Werks. Die Exegese ihrer Schriften
ist unerschöpflich bis zur Ermüdung, und nutzlos wär' es, das oft und gut Gesagte
zu wiederholen. Uns kam es darauf an, die noch fortlebenden Resultate ihres Wirkens
unter die Beleuchtung zu rücken, in welcher uns der Fortgang der Literatur erscheint,
und so vielleicht hin und wieder einen neuen Reflex auf ihre Bedeutung fallen zu lassen.
Die Größe ihrer Verdienste wird allgemein mit solcher Ueberschwänglichkeit anerkannt,
daß es uns, ohne die Pietät zu verleugnen, doch mehr darauf ankommen mußte, die
Lücken in ihren Leistungen nachzuweisen, welche das Streben einer späteren Generation
zu ermuthigen im Stande sind. Dasselbe gilt von der romantischen Poesie. Nach
den Untersuchungen des graziösen Hermann Hettner, des scharfsinnigen Julian
Schmidt,
nach der fulminanten Polemik der deutschen Jahrbücher, den frivolen,
aber schlagenden Lakonismen Heine's, welche die früheren Darlegungen eines so
bedeutenden Literarhistorikers, wie Gervinus, und die vermittelnde Auffassung des
geistvollen Rosenkranz ergänzen, ist das Gesammtbild der romantischen Schule so
abgeschlossen, daß nur in einzelnen Erörterungen neue Gesichtspunkte geltend gemacht
werden können. Anders verhält es sich mit der modernen Poesie. Hier konnte sich eine
wesentlich neue Auffassung des Entwickelungsganges und der einzelnen Erscheinungen
Bahn zu brechen suchen; hier mußte, da die Zahl der Vorgänger auf diesem Gebiete
gering und ihre Richtung verschieden ist, das zerstreute Material gesammelt und gesichtet
werden; hier mußten die Fäden, die in die Vergangenheit zurückführen, mit denen
verknüpft werden, die in die Zukunft hinausweisen. Jn der That herrscht auch hier die
größte Ergiebigkeit an Talenten und Productionen, an neuen Gattungen und Bestrebungen,
eine außerordentliche Rührigkeit und Lebendigkeit, eine allseitige Ausbreitung
der Poesie über alle Gebiete des Lebens, so daß die Masse des Stoffes eine ebenso ausführliche
Berücksichtigung, wie sorgfältige Gliederung nöthig macht.


Daß auch die wissenschaftlichen Bestrebungen, besonders aber die Philosophie, mehr
in den Vordergrund treten, als es in ähnlichen Literaturwerken der Fall ist, mag seine |#f0501 : E479|

Begründung in der Ansicht des Verfassers finden, daß der Zusammenhang zwischen
Wissenschaft und Kunst, besonders zwischen Philosophie und Poesie, seit unserer classischen
Epoche ein unzertrennbarer ist. Sowenig Schiller ohne Kant begriffen werden
kann, sowenig ist es möglich, die moderne Poesie und ihre wesentlichen Gedankenhebel
ohne Kenntniß des Hegel'schen Systems und seiner Entwicklung zu verstehn. Während
also die Philosophie eine organische Nothwendigkeit für eine moderne Literaturgeschichte
ist, haben die andern Wissenschaften allerdings für sie eine eingeschränktere Bedeutung,
obschon die Geschichtschreibung ohne Zweifel mit hereingezogen werden muß und in
neuester Zeit selbst die Naturwissenschaften eine belletristische Färbung angenommen haben.


Jn Bezug auf das jüngste Decennium unserer Literatur wird man gewiß in Gruppirung
und Auffassung eine große Verwandtschaft mit dem Geiste jener literarhistorischen
Abhandlungen entdecken, welche die von Brockhaus herausgegebene „Gegenwart
enthält. Jch bekenne mich daher hiermit als den Verfasser jener Aufsätze über
die moderne deutsche Philosophie und Poesie.


Wenn dies Werk dazu dient, der geistigen Entwickelung unserer Nation in diesem
Jahrhundert einen rühmlichen Denkstein zu setzen, der aber nicht, wie Viele wollen, ein
Grabstein ist; wenn es dazu dient, herrschende Vorurtheile durch Thatsachen zu widerlegen,
das Jnteresse der Gebildeten, das sich an einzelnen Erscheinungen zersplittert, auf
die Gesammtheit unseres literarischen Lebens und ihre Bedeutung hinzulenken und dem
Stolze der Nation auf ihre geistigen Schätze, der sich mehr an die Vergangenheit wendet,
auch für die Gegenwart einen sichern Halt zu bieten: so ist sein Zweck vollkommen
erreicht, um so mehr, wenn dies Buch künftigen Literarhistorikern eine willkommene
Vorarbeit sein sollte. Mag der Verfasser in einzelnen Urtheilen geirrt haben, er weiß,
daß persönliche Zuneigung oder Abneigung nicht seine Feder führten, sondern nur der
Ernst der Ueberzeugung und die Begeisterung für das nimmer alternde geistige Leben
seiner Nation.


Breslau.Dr. Rudolph Gottschall.


Die günstige Aufnahme, welche dieses geistreiche Werk sowohl im ganzen gebildeten
Publikum, als von Seiten der Kritik erfahren hat, überhebt uns jeder weiteren
Anpreisung. ─ Wir erlauben uns daher nur wiederholt auf dasselbe aufmerksam zu
machen und diesen Hinweis durch Anführung einiger Bruchstücke der zahlreichen Beurtheilungen
desselben zu rechtfertigen.


Die Blätter für literarische Unterhaltung (Jahrg. 1855. Nr. 35) sprechen sich in einer sehr eingehenden
Kritik über das in Rede stehende Werk wie folgt aus: »─ ─ Der Hauptvorzug der Gottschall'schen
Literaturgeschichte und zugleich diejenige Eigenschaft, durch die sie sich fast vor allen übrigen vortheilhaft auszeichnet
(etwa Mundt's durch ihre »weltliterarischen Tendenzen« außerdem interessante »Geschichte der Literatur
der Gegenwart« ausgenommen), beruht in dem Muth, der Energie und der Entschiedenheit, womit sich Gottschall
auf den Boden der modernen Tendenzen stellt, ihn verficht und allen entgegengesetzten Tendenzen streitig
macht. Nicht als ob wir mit ihm in allen Punkten übereinstimmten oder seine, wie es uns scheint, allzu sanguinischen
Hoffnungen alle theilten: aber seine Befürwortung dieser Tendenzen ist vollkommen berechtigt, wie
sie selbst berechtigt sind. Diese Tendenzen haben sich historisch, also nothwendig herausgebildet, sonst wären
sie überhaupt nicht da; sie sind das Resultat einer Reihe vorhergegangener geistiger, gesellschaftlicher und politischer
Entwickelungen und Conflicte. Möglich, daß sie nur bloße Gase sind, welche von der Atmosphäre der
Geschichte allmählich aufgesogen, verarbeitet und verflüchtigt werden; aber die Zeitstoffe, aus denen sie sich
entwickelten, existiren einmal, und jede Zeit hat ihr eigenes Recht. Andere Literaturgeschichtschreiber haben sie
bekämpft, andere sie ignorirt; es ist natürlich und wünschenswerth, daß sich auch solche finden, welche für sie
das Wort ergreifen. Was die Poesie betrifft, so hat bekanntlich Gervinus unserer Zeit die Berechtigung zur
Cultivirung derselben abgesprochen, wie Savigny ihr die Berechtigung zur Gesetzgebung abgesprochen hat.
Gervinus will, daß man die Poesie jetzt brach liegen lasse. Das wäre gerade, als ob man sagen wollte: unsere
Musik taugt Nichts, mithin darf nicht mehr musicirt werden; unsere Politik ist faul, mithin darf keine Politik
mehr getrieben werden; unsere Civilisation ist verderbt, mithin muß die Civilisation ausgerottet werden. Gottschall's
Literaturgeschichte ist somit als ein nothwendiges Supplement zur berühmten Gervinus'schen Literaturgeschichte
und überhaupt als ein berichtigendes Ergänzungswerk der meisten anderen Literaturgeschichten anzusehen,
wie wegen geistreicher Auffassungs- und Behandlungsweise des Stoffes bestens zu empfehlen. Sie hat
zwar, wie schon bemerkt, ebenfalls eine etwas vornehme exclusiv literarische, aber, wie wir hinzufügen dürfen,
zugleich noble, wir möchten sagen chevalereske Haltung.«


Die Novellenzeitung (1855. Nr. 27. 28 und 1856. Nr. 2) widmet unserm Werke eine durch drei Nummern
fortlaufende Besprechung. An eine Vergleichung mit der Julian Schmidt'schen Literaturgeschichte
anknüpfend, sagt dieselbe über das Gottschall'sche Werk: »Es giebt eine Weise, in der es sehr wohl möglich ist,
die strengste Jntegrität des Charakters, das unantastbarste sittliche Pathos zu vereinigen mit stets bereitwilliger
Receptivität, mit vielseitigster Hingabe an die Mannichfaltigkeit der Erscheinungen, ─ das ist die Weise, zu
»charakterisiren,« und diese ist es, die Gottschall vornehmlich in seiner Literaturgeschichte angewandt hat. Er
giebt nicht nur Urtheile, er giebt Bilder der literarischen Werke und der schriftstellerischen Persönlichkeiten, |#f0502 : E480|

lebensvolle Darstellungen, die alle Empfindungen für sich in Anspruch nehmen, die der Dichter zu erwecken im
Stande ist, die bei uns Sympathie oder Antipathie, Liebe oder Haß, Bewunderung oder Verachtung, Begeisterung
oder endlich auch Erheiterung hervorrufen müssen.«


Nicht minder anerkennend spricht sich die Jllustrirte Zeitung (XXV. Bd. Nr. 645) aus: »Bei allem
fast erstickenden Ueberfluß an Literaturgeschichten in Deutschland halten wir die Gottschall'sche doch deshalb
nicht für überflüssig, weil sich ihr Verfasser vorgenommen hat, die Literatur vom Standpunkte des modernen
Bewußtseins zu beleuchten und in ihrer gegenwärtigen Entwickelung die elementarischen Keime hervorzuheben,
welche Blüthe und Frucht für die Zukunft versprechen. Fast alle übrigen Literaturgeschichtschreiber sind ungerecht
gegen die modernen Tendenzen gewesen; der Eine hat sie vom conservativ=orthodoxen Standpunkte verworfen;
ein Zweiter hat sie ignorirt, weil sie eben noch mit uns leben, noch nicht einer Vergangenheit angehören,
die sich in gelehrt=pragmatischer Weise behandeln läßt; ein Dritter endlich zeigt ihnen seine Mißachtung,
weil ihm ihre Repräsentanten nicht gefallen oder weil es überhaupt in seiner süffisanten Natur liegt, über Alles
von oben herab abzusprechen. Nichtsdestoweniger bilden diese modernen Tendenzen eine Macht, die sich wohl
bekämpfen, aber nicht von vornherein verwerfen oder ignoriren läßt. Zudem werden sie jedenfalls von zum
Theil bedeutenden Talenten vertreten, deren Leistungen, ohne gerade Meisterwerke zu sein, doch auch manche
glänzenden Seiten bieten, in denen sich ein erfreulicher Fortschritt bald in formeller, bald in individueller Hinsicht
nicht verkennen läßt. Jndem nun Gottschall's Literaturgeschichte vorzugsweise diese Seiten hervorhebt,
ohne deshalb das Verfehlte zu übersehen und zu verschweigen, ist sie recht eigentlich als ein theils berichtigendes,
theils ergänzendes Werk zu den vorhandenen Literaturgeschichten anzusehen. Die kritische Methode waltet
vor, Gottschall geht dabei sehr gründlich zu Werke und charakterisirt und kritisirt jedes einzelne Produkt der
Autoren, die in den Kreis seiner Betrachtung fallen, so daß der Leser eine vollständige Uebersicht ihrer Leistungen
und wenigstens eine annähernde Schätzung des Werthes dieser Leistungen gewinnt. Das Publikum darf
ihm für diese mühsame Arbeit ohne Zweifel Dank wissen, da es bei dem großen und immer mehr anwachsenden
Reichthum der deutschen Literatur gewiß nur noch Wenige giebt, welche Zeit genug übrig haben, alle Schriften
auch nur der namhafteren deutschen Dichter und Autoren zu lesen. Die Darstellung ist geschmackvoll und
klar, wenn auch hier und da vielleicht etwas zu gekünstelt und bilderreich.«


Die Vossische Zeitung (1856. Nr. 29) schließt ihre ausführliche Besprechung mit folgenden Worten:
»─ ─ Wir unsererseits aber können nicht unterlassen, ihm (Gottschall) das Zeugniß zu geben, daß er mit
Fleiß, Ausdauer und liebevoller Hingebung seine schwierige Aufgabe zu lösen versucht und mit Unparteilichkeit,
frei von jedem Vorurtheil sein kritisches Amt verwaltet hat. Weichen unsere Ansichten auch in vielen Einzelheiten
von den seinigen ab, finden wir auch manches Urtheil nicht genügend motivirt, hier und da eine Erscheinung
mehr hervorgehoben, als sie es verdient, andere Persönlichkeiten dagegen nur flüchtig und ihre Bedeutung
nicht entsprechend abgethan, so ist doch der Gesammteindruck dieses Werkes ein überwiegend günstiger: er legt
ein glänzendes Zeugniß für die Befähigung Gottschall's als Literaturhistoriker ab. Anch der Styl zeichnet sich
durch Wärme und Fülle aus, gegenüber dem trockenen Tone, welchen die deutschen Gelehrten häufig als ein
Attribut der Wissenschaftlichkeit zu betrachten pflegen. Wir schließen uns von ganzem Herzen den letzten Worten
des Verfassers an. »Wer unsere Nationalliteratur verurtheilt, verurtheilt die Nation selbst, ─ wir aber
glauben an ihre freudige Entwickelung und haben die Aktenstücke zu derselben auf literarischem Gebiete so treu
und erschöpfend wie möglich gesammelt.«


K. Gutzkow nennt in seinen Unterhaltungen am häuslichen Herde (Neue Folge 1. Bd. Nr. 11.)
den Verfasser »einen denkenden und selbstständig urtheilenden Geschichtsschreiber der deutschen Nationalliteratur«
und das obige Werk »ein geist- und gedankenreiches.«


Die Kölnische Zeitung sagt in ihrem Feuilleton vom 30. Dezember 1855; »─ ─ Während Julian
Schmidt's Literatur = Geschichte so eben in zweiter Auflage erschien, ward gleichzeitig die Literatur-Geschichte
von Rudolph Gottschall vollendet. Beide Werke bestehen sehr wohl neben einander, da sie zwar denselben
Gegenstand, aber auf eine sehr verschiedene Weise behandeln. Julian Schmidt ist es hauptsächlich um die geistigen
Richtungen zu thun, die sich im Leben und also auch in der Literatur der deutschen Nation offenbaren. Er
hat also eine Reihe Studien und Kritiken ausgearbeitet, in welchen diese Richtungen an ihren Haupt-Repräsentanten
entwickelt werden, und man kann sagen, daß Schmidt in seinem Werke so ziemlich Alles geleistet hat,
was ein scharfer historisch und philosophisch geschulter Verstand, verbunden mit einem gründlichen Studium
und einem großen sittlichen Ernste zu leisten vermag. Auf eine vollständig in's Einzelne gehende eigentliche
Geschichte unserer heutigen Schriftsteller und ihrer Werke hatte er es nicht abgesehen. Eine solche liefert uns
Gottschall, der Hunderte von Schriftstellern eingehend bespricht, die in jenem Werke gar nicht oder nur obenhin
erwähnt werden. Er ist bei diesem Unternehmen unterstützt durch ein feines, ästhetisches Gefühl, welches die
Eigenthümlichkeiten jeder literarischen Erscheinung lebendig empfindet und wiedergiebt. Jst er doch selbst ausübender
Künstler, und das kommt dem Kunstrichter immer zu Gute.«


Die Berliner Feuerspritze (III. Jahrg. Nr. 50) empfiehlt Gottschall's Literaturgeschichte mit folgenden
Worten: »Von den Classikern unseres Jahrhunderts beginnend, entwirft Gottschall die General- und Specialkarte
des literarischen Gebietes klar, geordnet und übersichtlich, scharf in der Zeichnung, berechnet in der
Eintheilung und jede, auch die kleinste Quelle der Poesie, auch die untergeordneten, einseitigen Ansiedelungen
poetischer Ackerbürger genau verzeichnend. ─ Er tritt in seiner Literaturgeschichte mehr als geistreicher Sammler,
denn als Forscher auf, seine Urtheile verrathen mehr den Dichter als den Kritiker: sie sind bilderreich,
schwunghaft und brillant, aber selten hart und scharf. Er steht vielen der besprochenen Personen zu nahe, um
sich rücksichtslos äußern zu dürfen; seine Kritik verletzt Niemand, sie ist wohlwollend, und ihr letzter Zweck
─ Förderung geweckter und erwachter Kraft und Edles anstrebenden Talentes. Beide Bände des Gottschall'schen
Werkes lesen sich leicht, da sich die Darstellung eben so fern hält von gelehrter Phraseologie, als von
dürrer Zusammenstellung, an welchen Fehlern leider so viele Literatur-Historiker laboriren. Ein kampfbereiter
Gegner der Ansicht vom Verfalle der deutschen Literatur, weist Gottschall Schritt für Schritt an der historischen
und ideellen Entfaltung des Zeitgeistes den Aufschwung und den Reichthum der geistigen Gegenwart und in
den Keimen die Blüthen einer herrlichen, fruchtreichen Zukunft nach. Möge denn Gottschall's Werk dem
Laien zu belehrender Anleitung, den Schülern der Musen aber zur geistigen Erhebung gereichen.«


Das ganze Werk, vollständig in 2 Bänden mit angefügtem alphabetischen Register
kostet 5 Rthlr. und ist für diesen Preis durch alle Buchhandlungen des Jn= und
Auslandes zu beziehen.


Breslau.Eduard Trewendt, Verlagshandlung.

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